Zukunftsatlas 2010 In Erlangen ist alles über dem Durchschnitt

Erlangen, die Universitätsstadt bei Nürnberg, hat sich dank Siemens und der Wissenschaft im Schatten der Metropolen zu einem internationalen Hochtechnologie-Standort entwickelt. Da wird der Platz für neue Unternehmen schnell eng. Reformbedarf gibt es in der Stadt der Erfinder aber auch.

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ERLANGEN. Unter dem Gesichtspunkt der Sprache birgt es eine gewisse Ironie, dass der vermutlich beste Körperscanner der Welt ausgerechnet in Franken gebaut wird. Das Wort Magnetresonanztomograph verliert im fränkischen Dialekt mit gerolltem "r" und einem in ein weiches "d" transformierten "t" schließlich ein wenig seinen im Hochdeutschen technisch-metallischen Klang. Andererseits passt das aber ganz gut zu der unaufgeregten Art, in der die Erlangener mit langem Atem und Bodenständigkeit einen Hochtechnologie-Standort aufgebaut haben.

"Hier ist fast alles Handarbeit", sagt Wolfgang Merkel und führt durch die blitzsaubere Produktionshalle. Der Franke ist Manager von Siemens Healthcare, einem der profitabelsten Bereiche des Weltkonzerns. In langen Reihen stehen die Röhrengeräte groß wie VW-Busse bereit für den Export in alle Welt. Bis zu 1,5 Mio. Euro kostet so ein Apparat, wie ihn Krankenhäuser von Amerika bis Australien einsetzen. Magnetresoanztomographen sind der Stolz der Siemens-Medizinsparte und der Stolz der fränkischen Stadt Erlangen.

Erneut hat Erlangen, 100 000 Einwohner, gelegen vor den Toren Nürnbergs, im Prognos-Zukunftsatlas exzellente Noten bekommen. Alles ist hier über dem Durchschnitt, selbst für bayerische Verhältnisse. Es gibt mehr Akademiker als andernorts und nur im Süden Münchens verdienen die Bürger mehr. Eine Universität, zwei Fraunhofer-Institute und ein Max-Planck-Institut helfen, die Tradition der Stadt als Labor für die Zukunft zu bewahren. In der Vergangenheit entwickelten Tüftler und Forscher dort Bahnbrechendes, den Bleistiftanspitzer etwa und das MP3-Format. Heute arbeiten sie an neuer Medizintechnik, Kraftwerken und Industriesteuerungen für die ganze Welt.

Der wichtigste Arbeitgeber der Stadt ist, neben der Universität und dem Atomkraftspzialist Areva, Siemens. 23 000 Menschen sind in Erlangen bei dem Konzern beschäftigt, 40 000 in der Region. Damit ist die Stadt der größte Siemens-Standort der Welt. Hier sitzt das Management der Sparten Industrie, Medizin und Energie. Selbst eigenständig wären die Sparten noch groß genug, um je ein Dax-30-Unternehmen zu sein.

So etwas weiß der Franke, aber damit angeben würde er nicht. Anders als die Münchener tragen die Erlangener den Pelz nach innen. Fleiß und Bescheidenheit haben Tradition: Ende des 17. Jahrhunderts fanden aus Frankreich vertriebene Hugenotten in Erlangen eine neue Heimat. Calvinismus und Handwerkerfleiß brachten der Stadt eine erste Blüte.

Die zweite kam erneut mit Flüchtlingen. Als 1945 die Siemens-Direktoren eine neue Heimat suchten, wollten sie von Berlin in die amerikanische Zone. "Nürnberg war zerbombt, Erlangen war intakt und hatte einen Bahnhof", sagt Harald Bretting von der städtischen Wirtschaftsförderung. Die Region war für Siemens außerdem nicht unbekannt, der Konzern besaß in Nürnberg bereits die Siemens-Schuckert-Werke und in Erlangen seit 1925 den Medizintechnikhersteller Reiniger. Im Schutz der amerikanischen Besatzungsmacht konnte Siemens wieder wachsen.

