Anodyne Posture 2.0 im Test Das Superman-Shirt gegen Rückenschmerzen

Hightech-Bekleidung gegen Verspannungen, Schmerzen und Verletzungen: Das bietet die Firma Alignmed Schreibtisch-Nomaden mit dem Posture Shirt 2.0. Aber sind die 109 Euro für eine gute Haltung auch gut angelegt?

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Das Shirt ist mit Geweben konstruiert, die spezifische Muskelgruppen aktivieren und stimulieren, um den Körper in eine Aufrechte Haltung zu bringen. (Foto: Anodyne.de)

Köln Na, noch alles frisch im Kopf? Ich frage das, weil Sie vermutlich gerade wieder seit sehr langer Zeit an Ihrem Schreibtisch sitzen. Man könnte auch sagen: In der „Po-Ebene“. Habe ich recht?

Dass das passive Dauersitzen uns krank und dick macht und unserem Rücken schadet, hat sich inzwischen ja herumgesprochen und uns Journalisten zu klickträchtigen Schlagzeilen wie etwa „Sitzen ist das neue Rauchen“ verleitet. Aber jetzt macht es auch noch dumm! Das haben zumindest Hirnforscher der Illinois-Universität neulich herausgefunden. Wer ununterbrochen an seinem Stuhl klebt, ist nicht mehr ganz frisch im Kopf. Und wir Büroarbeiter verbringen schließlich bis zu 80.000 Stunden unseres Berufslebens - hochgerechnet neun Jahre - im Sitzen. Im Auto. In Meetings. Auf Dienstreisen.

Der Bewegungsmangel schadet nicht nur massiv unserer Gesundheit, sondern hat auch ernsthafte wirtschaftliche Folgen. 40 Millionen Arbeitstage fielen 2013 aus, weil Arbeitnehmer wegen Rückenschmerzen krankgeschrieben wurden. Pro Arbeitnehmer kommen im Schnitt in Deutschland rückenbedingte 15 Krankentage, weil es im Kreuz qualvoll zieht und kneift. Und ein Ausfalltag kostet ihren Chef im Schnitt 130 Euro. Kein Zweifel: Es ist unverzichtbar, dass wir uns im Büro mehr bewegen und unsere Bänder, Muskeln und Sehnen herausfordern und trainieren, statt sie verkümmern zu lassen.

Genau hier setzt die kalifornische Firma Alignmed mit ihrer Hightech-Bekleidung an, die in Europa über das dänische Unternehmen Anodyne vertrieben wird. Das Werbeversprechen: „Die Kleidung ist von kinesiologischem Tape inspiriert, wie es von Physiotherapeuten verwendet wird, um die Muskelfunktion zu korrigieren, den Blutkreislauf anzukurbeln, Schmerzen und Verspannungen zu reduzieren und zu lindern.“ Der träge Schreibtisch-Nomade, so heißt es, müsse selbst gar nichts mehr tun. Shirt an, Schmerzen aus. Doch kann das wirklich funktionieren? Wir haben zwei Produkte von Anodyne mehrere Wochen lang genauer unter die Lupe genommen und sagen, was es gebracht hat.


Speck-takel mit Mut zur Hässlichkeit

Ob Stehschreibtische, Sitzbälle, bewegliche Swopper-Hocker für 600 Euro oder ergonomische 3D-Bürostühle: Wer seinem Rücken auch im Arbeitsalltag etwas Gutes tun will, steht vor einem unüberschaubar großen Angebot, von dem längst nicht alles auch einen medizinischen Nutzen hat. Welchen Versprechen kann man trauen? Welchen nicht?

Im August erreichte uns von Anodyne das Mailing mit dem verheißungsvollen Betreff: „Rückenschmerzen adé: Haltungskorrigierende Kleidung jetzt in Deutschland.“ Gespickt mit Fakten zur Volkskrankheit Rückenschmerzen, ergänzt um wohlklingende Hinweise zu Studien, die allesamt beweisen sollen, dass die Kleidung nicht nur die Körperhaltung bereits nach vier Wochen deutlich verbessert, sondern auch noch die Leistungsfähigkeit von Sportlern erhöht. Mehr noch: Sie lindert angeblich sogar Symptome von neurologischen sowie Autoimmun- und Atemwegserkrankungen. Da staunt der gemeine Test-Redakteur natürlich nicht schlecht und bestellt umgehend die entsprechende Wunderfaser zu Testzwecken.

