Am Mont Ventoux Erlkönige beim Testen ertappt

Mitten in der Provence, am Südhang des legendären Mont Ventoux, schicken fast alle großen Autobauer ihre Prototypen in den letzten Härtetest.

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Mercedes W212 Quelle: Ulrich Gatti

Frühmorgens, kurz nach Sonnenaufgang, geht Ulrich Gatti besonders gerne auf die Pirsch. Mehrmals jagt der Maschinenbau-Elektroniker dann seinen BMW die Bergstraße zum Gipfel des 1912 Meter hohen Mont Ventoux hoch. Der Autonarr verfolgt nur ein Ziel: Auf frischer Fahrt will er einen Erlkönig mit seiner Digitalkamera abschießen. Fast jede Woche schicken die Autobauer ihre mitunter mit Spanplatten notdürftig verkleideten Prototypen auf den höchsten und einsam aufragenden Berg der Provence im Süden Frankreichs. Wer hier – in der prallen Sonne am steilen Südhang – den letzten Härtetest besteht, bekommt bald grünes Licht für die Serienfertigung.

Wenn ausnahmsweise mal keine Erlkönige den Berg hochklettern, erlaubt sich Gatti einen besonderen Spaß. Als harmloser Tourist – mit Badelatschen und kurzen Shorts – schleicht er sich dann an die versteckten Basislager heran. Nur wenige Meter von der asphaltierten Panoramastraße D 974 entfernt, von Pinien und Eichen verdeckt, bauen Mercedes, BMW und Audi ihre mobilen und festen Werkstätten auf, von denen die Erlkönige zu ihren Testfahrten aufbrechen.

Da jagt dann auf einmal der neu gestylte BMW-Sportwagen Z4, der erst im nächsten Jahr auf den Markt kommt, den Mont Ventoux hinauf – ohne dass die Techniker die markanten Einschnitte am Kotflügel und an den Türen abgedeckt haben. Da lässt Mercedes alle Verzierungen am E-Klasse-Nachfolger W212 (interne Bezeichnung) weg – und hofft, dass sich die Späher vom Autokennzeichen des Münchener Konkurrenten BMW bluffen lassen. Und BMW tarnt das neue Coupé X6 mit einem aufwendigen Heckaufbau, der den Wagen wie einen Kombi aussehen lässt und das wahre Design abdeckt.

Der Mont Ventoux. Legenden kreisen um diesen Berg. Seit mehr als 50 Jahren quälen sich die Radsportler zum Gipfel hinauf. Die Gipfelankunft gehört zu den Highlights der Tour de France. Stars wie Raymond Poulidor (1965), Eddy Merckx (1970), Marco Pantani (2000) und Richard Virenque (2002) konnten sich in die Siegerliste dieser schweren Etappe eintragen. Der „windige Berg“, wie er übersetzt heißt, ist aber auch Schauplatz der ersten Doping-Tragödie: Am 13. Juli 1967 brach der englische Radprofi Tom Simpson kurz vor dem Gipfel erschöpft zusammen und starb noch an der Unglücksstelle. Der Fahrer hatte eine hohe Dosis Amphetamine geschluckt, um die letzten Reserven aus seinem Körper herauszuholen.

Nirgendwo sonst in Europa finden die Autohersteller so ideale Testbedingungen vor. Vom Ausgangsort Bédoin, der am Rande der Tiefebene auf gerade mal 300 Meter liegt, schlängelt sich die Bergstraße mit einer durchschnittlichen Steigung von 7,6 Prozent zum Gipfel in 1912 Meter Höhe. 1600 Höhenmeter müssen auf einer Distanz von 21 Kilometern überwunden werden. Und: Anders als in den Hochalpen unterbrechen nur wenige Serpentinen den Anstieg. Die Testfahrer dürfen Gas geben – und machen davon reichlich Gebrauch.

Was niemand ahnt: Ganz unten, am Fuße des Mont Ventoux, hat sich Mercedes angesiedelt. Kurz hinter der Ortsausfahrt des malerischen Provence-Dorfes Bédoin biegt links ein schmaler Feldweg zu ein paar Ferienhäusern ab. Auf dem Straßenschild steht: „Chemin des Bédoin aux Baux“. Der Schotterweg verbindet die Touristendörfer Bédoin und Baux. Daneben wirbt ein gewisser Messieur Rodriguez für sein „Depot et bureau“.

Im Frühjahr und Sommer wirbeln hier besonders viele Erlkönige Staub auf. Mehrmals am Tag ziehen dann Mercedes-Techniker eine alte Bahnschranke hoch, die die Einfahrt zu einer unscheinbaren Lagerhalle versperrt. Der triste Bau ist in Wirklichkeit eine moderne Werkstatt mit mehreren Hebebühnen. Von hier aus starten Erlkönige – vollgestopft mit Messgeräten – zu ihrer Jungfernfahrt auf den Mont Ventoux. Nur ein verrosteter Emaille-Stern an der Hallenwand verrät: Hier legen die Entwicklerteams von Mercedes letzte Hand an den künftigen Modellen an. Oder sie spionieren die Konkurrenz aus. Tagelang rasten Mercedes-Fahrer mit dem Topmodell von Toyota, einem Lexus mit Hybridantrieb, die Bergstraße hoch, um herauszufinden, wie gut die neue Technik wirklich ist. Über jede Fahrt mussten sie ein handschriftliches Protokoll mit allen Messdaten anlegen.

Die Konkurrenz liebt es profaner. Die einen – etwa Peugeot – rücken mit Trucks zu den Testfahrten an. Andere – wie Audi und BMW – schlagen sich oberhalb der Bergdörfer Sainte-Colombe und St. Estève in den Eichenwald und bauen hier einen provisorischen Stützpunkt aus Rampen und Beduinenzelten auf. Ihr wichtigstes Accessoire ist ein mit Sandsäcken oder alten Reifen voll gestopfter Anhänger, der als Ballast dient. Neue Motoren und Getriebe bekommen erst die Freigabe, wenn sie den Härtetest am Mont Ventoux bestanden haben. Tausende Kilometer haben alle neuen BMWs schon auf der hauseigenen Teststrecke in Crau (östlich von Marseille) zurückgelegt. Doch erst der Ausflug zum 150 Kilometer entfernten Mont Ventoux ist für alle Erlkönige die Krönung.

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