Studie So könnte unsere Gesellschaft 2030 aussehen

Smartphones, Tablets und Elektroautos: Im Jahr 2030 dürften die technischen Errungenschaften unserer Zeit so altbacken anmuten wie heute ein Bakelit-Telefon. Unserer Gesellschaftsform könnte es ähnlich ergehen.

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Die Vernetzung der Gesellschaft ging in den letzten Jahren mit rasantem Tempo vonstatten. Quelle: Getty Images

In Hongkong wurde im Jahr 2014 erstmals eine künstliche Intelligenz in eine Geschäftsleitung berufen. „Forschung und Technik sind heute so weit fortgeschritten, dass wir alles bauen können, was wir wollen – wir sind lediglich durch unsere Vorstellungskraft beschränkt“, meint Justin Rattner, Corporate Vice President bei Intel. Und es scheint wirklich alles möglich. Selbstfahrende Fahrzeuge könnten der Beginn von ganzen Unternehmen sein, deren „Mitarbeiter“ nur noch aus intelligenten Maschinen bestehen.

Der Schweizer Think Tank, das Gottlieb Duttweiler Institute (GDI), hat auf Rattners Gedanken aufbauend vier Szenarien entworfen, die zeigen, wie eine hochvernetzte Welt 2030 aussehen könnte und was das für Auswirkungen auf die Gesellschaftsformen hätte. Die Szenarien sollen allerdings nicht als Prognosen verstanden werden. Sie schildern Extremfälle, die in dieser Form nicht auftreten werden. Die Autoren wollen Orientierungspunkte für aktuelle Entwicklungen in unserer Gesellschaft geben.

Zwar ist, wie Rattner sagte, alles möglich. Aber nur weil alles möglich ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch Realität wird. „Wenn das technisch Mögliche die Anpassungsfähigkeit der Menschen übersteigt, hängt der technische Fortschritt immer mehr vom Menschen ab“, schreiben die Autoren.

Letztendlich muss die Gesellschaft aushandeln, wo es hingeht. Die Technisierung könnte weiter fortschreiten und das, was heute wie Science Fiction anmutet, zur Wirklichkeit werden. Es könnte aber auch ganz anders kommen: Die Angst vor der totalen Kontrolle durch Staaten oder Unternehmen könnte zur Abwendung von der Technik führen.

Vier mögliche Szenarien.


Szenario 1: Google, Apple und Co. teilen sich die Welt untereinander auf

2030 definieren sich die Menschen nicht mehr über eine Staatszugehörigkeit, sondern über ihre Zugehörigkeit zu Corporate States. Sie bewegen sich im Google-, Facebook- oder Apple-Universum – das sind die neuen Staaten.

Die Wünsche und das Verhalten der Menschen werden mittels Algorithmen vorhergesagt, die riesige Datenmengen auswerten: „Die Geräte werden den Menschen verstehen können“, sagt Karin Frick, die in der Geschäftsleitung des GDIs sitzt und an der Studie mitgewirkt hat.

Die Bürger des Google-Universums vertrauen Google all ihre Daten an und erhalten dafür einen überragenden Service. Das Auto, der Kühlschrank, die Heizung denken in Zukunft für die Menschen voraus und der Supermarkt liefert ihnen Waren, bevor sie selbst wissen, dass sie sie brauchen.

Möglich ist das, weil alle Geräte, die die Menschheit 2030 nutzt, Daten sammeln und miteinander kommunizieren. Das funktioniert nur, solange der Verbraucher nur Produkte eines Herstellers nutzt.

Wer in der Google-Welt lebt, wird nur noch wenig Kontakt zu denen haben, die in der Apple-Welt leben. „Es ist bequem, innerhalb eines Systems zu bleiben“, sagt Frick. Man lebe auf einem riesigen Google- oder Apple-Campus.

Dort wachse man auf, entwickele sich, finde Freunde und verliebe sich. „Es ist wie eine große Familie – nur verfügt sie über genug Diversität, um interessant zu bleiben.“ Ein Besuch eines Google-Menschen in der Apple-Welt kann man sich dann vorstellen wie eine Reise nach Amerika. „Der Kontakt bricht nicht ab – er wird nur seltener.“

Im Zentrum dieser Gesellschaften steht der Konsum. Es herrscht hoher Druck zur Anpassung. Kriminalität wird dabei zu einem Randphänomen. Dank der totalen Überwachung, die die Datenvorräte der Unternehmen ermöglichen, können die Corporate States konformes Verhalten erzwingen und Zuwiderhandlungen schon im Voraus sanktionieren.