Konkret entscheide ich mich für das Shirt Posture 2.0, konstruiert mit sogenannten Neurobands, um spezifische Muskelgruppen zu aktivieren, sowie eine Capri-Leggins, in der - es klingt zu schön, um wahr zu sein - Powermesh-Gewebe steckt, dass die Gesäßmuskulatur hebt, formt und gleichzeitig trainiert. Ganz billig ist die hautenge Superman-Bekleidung allerdings nicht: Für das Shirt müssen kreuzschmerzgeplagte Office-Worker 109,00 Euro und für die Leggins 99 Euro bezahlen (Transparenz-Hinweis: Die beiden Kleidungsstücke hat Anodyne uns überlassen, da sie aus hygienischen Gründen nicht vom Anbieter zurückgenommen werden können).

Am Anfang trage ich das haltungskorrigierende Posture-T-Shirt immer nur für wenige Stunden und wie ein Unterhemd unter meiner eigentlichen Bekleidung. Warum? Weil es verdammt eng ist (muss so, wegen der Superkräfte) und ich mir darin vorkomme, wie ein ausgestopfter weißer Strumpf. Die Leggins fühlen sich da schon wesentlich angenehmer an und vermitteln immerhin nicht permanent das Gefühl, als sei ich eine Presswurst auf zwei Beinen.

Der Haken beim Tausendsassa Funktionsbekleidung ist ja generell, dass sie wirklich knalleng auf der Haut anliegen muss, damit sie optimal wirken kann. Und wirklich jedes Gramm Fett hervorhebt. Das ist bei Nike oder Under Armour ja nicht anders. Aber gut, wir wollen ja schließlich gesund und schmerzfrei sein und das braucht offenbar eben auch ein bisschen Mut zur Hässlichkeit. Möge das große Speck-takel beginnen!


Wie funktioniert das Superman-Shirt?

Der anstrengendste Teil ist das Anziehen! Die Prozedur, bis das Shirt auch wirklich korrekt sitzt, ist recht knifflig und ich könnte mir vorstellen, dass das für Menschen, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt oder stark übergewichtig sind, alleine zu schwer ist und sie hier Unterstützung brauchen. Für mehr Komfort beim Anziehen hat Alignmed immerhin noch zum selben Preis eine Variante mit Reißverschluss im Programm.

Doch ein Problem bleibt: Immer wieder, ob nun im Büro, beim Krafttraining im Fitnessstudio oder beim Joggen, rutscht beim Tragen der Bund nach oben und legt den Bauch frei - hier muss der Hersteller sich unbedingt noch etwas einfallen lassen. Die Leggins hingegen - einmal angezogen - sitzt wie angegossen, formt eine schöne Silhouette und ist bei sämtlichen Sportarten gut zu tragen.

Auch wenn mein Gesäß wohl noch lange nicht so imposant ist wie das von Celebrity-Star Kim Kardashian, meinem Traum-Hintern fühle ich mich beim Tragen ein winziges Stückchen näher (Spoiler: Glauben Sie jetzt bloß nicht, dass es den perfekten Knackpo zum Anziehen gibt, denn ohne Schweiß und Anstrengung geht es nicht).

Aber was macht Alignmed eigentlich anders als herkömmliche Anbieter von Funktionsbekleidung? Auf der Webseite wird es so erklärt, dass die Bekleidung das Muskelgedächtnis beim Tragen beeinflusst und verändert, also durch gezielte Reizung über Haut und Muskulatur die Körperhaltung korrigiert. „Sie verändert die Haltung durch Hilfe zur Selbstunterstützung des Körpers, indem sie inaktive Muskeln, die schwach, unausgewogen und dysfunktional sind, aktiviert.“ Der Körper wird also nicht fixiert, wie beim Benutzen von Korsetts und ähnlichen Stützsystemen, die die Bewegungsfreiheit einschränken, die Muskeln mit der Zeit schwächen und dadurch den Körper von der externen mechanischen Unterstützung abhängig machen. „Alignmed stimuliert die Muskeln, ohne sie zu fixieren.“


Handfeste wissenschaftliche Belege fehlen

Tatsächlich engt mich das Shirt, obwohl es so körperbetont ist, nicht ein. Auch nach längerem Tragen nicht. Und ich muss zugeben, dass ich schon am ersten Tag den Effekt der Haltungskorrektur fühle, sprich: meine Schultern werden nach hinten gezogen, ich sitze aufrechter und gerader und irgendwie auch entspannter an meinem Schreibtisch. Ganz anders sieht das allerdings nach der Mittagspause aus, wenn ich mit den Kollegen gut gegessen und mein Posture-Shirt an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht habe. Aber das ist eine andere Geschichte.

