Im Büro von Joachim Scholz hat alles seine nüchterne Ordnung. Der Beamte der Stadtverwaltung der Stadt Haan schaut auf Computer, Akten und Gesetzesbücher. Und wenn er sich umdreht, auf das für ihn schönste Auto der Welt. Einen Mercedes 300 SL. Ein Modell, das Scholz gelegentlich bewundert: „Er hat einfach perfekte Formen.“ Formen, die ihn auch rund 50 Jahre nach deren Entwicklung noch begeistern. Schöner sei kein Auto der Neuzeit.
Das wissen auch die Produktgestalter. Alles schon da gewesen – so lautet die heimliche Devise des Designs. Das Nachbilden des Vergangenen, die Uminterpretation des Alten, die Neuerfindung der Tradition gehören zu den Standardstrategien der Designer. Kreative schöpfen nicht aus dem Nichts, im Gegenteil: Sie spielen regelmäßig mit Vertrautem, knüpfen an Vorbilder an, stellen visuelle Ähnlichkeiten her, die, im besten Fall, das Alte in neuem Licht erscheinen lassen.
Emotionaler Halt durch Retrospektion
In jüngster Zeit indes ist der Blick zurück in Verruf geraten. „Retro“, der Rückgriff auf vergangene Stilmuster, gilt bei designbewussten Zeitgenossen als Verrat am Innovativen, als Sieg der „Altgier“ über die „Neugier“, kurz: als Kapitulation der Kreativität. „Retro-Formen allein sind ein Irrweg. Es geht darum, eine zeitgemäße Nachfolge zu gestalten“, sagt Peter Pfeiffer, von 1999 bis 2008 Designchef von Mercedes und in dieser Funktion auch verantwortlich für einige SL-Modelle und des derzeitigen Spitzensportwagens der Stuttgarter: des SLS AMG.
Nicht überall wird so gedacht, argwöhnen die Verächter der Retrospektion: Ob in Architektur, Mode, Popmusik oder Autodesign – in nahezu allen Lebensbereichen lauere die Furie der Wiederholung. Die Erklärungen für die neue Retro-Seligkeit klingen wie eine Binsenweisheit: In Zeiten einer rasant sich beschleunigenden, globalisierten Welt wächst die Lust an der Flucht in die Geschichte, suchen die Menschen wie Kinder, denen alles Neue Angst macht, emotionalen Halt – und finden ihn in den vertrauten Bildern der Vergangenheit. Der Musikfan genießt den Sound der Swinging Sixties in den Videos von Lana del Rey, der Architekturliebhaber entdeckt sein Herz für die Schönheit rekonstruierter Altstadtkulissen – und der Autofan verliebt sich in die kulleräugige Possierlichkeit, in den antiquierten Plüschtiercharme von Mini, Beetle, Fiat 500 und Co. Retro-Autos als Vehikel für die Fahrt in die gute alte Zeit? Als Fetisch einer in der Rückschau nostalgisch verklärten Vergangenheit?
Die Vorliebe fürs Runde
Im Griechischen heißt „Nostos“ so viel wie „Heimkehr“, „algos“ steht für „Schmerz“. Und genau das erleben Nostalgiker heute: Sie denken – mal mehr, mal weniger schmerzhaft – an Zeiten, die nicht mehr zurückkommen. Oder, wie der Volksmund sagt: „Früher war alles besser.“ Modernisierung und nostalgische Reminiszenz sind dabei zwei Seiten einer Medaille. Der Siegeszug von Retro-Elementen im Automobildesign, so der Kölner Designprofessor Paolo Tumminelli, begann schon Ende der Achtzigerjahre, als die Moderne sich noch kantig und aggressiv gab, mit dem kleinen, niedlichen, seifenförmigen Mazda MX-5, dem seither meistverkauften Roadster der Welt, und setzte sich, unbeeindruckt von New-Economy-, Finanzmarkt- oder Staatsschuldenkrise, munter fort – bis zum New Beetle 2011, der als Nachfolger des Beetle von 2004 gewissermaßen die Retro-Version eines Retro-Wagens darstellt.