In dieser Welt tritt der Staat kaum noch in Erscheinung – formell existiert er zwar, aber die Macht liegt bei den Großunternehmen. Sie investieren große Summen in die Infrastruktur und Vernetzung und haben volle Kontrolle über sämtliche Datenströme.

Aktuelle Entwicklungen

In Anbetracht der aktuellen Aufteilung des digitalen Markts unter Apple, Google und Microsoft erscheint das Ganze in 15 Jahren durchaus möglich. Apple und Google zielen beide darauf ab, ihre Geräte von denen der Konkurrenz abzuschirmen und möglichst viele Dienste in ihre Systeme zu integrieren.

iPhones und iPads, Android Phones und Chromebooks seien heute viel stärker vom jeweiligen Anbieter kontrolliert, als das früher der Fall war, heißt es in der Studie. Welche Software auf den Geräten läuft, wann sie geupdatet werden und welche Daten sie weitergeben – all das entscheidet der Hersteller.

Mit seiner Suchmaschine und seinem Kartendienst kennt Google heute seine Nutzer und ihre Gewohnheiten. Mit Investitionen sichert sich Google weitere Informationsquellen.

Anfang 2014 kaufte Google Nest Labs für 3,2 Milliarden US-Dollar. Das Unternehmen produziert unter anderem lernfähige Thermostate und soll Google im Internet der Dinge eine führende Position sichern. Die Daten, die das Internet der Dinge liefern kann, wird Google sich sicher nicht entgehen lassen.

Die gesammelten Daten und die Monopolstellung geben Unternehmen wie Google oder Facebook große Manipulationsmöglichkeiten. Facebook hat jüngst mit seinem Emotions-Experiment Negativschlagzeilen produziert.

Dabei wurden die Nutzereinträge von hunderttausenden Mitgliedern vorgefiltert und so gezeigt, dass Menschen, die mehr positive Beiträge sehen, eher dazu neigen, positive Einträge zu verfassen – und umgekehrt.

Wie realistisch ist das Szenario?

Denkt man solche Experimente zu Ende, wäre es möglich, ganze soziale Systeme zu steuern. Aus diesem Grund dürfte dieses Szenario scheitern. „Wenn der Nutzer weiß, dass Unternehmen ihn manipulieren, wird er sich irgendwann abwenden und einen anderen Anbieter suchen“, sagt Frick. Dafür brauche es zwei Dinge: Der Leidensdruck muss zu groß sein und eine angemessene Alternative muss vorhanden sein.

Sicher ist allerdings: In Zukunft werden Menschen und Maschinen immer enger zusammenwachsen. „Wir werden mehr Technik im und direkt am Körper tragen, sodass sie uns quasi zur zweiten Natur wird“, schreiben die Autoren. Das Unternehmen die so dazu gewonnen Daten nutzen werden, um die Menschen weiter zu monetisieren. Dass einzelne Unternehmen die totale Kontrolle erlangen, ist allerdings unwahrscheinlich, wie die Autoren der Studie schreiben. Denn: „Rein technisch kann niemand das gesamte Internet heute noch überschauen – weder Google, Facebook oder Amazon, noch die NSA oder die größten Netzbetreiber.“


Szenario 2: Die Menschheit wendet sich von der modernen Technik ab

2030 verzichtet ein Großteil der Menschen auf moderne Technologie. Sie haben gemerkt, dass der technische Fortschritt ihnen selbst nur einen geringen Nutzen bringt, dafür aber Freiheit und Eigenständigkeit kostet.

In einer solchen Gesellschaft wird das Leben wieder langsamer – die Menschen wissen ihre Ruhe und ihre Privatsphäre zu schätzen. Sie kommunizieren nicht mehr über das Smartphone oder über das Telefon sondern von Angesicht zu Angesicht.

Auch die wirtschaftliche Vernetzung nimmt ab. Eingekauft wird auf lokalen Märkten und man versorgt sich zunehmend selbst.

Für die Menschen ist die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen wichtiger als Wirtschaftswachstum. Infolgedessen verfällt die Infrastruktur und der materielle Wohlstand nimmt ab. In dieser Welt ist die einzige feste Größe der Nationalstaat.

Aktuelle Entwicklungen

Zwar haben in den letzten Jahren die Snowden-Enthüllungen gezeigt, welche Überwachungsmöglichkeiten Nationalstaaten wie Unternehmen haben – aber ein wirklicher Wandel im Umgang mit den Datensammlern hat nicht eingesetzt.

