Mir bleibt die Luft weg, für einen Augenblick sehe ich nur den Himmel. Olivier hatte mich zwar vorgewarnt, dass die Beschleunigungswerte "exceptionnel" seien und er mich deshalb nicht sofort ans Steuer lassen könne. Aber als der ehemalige Rennfahrer und heutige "pilote officiel" von Bugatti S.A.S. zu Demonstrationszwecken auf einer einsamen Landstraße in den Bergen hinter Tarragona seinen rechten Fuß für ein paar Sekunden etwas kräftiger aufs Gaspedal drückt, kriege ich schon ein wenig Panik: Mein Kopf fliegt nach hinten, mit dem Anderthalbfachen der Erdbeschleunigung werde ich in den Ledersitz gepresst.
Um mich ist ein infernalisches Brüllen, als ob ich an der Spitze einer Rakete ins All starte. Während ich noch nach einem Griff taste und mich mit den Füßen gegen das Bodenblech stemme, um Halt zu finden, bricht Olivier das Beschleunigungsmanöver auch schon wieder ab: Dort, wo sich eben noch ein Hain aus Olivenbäumen bis zum Horizont zu strecken schien, sind nun Häuser einer kleinen Siedlung aufgetaucht, urplötzlich, wie eine Fata Morgana in der Wüste.
Der Name ist Programm
Vitesse, auf Deutsch: Geschwindigkeit, heißt die neueste Top-Ausführung des Bugatti Veyron 16.4 Grand Sport, des derzeit schnellsten, stärksten und auch teuersten Roadsters der Welt. Sein Name ist Programm: Tempo 100 erreicht er im ersten Gang schon nach 2,6 Sekunden, 300 km/h nach 16 Sekunden. Und die Höchstgeschwindigkeit ist, wenn man das Hardtop aufsetzt, erst bei 410 km/h erreicht. Soll das Dach offen bleiben, muss der Fahrer sich mit 375 km/h begnügen. Zum Vergleich: In der Formel-1-Weltmeisterschaft betrug die höchste jemals gefahrene Geschwindigkeit "nur" 369,9 km/h.
"Unserem Team ist es gelungen, den weltweit stärksten Pkw-Antrieb unter Berücksichtigung aller fahrdynamischen und aerodynamischen Parameter in einen offenen Sportwagen zu transferieren", freut sich Noch-Bugatti-Chef Wolfgang Dürheimer bei der Vorstellung des Vitesse. Die Leistungsdaten des Bugatti sind in der Tat eindrucksvoll bis atemraubend: 1200 Pferdestärken oder 882 Kilowatt Leistung haben die Ingenieure mobilisiert, um den trotz der Verwendung von reichlich Kohlefasern und anderen Leichtbauteilen immer noch knapp zwei Tonnen schweren Roadster zum allradgetriebenen Straßengeschoss werden zu lassen.
Genug Abwärme um Häuser zu heizen
50 000 Liter Luft pro Minute atmen die vier riesigen Turbolader unter Volllast ein, um die 16 Kolben des 490 Kilo schweren Motors zu befeuern. Vier Benzinpumpen saugen dabei pro Stunde 264 Liter des edelsten Kraftstoffs der Sorte Superplus in den Brennraum. Zumindest theoretisch. Praktisch müssen sie die Arbeit schon nach etwa 20 Minuten Vollgas einstellen – dann nämlich haben sie den 100 Liter fassenden Tank leergesoffen. Der Bugatti wird dabei zum Kraftwerk: Mit den über 800 Kilowatt Abwärme, die von den Hochleistungskühlern verarbeitet werden, könnte man angeblich 40 Einfamilienhäuser heizen.
Für Klimafreunde ein Graus
Klimabesorgte Zeitgenossen werden sich spätestens hier mit Grausen abwenden. Allein, der Vitesse ist nicht mit heutigen Maßstäben zu messen und schon gar nicht mit den Maßstäben von Normalverdienern. Solche Traumwagen bewegt man nicht, um möglichst schnell, möglichst komfortabel von A nach B zu kommen – dafür sind Flieger und Schnellzug wesentlich besser geeignet. Sie zählen vielmehr zu jenen exklusiven Vehikeln, mit denen Menschen, die es sich leisten können, Breschen in den Alltag schlagen – und dem Augenblick besonderen Glanz verleihen. Jede Fahrt mit einem solchen Auto wird zu einer Erfahrung gesteigerter Lust, wird zu einem Fest des Lebens.