Mythos SL
Entscheidend, so Tumminelli, sei für die Käufer nicht der wehmütige Blick in die Historie, der Rückbezug auf den Käfer der Fünfziger. Es genügt ihnen die vage Anmutung von Retro, die sich in den weichen, schwellenden Formen manifestiert. In der Vorliebe fürs Runde, Weiche, Strömende, so Tumminelli, drückt sich ein urmenschliches Wahrnehmungsverhalten aus: „Die Menschen sehen Automobile anthropomorph, sie mögen freundliche Autogesichter, ziehen, quer durch alle Altersklassen, das runde dem eckigen Design vor, die gewölbten den scharfkantigen Formen.“
Peter Pfeiffer, der schon seit 1968 bei Mercedes das Design gestaltete, erinnert sich, dass es einige Jahrzehnte eher darum ging, das Technische und die Sicherheit im Automobil mit Design zu unterstützen: „Heute dagegen zählt wieder mehr die Marke, das Image, und die Emotionalität kehrt wieder in das Design zurück.“
Ewig gültige Proportionen
Es ist also kein Wunder, dass die Erfolgsautos der Automobilgeschichte allesamt zum Rundlichen tendierten, dass der würfelartige Panda gegen den Fiat 500 mit seiner Brötchenform bis heute keine Chance hat und alle Wahrnehmungstests die Präferenz des Publikums für die fließenden Formen der Fünfzigerjahre bestätigen. Mercedes hat auf diese Konstante relativ spät reagiert, mit den biomorph inspirierten Rundungen der Baureihe R 230 von 2001 und mit dem Supersportwagen SLS AMG von 2009: Die geschwungenen Flügeltüren, aber auch der Kühlergrill, die runden Schultern, die zwei Wölbungen der Motorhaube und die muskulös gestreckten Kotflügel zitieren demonstrativ das klassische 300 SL-Coupé von 1954.
Wenn Mercedes-Benz jetzt zum 60. Geburtstag des SL in den Firmenfundus greift und den restaurierten Urahn der SL-Baureihen, den Rennsportwagen „300 Super Leicht“ der Baureihe W 194 von 1952, präsentiert, dann wird die Designtradition der Fünfzigerjahre gefeiert, der weiland futuristische Geist von Geschwindigkeit und Motorisierung: Der W 194, so heißt es in Stuttgart, begründe mit seiner „schlanken, eleganten, mattsilberfarbenen Karosserie“ und den kurzen, an Einstiegsluken erinnernden Flügeltüren den „Mythos SL“ und verkörpere „hohe Fahrgeschwindigkeit quasi schon im Stand“. Eine Form, die für Pfeiffer sportwagentypisch ist und ewig gültige Proportionen verkörpert: „Lange Haube, niedriger Aufbau und kurzes Heck.“ Ganz so wie auch ein anderer Idealtypus des Sportwagens, der Jaguar E-Type, bei dem es Jaguar versäumt habe, „einen Nimbus zu schaffen, und es bis heute trotz zahlreicher Versuche nicht geschafft hat, an diesen Erfolg anzuschließen“.
Weitaus erfolgreicher als das Urmodell war der eigentliche „Flügeltürer“ von 1954, der noch heute Auto-Verrückte wie Laien in Entzücken versetzt. Mit Retro habe das wenig zu tun, sagt Lutz Fügener, Professor für Transportation Design an der Hochschule Pforzheim. Die zwanglose Verbindung von Kraft und Eleganz mache den SL zum Klassiker des Automobildesigns. Funktionalität und Ästhetik greifen beim SL ineinander. Die Form ist durchgehend ingenieurtechnisch motiviert: Selbst die hoch ansetzenden Flügeltüren, so Fügener, seien keine „verrückte Designeridee“, sondern eine Konsequenz des Rohrrahmens, der im Schwellenbereich extrem voluminös ausfällt, um das Auto bei hohen Geschwindigkeiten verwindungssteif zu halten.