Das bekam außerhalb Erlangens kaum einer so richtig mit, auch weil die Konzernverwaltung ins mondäne München zog. Die vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Stadt schlug sich sogar in der Popkultur nieder. "Wissenswertes über Erlangen" hieß in den Achtzigerjahren ein Lied der Neuen Deutschen Welle, das sich über die Stadt lustig machte. "Erlangen liegt nicht im Sauerland", heißt es darin.

Alles Geschichte. Heute ist Erlangen der Motor der "Metropolenregion Nürnberg". Während Siemens in München die traditionsreichen Kommunikationssparten verkauft oder schließt, blühen die Standorte in Franken. Das liegt auch an Oberbürgermeister Siegfried Balleis, der die Stadt seit 1996 führt. Balleis hat den Begriff des "Medical Valley" für die Region geprägt, weil sich das auf Immobilienmessen gut verkauft. Dass der CSU-Politiker seine Karriere als Kaufmann bei Siemens begann, versteht sich von selbst. Auch der ehemalige Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzende Heinrich von Pierer hat in Erlangen wichtige Fäden gezogen. Der ehemalige Gottvater des Unternehmens achtete stets darauf, dass seine Heimatstadt bei Standortentscheidungen nicht zu kurz kam. Außerdem hat die Stadt zwei prosperierende Gründerzentren angesiedelt. So kamen selbst in der Wirtschaftskrise jedes Jahr 1 000 neue Arbeitsplätze dazu.

Heute hat von Pierer eine Beratungsagentur in einem bescheidenen Hinterhof in Bahnhofsnähe. Ein Stockwerk darunter sitzt die städtische Wirtschaftsförderung. "Wir haben viele Firmen, die nach Erlangen wollen", sagt Wirtschaftsförderer Bretting. Auf dem Stadtplan sieht man schnell: Nicht jeden Wunsch kann er erfüllen, der Platz wird eng. Siemens hat sich deshalb Mitte der Neunzigerjahre die freiwerdenden Kasernengelände der US-Armee gesichert und baut dort jetzt die Magnetresonanztomographen. Jeden Tag pendeln 50 000 Menschen aus dem Umland in die Stadt.

Reformbedarf gibt es in Erlangen aber auch. "Verbessern ließen sich die Verkehrs- und Dateninfrastruktur, denn jeder Wirtschaftsstandort steht auf diesen Gebieten im Wettbewerb", sagt Heinz Brenner, Standortbevollmächtigter von Siemens. Die Region brauche mehr leistungsfähige S-Bahn-Verbindungen und bessere Internetverbindungen in die Wohnbezirke, auch um mehr Heimarbeit zu fördern, mahnt der Vertreter des größten Steuerzahlers der Stadt.

Im Wettbewerb mit Amsterdam und New York

Schließlich steht Erlangen als Standort für Hochqualifizierte der Medizinbranche im Wettbewerb mit Metropolen wie New York oder Amsterdam, wo die Siemens-Konkurrenten General Electric und Philips forschen.

"Wir haben hier nicht den Glamour einer Weltstadt. Aber das Gesamtpaket spricht für Erlangen", sagt Brenner. "Hier in der Region haben Berufseinsteiger exzellente Karrierechancen - und sie können sich auch noch ein Haus leisten. Das ist besonders für junge Familien interessant." Seit zwei Jahren gibt es eine internationale Schule. Und anders als in München kostet hier der Schweinebraten noch fünf Euro.

Auch an der Internationalität arbeiten die Franken. Auf dem Weg zum Bahnhof weist eine junge Frau mit Kinderwagen einem Besucher, der sich verlaufen hat, den Weg: "To the Railway Station? Yes, go straight on, turn to the left." Natürlich mit weichem "t" ausgesprochen, wie es sich für Franken gehört.

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