Mir stellt sich nur die Frage, woher genau dieser Effekt nun kommen soll. Und ob es nicht auch anders gehen könnte, als dafür gleich 109 Euro ausgeben zu müssen… Der Hersteller führt die Wirkung auf die ins Shirt integrierten Neurobands zurück. Eine Technologie, die von Kinesiotapes inspiriert ist, die ursprünglich aus Fernost stammen. Sie wissen schon, dass sind diese bunten, elastischen Klebebänder zur Stützung der Muskulatur, die von einigen Physiotherapeuten zur Behandlung von Verletzungen benutzt werden. Doch was für viele durchtrainierte Spitzensportler und auch etliche 08/15-Hobby-Athleten inzwischen zum guten Ton gehört, ist in Fachkreisen umstritten.

Die Befürworter sehen in dem elastischen Taping eine Art Allzweckwaffe bei der Behandlung von Prellungen, Verspannungen, Rückenschmerzen oder Gelenkarthrosen und sogar bei Migräne, Tinnitus, Schwangerschafts- und Regelbeschwerden sollen die knallblauen und grellrosa Klebebänder helfen - die sportliche Variante der eierlegenden Wollmilchsau sozusagen.

Fakt aber ist, dass es derzeit nur sehr wenige Studien gibt, die handfeste wissenschaftliche Belege für den Nutzen der hippen Tapes liefern. Und die wenigen Untersuchungen, die dazu überhaupt (leider oft auch nur über einen kurzen Zeitraum) durchgeführt wurden, kommen auch noch zu teils widersprüchlichen Ergebnissen. Darum übernehmen auch die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für das Tapen nicht.

Auf der anderen Seite sagt man aber auch: „Wer heilt, hat Recht“, und es gibt viele Patienten, die auf die Wirksamkeit der Pflasterkleberei schwören. Wozu braucht man also eine Studie, wenn das Taping in der Praxis doch so große Erfolge zeigt?


Fazit: Geldschneiderei oder doch ganz nützlich?

Vielleicht ist es bei der schlauen Kleidung wie mit homöopathischen Globuli und Kinesio-Tapes: Sie helfen auf jeden Fall dann, wenn man auch dran glaubt. Kann das schaden? Höchstens vielleicht Ihrem Geldbeutel. Bei allen anderen ruft das Posture-Shirt vielleicht nur ein Kopfschütteln hervor.

Aber auch wenn Sie daran glauben, lassen Sie es sich gesagt sein: Erwarten Sie bitte keine magische Pille! Darauf weist der Hersteller - und das finde ich fair - sogar selbst auf seiner Webseite hin und betont, dass das Shirt als Ergänzung zu Sport und Übungen betrachtet werden und diese nicht ersetzen soll. Denn natürlich kann auch ein Kleidungsstück nicht reparieren, was wir Couchpotatoes selbst durch Bewegungsmangel oder einseitige Bewegungen verursacht haben. Außerdem kommen Rückenschmerzen schließlich nicht einzig und alleine durch zu viel Sitzen.

Bislang, so heißt es bei Anodyne, wurden bereits mehr als 20.000 Artikel in Europa verkauft. Wer mit dem Produkt überhaupt nicht zufrieden ist, kann es innerhalb von 14 Tagen wieder zurückgeben. Wobei man die Kleidung wohl erst einmal über mehrere Wochen tragen sollte, weil der Körper Zeit braucht, um zu lernen, von selbst eine korrekte Haltung aufrechtzuerhalten.

Ich hatte das Shirt regelmäßig immer dann an, wenn ich im Home-Office gearbeitet habe und bin absolut davon überzeugt, dass meine Nacken- und Schultermuskulatur nach einem langen Arbeitstag deutlich weicher war. Dafür können, neben der Möglichkeit, dass es tatsächlich wirkt, auch zwei weitere Effekte verantwortlich sein. Entweder sind meine Beschwerden einfach dadurch verschwunden, dass ich beim Tragen des Shirts verstärkt auf eine korrekte Körperhaltung am Schreibtisch geachtet habe - dann könnte sich die Linderung dem Shirt gutschreiben lassen.
Der zweite Effekt kann Placebo sein. Schließlich hat unser Körper ja auch enorme Selbstheilungskräfte (siehe Globuli) und wenn man einfach nur fest daran glaubt, was Alignmed verspricht, kann sich tatsächlich auch eine Besserung einstellen. Bis auf den hohen Preis spricht also nichts dagegen, einen Versuch mit dem Shirt zu wagen.

Aber ich möchten allen Bewegungsmuffeln ans Herz legen: Bitte probieren Sie es auch mal mit einem kleinen Spaziergang in der Mittagspause, etwas Bürogymnastik und nach getaner Arbeit mit ein bisschen Sport. Ihr Körper wird es Ihnen danken!

„Keine Stunde, die man mit Sport verbringt, ist verloren.“ (Winston Churchill)


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