Schrecken der Retro-Freunde
Weitaus erfolgreicher als das Urmodell war der eigentliche „Flügeltürer“ von 1954, der noch heute Auto-Verrückte wie Laien in Entzücken versetzt. Mit Retro habe das wenig zu tun, sagt Lutz Fügener, Professor für Transportation Design an der Hochschule Pforzheim. Die zwanglose Verbindung von Kraft und Eleganz mache den SL zum Klassiker des Automobildesigns. Funktionalität und Ästhetik greifen beim SL ineinander. Die Form ist durchgehend ingenieurtechnisch motiviert: Selbst die hoch ansetzenden Flügeltüren, so Fügener, seien keine „verrückte Designeridee“, sondern eine Konsequenz des Rohrrahmens, der im Schwellenbereich extrem voluminös ausfällt, um das Auto bei hohen Geschwindigkeiten verwindungssteif zu halten.
Die sportliche Stromlinienform und die Ingenieurleistung made in Germany haben die SL-Baureihe zur Erfolgsgeschichte gemacht, auch wenn die Nachfolger den Urtyp uminterpretierten: Die Sportvariante des Typs 190 SL von 1955 hält sich noch an die muschelförmige Karosserie, der 230 SL von 1963 hingegen, die „Pagode“, bricht mit den gewölbten organischen Formen und folgt entschlossen den puristischen Vorgaben des International Style: Die Karosserie ist schnörkellos, zeigt viele glatte Flächen; das nach innen gebogene Dach ruht auf filigranen Säulen, die großen Scheiben lassen den 230er hell und leicht wirken.
Setzte die „Pagode“ vor allem auf avancierten Stil, so ging es den Mercedes-Designern beim SL der Siebziger-, Achtzigerjahre um Kraft, Komfort und Sicherheit. Er wirkt massiver, voluminöser, repräsentativer – und passt sich damit, wie Fügener sagt, dem „Größenwachstum der Mercedes-Modellpalette“ an. Ein Achtzylinderaggregat unter der Motorhaube, vorbildliches Crashverhalten und integrierte, von innen steuerbare Rückspiegel machten ihn, so Paolo Tumminelli, zum „beständigsten, erfolgreichsten SL der Geschichte“, vor allem in Amerika: Der „American Gigolo“ Richard Gere und die „Dallas“-Damen Pam und Sue Ellen Ewing fuhren, natürlich, mit dem Cabrio SL vor.
Zeugen der Vergangenheit
Heute ist er mit seiner durchlaufenden Stoßstange und den großen Heckleuchten samt ihren gerippten, schmutzabweisenden Gläsern der Schrecken der Retro-Freunde. „Sie können heute alles verkaufen“, meint Tumminelli, „außer Funktionalität.“ Autokunden erwarten inzwischen mehr als nur ein Nutzenversprechen. Sie kaufen Gefühl, Allüren und Lebensstile. Deshalb verzichtet auch der neue Fiat Panda auf die horizontal gerippten Schutzbleche und wartet stattdessen mit einer Chromspange à la Fünfzigerjahre über dem Kühlergrill auf. „Form follows emotion“, heißt die neue Parole.
Peter Pfeiffer will dennoch nicht ausschließen, dass die heutige Kindergeneration die Keilformen der Achtziger lieben lernt, die sie selbst nicht erlebt hat, sondern später als Zeugen der Vergangenheit wahrnimmt. Dass mag unwahrscheinlich klingen, doch Ernest Hemingway gibt Schützenhilfe: „Das Merkwürdige an der Zukunft ist wohl die Vorstellung, dass man unsere Zeit einmal die gute alte Zeit nennen wird.“