So untersuchte beispielsweise eine Studie des Pew Research Internet Projects, wie Amerikaner ein Jahr nach den Snowden-Enthüllungen auf das Internet blicken. Befragt wurden 607 Amerikaner im Alter von mindestens 18 Jahren.

Demnach sind sich die meisten von ihnen darüber im Klaren, dass sie abgehört werden können und Unternehmen ihre Daten nutzen, um sie zu monetisieren – immerhin gaben 91 Prozent an, dass sie glauben, der Kunde habe die Kontrolle über persönliche Informationen, die von Unternehmen gesammelt werden, verloren.

Zu stören scheint sie das nicht. Über die Hälfte der Nutzer sieht die Vorteile personalisierter Daten. 61 Prozent sagten, Services seien durch die Verwertung persönlicher Daten effizienter geworden. 55 Prozent wäre sogar bereit, mit den eigenen Daten für die Verwendung von Online-Services zu bezahlen.

Wie realistisch ist das Szenario?

Dass dieses Szenario eintritt, hält Frick für unwahrscheinlich. Einzelne Gruppen, die aussteigen, werde es sicher geben, sagt sie. „Eine Massenbewegung wird das aber nicht. Dafür ist das einfache Leben zu anstrengend.“ Der technische Komfort überwiegt für die meisten.

Allerdings könnten weitere Skandale zu einem wirklichen Wandel führen. In diesem Fall wäre ein anderes Szenario deutlich wahrscheinlicher.


Szenario 3: Ein dezentrales Internet macht die Welt besser

2030 lebt die Menschheit im digitalen Paradies. Sie verfügt über freien Zugang zu Wissen, digitaler Bildung und – dank günstiger 3D-Drucker – über dezentrale Produktionsmöglichkeiten. Das führt dazu, dass die Gesellschaft offen, tolerant, transparent und kreativ ist.

Denn die Macht über das Internet liegt nicht mehr bei einzelnen Unternehmen oder Staaten. Die Netzarchitektur basiert auf der Autonomie des Individuums. Es entscheidet frei darüber, wer seine Daten einsehen und verwenden kann.

Deswegen können die Menschen auch ohne die Eigenständigkeit zu verlieren, die Vorzüge des Internets der Dinge genießen. Als eine Art allgegenwärtiger Butler erleichtert es dem Einzelnen den Alltag.

In dieser Gesellschaft ist jeder in der Lage, seine Ideen unternehmerisch umzusetzen, da Informationen global ausgetauscht werden. Die Wirtschaft wird prosperieren, denn: „Freie Kunden sind wertvoller als gebundene und freie Menschen sind wertvoller als gebundene“, sagt Frick. Sie schüfen Neues, seien kreativ und sorgten für eine wirtschaftliche Dynamik.

„Große Systeme haben die Tendenz zu erstarren. Sie sind einzig darauf bedacht, ihre Macht zu erhalten“, so Frick. „Innovationen gehen von kleinen Systemen aus.“ Produziert wird deshalb lokal mit 3D-Druckern, die sich selbst reproduzieren können und deswegen nahezu umsonst sind.

Der US-Ökonom Jeremy Rifkin glaubt daran, dass durch den 3D-Druck die unsichtbare Hand des Marktes ihren größten Triumph überhaupt erreiche, „sie schafft nämlich die effizientesten Märkte überhaupt, mit Grenzkosten nahe null“. In einer solchen Welt sind alle Waren im Überfluss vorhanden und deswegen beinahe kostenlos.

Deswegen erziele niemand mehr Gewinne. „Der Vorteil der Größe geht verloren, wenn man dank 3D-Druckern alles gleich günstig und lokal herstellen kann“, sagt Frick. „Die Funktion der Großunternehmen verschwindet und damit ihre Macht.“
Die Folge: Der Kapitalismus dankt ab – stattdessen entsteht eine Share-Economy, eine Wirtschaft des Teilens, basierend auf Tausch und Selbstverwaltung.

Auch das staatliche Gefüge wird dadurch umgekrempelt. Es bedarf keiner Zentralgewalt mehr und keiner gewählten Vertreter. Über das Netz vertritt jeder Bürger sich selbst.

Aktuelle Entwicklungen

Beispiele dafür, wie die Sharing-Economy funktionieren kann, finden wir schon heute. Eines ist die Betten-Börse Airbnb. Der Statuswert des reinen Besitzens wird durch das Teilen-Konzept verringert. Zudem wird neuer Wohnraum geschaffen, indem bis dato nicht genutzte Ressourcen genutzt werden – ein leeres Gästezimmer beispielsweise.