Extras treiben den Preis
Der Eintrittspreis zu dieser Party ist hoch: Unter 1,69 Millionen Euro netto geht gar nichts, nicht einmal mit VIP-Rabatt. Und mit ein paar Extras wie etwa Karosserieteilen aus blauem Sichtcarbon (Aufpreis 200 000 Euro), mit Horseshoe-Felgen, Bremssätteln, Tank- und Öldeckel in Wagenfarbe, Stepparbeiten in der Kopfstütze und noch ein paar anderen netten Sonderanfertigungen eilt der Preis rasch der Schwelle von zwei Millionen Euro entgegen. Zwei Millionen Euro! Für das Geld könnte man eine Villa am Starnberger See erwerben oder ein Apartment am Hyde Park, man könnte einen hübschen Lebensabend unter Palmen verbringen, Gold horten oder bei einer Kunstauktion das eine oder andere Meisterwerk ersteigern.
Der teuerste Roadster der Welt
Und der Kaufpreis ist noch nicht alles. Auch die Unterhaltskosten sind dazu angetan, Normalsterblichen den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben. Schon die Vollkaskoversicherung schlägt hierzu- lande je nach Schadensfreiheitsrabatt, Regionalklasse und Selbstbeteiligung mit Beträgen zwischen 25 000 und 35 000 Euro zu Buche. Und dann erst die Wartung: Ein Bugatti muss alle 4000 Kilometer zur Inspektion, alle 16 000 Kilometer wird der Wechsel sämtlicher Felgen empfohlen. Allein ein Satz der Spezialreifen von Michelin (mit einer Lebensdauer von gerade mal 10 000 Kilometern) kostet rund 25 000 Euro, die große Jahresinspektion mit rund 16 000 Euro hat das englische Magazin "Autocar" ermittelt. Inklusive Sprit kamen die Experten auf jährliche Kosten von umgerechnet rund 250 000 Euro. Da könnte aus einem Traum schnell ein Albtraum werden. Jedenfalls für mich.
Ein Auto pro Woche
Doch offenbar gibt es Menschen, die solche Summen nicht schrecken. Die Wirtschafts-, Banken- und Schuldenkrise wirft jedenfalls bislang noch keine Schatten auf die Absatzzahlen von Bugatti, im Gegenteil: Mit einem Auftragsbestand von 42 Fahrzeugen ist die Bugatti-Manufaktur im elsässischen Molsheim noch bis zum Mai 2013 gut ausgelastet – bei der Fertigstellung von einem Auto pro Woche.
Und die Nachfrage ist weiterhin groß, wie Vertriebschef Stefan Brungs erzählt: Von der auf 150 Exemplare limitierten Serie des offenen Bugatti Veyron seien schon 59 Exemplare verkauft. Seit der Vorstellung der Top-Version Vitesse im März auf dem Genfer Autosalon habe die Nachfrage sogar angezogen: "Für gewisse Menschen sind exklusive Autos eine besonders schöne Form der Geldanlage und Krisenwährung", glaubt der Marketingstratege.
Je teurer desto besser
Bei der Frage nach Kunden wird Brungs freilich ganz schmallippig – Diskretion ist bei derlei Geschäften Ehrensache. So viel ist immerhin bekannt: Ursula Piëch, die Ehefrau des VW-Aufsichtsratschefs Ferdinand Piëch, besitzt den Bugatti Veyron mit der Fahrgestellnummer sieben. Und der russische Wodka-Oligarch und Privatbanker Roustan Tariko zahlte allein 200 000 Dollar, um auf der Warteliste nach oben zu rutschen und als erster Russe einen Bugatti in seine Garage stellen zu können. Formel-1-Weltmeister Jenson Button besitzt angeblich einen, Modedesigner Ralph Lauren ebenso wie Filmstar Tom Cruise. Auch Fußballkicker Tim Cahill vom FC Everton, Autosammler Jay Leno und US-Rapper Jay-Z sollen Bugatti-Besitzer sein – offizielle Bestätigungen für derlei Gerüchte gibt es in Molsheim freilich nicht.
Auch in Fernost wächst die Fangemeinde: Zwei der in diesem Jahr verkauften Grand Sport gingen nach China. Die Verkaufsgespräche dort, so lässt sich heraushören, machen den Bugatti-Repräsentanten viel Freude: "Chinesen und auch Inder gehen über den Preis – je teurer das Auto, desto besser."
