Medizin "Ärzte können nicht messen, was ein Leben wert ist"

Kann der medizinische Fortschritt auch in Zukunft allen zugutekommen? Ein Streitgespräch zwischen dem Ökonomen Wolfgang Greiner und dem Mediziner Peter Sawicki.

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Peter Sawicki (rechts) ist Professor für Innere Medizin. Wolfgang Greiner ist Professor für Gesundheitsökonomie Quelle: Werner Schüring für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Greiner, Herr Sawicki, in England werden Kranken die Behandlungen nicht mehr bezahlt, wenn die Kosten für die Lebensverlängerung einen Schwellenwert überschreiten. Können wir uns in Deutschland weiter um die Diskussion drücken, ob auch hier in Zukunft noch alles für jeden zu finanzieren ist?

Sawicki: Der englische Ansatz geht meiner Meinung nach in die falsche Richtung. Weder Ärzte noch Wissenschaftler können irgendwie messen oder definieren, was ein Leben wert ist. Wie soll das gehen? Wir können ja auch nicht messen, was ein Jahr Liebe oder ein Tag Hoffnung wert ist. Die Gesundheitsökonomen versuchen es zwar immer wieder, aber am Ende stellen sie fest: Es klappt nicht.

Greiner: Solche Polemik wird auch durch häufiges Wiederholen nicht richtiger. Was wir tun, ist die Kosten einer neuen Therapie oder eines Medikaments mit dem Nutzen zu vergleichen, also zu schauen, um wie viele Wochen oder Monate sie das Leben des Patienten verlängern. Heraus kommt eine Kenngröße, die eine Entscheidungsgrundlage dafür schafft, ob die Behandlungskosten in einem vertretbaren Verhältnis zu ihrem Nutzen stehen. Mehr nicht. Wir versuchen gar nicht, den Wert eines menschlichen Lebens zu berechnen.

Herr Sawicki, auch Ihr Institut, das IQWIG, startet im nächsten Jahr eine Art Medizin-TÜV, indem es die Kosten eines Medikaments dem Nutzen gegenüberstellt...

Sawicki: ...das ist etwas übertrieben ausgedrückt.

Wieso? Der Vorstandschef von Bayer Pharma, Wolfgang Plischke, behauptet, dass Ihre Bewertung dazu führen kann, dass einem Patienten eine lebensverlängernde Therapie verweigert wird, weil Ihr Institut sie für zu teuer hält.

Sawicki: Für Deutschland ist diese Aussage definitiv falsch. Denn wir werden Kosten-Nutzen-Analysen ausschließlich dort anstellen, wo es gleichwertige Behandlungsalternativen gibt. Alle gegenteiligen Behauptungen sind gezielte Stimmungsmache von Lobbyisten.

Steuern wir nicht dennoch auf englische Verhältnisse zu? Dort hat die Regierung den Wert eines gewonnenen Lebensjahres auf rund 43.000 Euro festgesetzt.

Greiner: Wenn Politiker richtigerweise erkennen, dass die begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems möglichst effizient eingesetzt werden sollten, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als einen Schwellenwert festzulegen. Wird dieser überschritten, heißt das, dass die Kosten, verglichen mit dem Nutzen, zu hoch sind. Der Grenzwert lässt sich aber nicht einfach ausrechnen, sondern Politik und Gesellschaft müssen ihn in einem Dialog definieren. Schwellenwerte machen zudem die ohnehin von der Politik getroffenen Rationierungsentscheidungen transparent.

Sawicki: Wenn die Politik in Deutschland gewollt hätte, hätte sie einen solchen Schwellenwert in das Gesundheitsreformgesetz von 2007 hineinschreiben können. Ein Satz hätte genügt. Aber der Gesetzgeber hat ganz bewusst darauf verzichtet. Jetzt versuchen Gesundheitsökonomen ihn durch die Hintertür einzuführen.

Greiner: Der Grenzwert hat ja nicht den Charakter eines Fallbeils. Wenn der Preis für ein Medikament gegen einen seltenen Krebs den Schwellenwert überschreitet, dann wird die Behandlung auch in England oder Australien aufgrund der Schwere und Seltenheit der Krankheit weiterhin bezahlt.

Sawicki: Das stimmt so nicht. In Großbritannien sind zwei Medikamente gegen Darmkrebs, Erbitux von Merck und Avastin von Roche, von der Erstattung ausgeschlossen worden, weil die Behandlung damit pro Jahr mehr als umgerechnet 43.000 Euro kostet. Da wurde eben nicht gefragt, wie schlimm Krebs ist. Die Medikamente wurden ausgeschlossen, weil sie das Leben der Patienten im statistischen Durchschnitt lediglich um 1,7 Monate beziehungsweise 4,7 Monate verlängern. Sie haben dafür kein Verständnis?

Sawicki: Bei einer so schweren Erkrankung ist die gewonnene Zeit nicht wenig. Wer wollte sie einem Patienten verweigern? Überdies sind die Zahlen nur Mittelwerte, aus denen folgt, dass die Hälfte der Patienten eben mehr als 4,7 Monate Lebenszeit gewinnt. Aber wir nähern uns dem Kern des Problems...

...nämlich der Frage, was ein Monat oder ein Jahr länger zu leben kosten darf?

Sawicki: Genau das aber können wir nicht messen. Und wir sollten der Politik auch nicht vormachen, dass es geht.

Greiner: Wir leben aber nicht im Schlaraffenland, wo wir ohne Rücksicht auf die Belastungen alles bezahlen können. Die steigenden Beiträge zur gesetzlichen wie privaten Krankenversicherung lassen gar keine andere Wahl als abzuwägen, was die Versichertengemeinschaft noch bezahlen kann und was nicht. So hart es klingen mag: Es wird auch in Zukunft nicht alles für alle geben können.

Sawicki: Das halte ich für voreilig. Darüber sollten wir allenfalls diskutieren, wenn alle anderen Sparpotenziale ausgeschöpft sind. Und davon gibt es noch mehr als genug. Deutschland ist für Pharmaunternehmen, um nur ein Beispiel zu nehmen, bisher so etwas wie ein Schlaraffenland. Nur hier gibt es die weltweit einmalige Situation, dass die Krankenkassen ein zugelassenes Medikament praktisch ohne Preisverhandlung erstatten müssen. Das führt zu Mondpreisen für Präparate, deren Nutzen für Patienten oftmals nicht belegt ist.

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