Auch der 3D-Druck entwickelt sich rasant. Die Geräte arbeiten immer schneller und effizienter. Schon bald könnten sie für die private Produktion geeignet sein.

Einen Beitrag zur Dezentralisierung des Netzes könnten Anbieter wie das Hamburger Start-Up Protonet leisten. Das Unternehmen produziert leistungsfähige Server – nicht größer als eine Autobatterie. Sie können zwischen einem und zwölf Terabyte speichern. So können Nutzer ihre Daten auf eigenen Geräten speichern und müssen nicht mehr Cloud-Anbietern ihre Daten anvertrauen.

Wie realistisch ist das Szenario?

Ein Schritt zu mehr Unabhängigkeit – der aber erst einmal getan werden muss. Laut Eurostat nutzen selbst im technikfeindlichen Deutschland 56 Prozent aller Unternehmen Cloud-Angebote, um ihre Daten zu speichern. In Dänemark sind es sogar 70 Prozent.

Ob die bisherigen Strukturen wirklich so radikal aufgebrochen werden können, ist fraglich. „Das Konzept der Sharing-Economy hängt davon ab, dass niemand supermächtig ist und dass jeder sich vertraut“, sagt Frick. Sollte das nicht geschehen, könnte das laut der Studie schlechteste Szenario für die Gesellschaft eintreten.


Szenario 4: Das Internet teilt die Welt in viele Arme und wenige Reiche

2030 ist eingetreten, wovor Globalisierungs- und Technisierungskritiker seit Jahrzehnten gewarnt hatten: Die totale Überwachung und Wachstum ohne Jobs sind Realität geworden.

Die Gesellschaft ist unterteilt in Arm und Reich – wobei 99 Prozent arm sind. Einige wenige hatten in den gigantischen Ausbau des digitalen Netzes investiert und können heute bestimmen, was damit gemacht wird.

Als die Terrorgefahr zu groß wurde, hatten sich die Nationalstaaten auf die Netzbetreiber eingelassen, um die Gefahr mittels der Daten, die sie gesammelt hatten, einzudämmen. Der Preis war hoch. Die Politik ist schwach und richtet sich nach den Wünschen der Elite. Eine Änderung der Verhältnisse ist nicht mehr in Sicht.

Die Oberschicht lässt Maschinen und Roboter für sich arbeiten. Die menschliche Arbeitskraft ist nahezu nutzlos geworden. Die Daten der 99 Prozent werden zentral erfasst – alle privaten und beruflichen Geheimnisse. Wer nicht zur Elite gehört, ist total transparent.

Die Armen halten sich mit Drecksjobs über Wasser; in der Freizeit erfreuen sie sich an einer virtuellen Realität – ein Mittel der Elite, um die 99 Prozent am Aufbegehren zu hindern. Soziale Mobilität gehört der Vergangenheit an.
Aktuelle Entwicklungen

Google, Facebook, Amazon und co. haben gigantische Datensätze über jeden einzelnen Bürger – wenn totalitäre Staaten sich dieser Vorräte bedienen könnten, wäre die totale Überwachung ein Leichtes. „Das Netz würde dann hauptsächlich zu Kontrollzwecken genutzt werden“, sagt Frick. „So wie wir das heute schon aus China kennen.“

Auch die Entwertung der menschlichen Arbeitskraft ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Oxforder Professoren Carl Benedikt Frey und Michael Osborne kamen zu dem Ergebnis, dass die digitale Revolution bis 2025 47 Prozent der heutigen US-Arbeitsplätze verdrängt.

Das würde nicht nur niedrige Tätigkeiten betreffen. Auch Akademiker müssten um ihre Jobs fürchten. Schon heute ist der extrem lernfähige IBM-Roboter Watsen in der Lage, Ärzte zu unterstützen. In einigen Jahren könnte er in der Lage sein, sie zu ersetzen.
Wie realistisch ist das Szenario?

„Wir glauben nicht, dass dieses Szenario in einer so extremen Form auftritt“, sagt Frick. „Aber es gibt durchaus Tendenzen für eine abgeschwächte Form.“ Edward Snowdens Enthüllungen haben gezeigt, wie sehr sich das zentralisierte Netz für die Ausspähung der Bürger eignet.
Sollte dieser Fall eintreten und die Politik sich nicht für eine gerechtere Verteilung einsetzen, werden einige wenige gigantische Gewinne machen – während der breite Rest ohne Arbeit ist und sich billiger Unterhaltung hingibt. Ein digitales Proletariat.

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