Eine Gesellschaft gegen den Genuss
Die Sonderversion des Bugatti Veyron Grand Sport ist, so gesehen, ein bewusst platziertes Zuckerl für Leute, die eigentlich schon alles haben: Traumvilla, Motoryacht, Business-Jet und Kunstsammmlung, diverse andere Luxusautos – und die einen Bugatti "brauchen", um auf einsamen Landstraßen oder abgesperrten Rennstrecken mehr oder minder ungehemmt der Lust schneller Fortbewegung zu frönen.
Zumindest in unseren Breiten brauchen solche Anhänger des postmodernen Hedonismus inzwischen eine Menge Mut, um die Maske der Bescheidenheit abzulegen und eine private Obsession auszuleben: Die Gesellschaft hat dafür gesorgt, dass Genüsse wie eine üppige Mahlzeit, eine Zigarre oder ein schnelles Auto inzwischen als unvernünftig, ungesund oder moralisch indiskutabel gelten. „Ein Auto mit mehr als 200 PS braucht kein Mensch“, hatte erst am Morgen ein Kommentator im Radio gepredigt und für ein neues Verkehrskonzept plädiert, das stärker auf Fahrräder, Leihwagen sowie Busse und Bahnen setzt. Tempo 400 ist bei ihm nicht mehr vorgesehen.
"Statt zu fragen, wofür wir leben, fragen wir uns nur noch, wie wir möglichst lange leben beziehungsweise überleben können – gemäß nunmehr völlig fraglos verabsolutierten Prinzipien wie Gesundheit, Sicherheit, Nachhaltigkeit und vor allem Kosteneffizienz", meint der Wiener Philosoph Robert Pfaller in seinem Buch "Wofür es sich zu leben lohnt".
Sensibles Gaspedal
Insofern ist wahrscheinlich schon eine Testfahrt mit dem Vitesse ein grober Verstoß gegen die guten Sitten, selbst wenn sie abseits des normalen Straßenverkehrs auf einem abgesperrten Hochgeschwindigkeitskurs stattfindet. Aber wenigstens einmal will ich es riskieren, einen Traum ausleben. Olivier, mein offizieller Beifahrer, hat mir nach der kurzen Einweisungsfahrt endlich den Platz hinterm Lenkrad überlassen. Auf der Fahrt über Landstraßen und die Autobahn kostet es mich einige Mühe, die gesetzlich vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit einzuhalten – das Gaspedal reagiert extrem sensibel auf die Bewegungen meines rechten Fußes. Kurz angetippt – und schon scheint im Display des Drehzahlmessers des Tachometers das Wort "Handling" auf. Der Wagen, klärt mich Olivier auf, presst sich dann noch tiefer auf die Fahrbahn und stellt den Heckflügel steiler. Ganz automatisch, bei Tempo 180. 180 km/h auf der Landstraße? Lieber nicht. Also biegen wir mit unserem blauen Boliden auf ein gesichertes Gelände in der Nähe von Tarragona ab, wo die Autoindustrie normalerweise ihre neuen Autos testet.
Beste Voraussetzungen zum Vollgasfahren
Hier darf ich, soll ich den Bugatti endlich von der Leine lassen. Der 7560 Meter lange Hochgeschwindigkeitskurs, erfahre ich bei der Einweisung, verbindet zwei jeweils 2000 Meter lange Geraden durch zwei Steilkurven mit je 472 Meter Radius. Die Kurven sind so stark überhöht, dass bei Tempo 200 auf der äußersten Spur die Resultierende aus Flieh- und Normalkraft senkrecht zur Straße wirkt. Mit anderen Worten: beste Voraussetzungen zum Vollgasfahren. Olivier zeigt, wie es geht.
Dann bin ich dran. Ein Tritt aufs Gaspedal und der Vitesse saust unter Gebrüll davon. 250 km/h, 300 km/h, 325 km/h: Ein Jumbojet würde jetzt abheben, der Bugatti aber bleibt ruhig in der Spur. Kurz vor der Steilwandkurve heißt es Gas rausnehmen, mehr als 200 km/h sind hier nicht erlaubt. Aber ausgangs der Kurve stehe ich schon wieder voll auf dem Gaspedal. Jetzt will ich wissen, was geht. Doch mehr als 341 km/h erlaube ich mir dann doch nicht: Die Vernunft siegt. Die Piste wird bei dem Tempo schmal wie ein Strich und das Ende der Geraden ist nach einem Wimpernschlag erreicht. Aus der Traum, der Alltag hat mich wieder.