Bionik Die Natur als Erfinder

Gefühlvolle Roboter, selbstschärfende Messer, hochsensible Feuermelder und Fahrzeuge, die Rad schlagen: Immer öfter finden Ingenieure, Mediziner und Forscher Lösungen für technische Probleme in der Natur.

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Die Radlerspinne Tabacha...

Wenn Ingo Rechenberg in die Sahara fährt, hat das mit Urlaub wenig zu tun. Er forscht. Zwei bis drei Monate pro Jahr robbt der Professor aus Berlin in den Dünen des Erg Chebbi im südlichen Marokko durch den Wüstensand. Tagsüber lauert er den Wüstensandfischen auf. Diese gut 20 Zentimeter langen Echsen haben es dem gelernten Flugzeugbauer besonders angetan, denn die Tiere gleiten mit ihrer blitzglatten Schuppenhaut flink und scheinbar mühelos durch den heißen Sand. Nachts rennt Rechenberg dann mit einem Maßband Spinnen hinterher, die zur Flucht eine sehr merkwürdige Art der Fortbewegung wählen: Die handtellergroßen Tiere strecken alle acht Beine aus und rollen wie ein Rad bis zu 15 Meter weit auf die nächste Düne: „Per Radschlag sind sie doppelt so schnell wie zu Fuß“, sagt Rechenberg.

...war Vorbild für Weltraummobile

Rechenberg ist allerdings kein Biologe. Er geht in die Wüste, um von den Tieren zu lernen. Er will wissen, wie sie in dieser unwirtlichen Umgebung überleben. Diese Strategien will er auf technologische Entwicklungen übertragen. Bionik nennen Experten diese Disziplin, die Biologie und Technik vereint. Sie erlebt quer durch alle High-Tech-Branchen gerade einen unglaublichen Boom: von der Flug- und Fahrzeugindustrie über die Materialwissenschaften bis hin zu Robotik und Automationstechnik. Die Evolution habe Lösungen hervorgebracht, auf die Menschen nie kämen, meint Rechenberg, der seit 1972 an der TU Berlin Bionik und Evolutionstechnik lehrt: „Wer würde schon ein Fahrzeug Rad schlagen lassen?“

Der Forscher hat genau das ausprobiert: Sein Mini-Roboter Tabbot bewegt sich mit einer Art Dauer-Purzelbaum fort. Und Rechenberg schwebt vor, ihn eines Tages als Fahrzeug auf dem Mond einzusetzen. Denn er hat einen großen Vorteil: Er kippt nicht um. Ein Prototyp drehte im Sommer seine ersten Runden über unwegsames, aber noch ganz irdisches Gelände.

Feuer aufspüren

Gerade wenn Entwickler vor schier unlösbaren Problemen stehen, hilft der Blick in die Trickkiste der Natur. Sie hat Konzepte parat, die scheinbar Unmögliches möglich machen: Geckos, die kopfüber an der Decke entlang spazieren, Käfer, die Brände wahrnehmen, bevor sie ausgebrochen sind, Küchenschaben, deren Panzer den Absturz aus großer Höhe übersteht, und Ratten, die Beton durchnagen können, ohne dass ihre Zähne stumpf werden.

All das wollen Forscher nun kopieren: Sei es als ultrastarke Haftfolien, als Brandmelder, als aufprallsichere Karosserien oder als Messer, die sich beim Schneiden von alleine schärfen.

Zwar machen Konstrukteure seit jeher Anleihen bei der Natur, beim Fliegen, Schwimmen oder Tauchen. So diente die Stromlinienform von Dorsch und Makrele schon Ende des 16. Jahrhunderts als Vorbild des Rumpfes der wendigen Baker-Galeone, dem Kriegsschiff, mit dem die Briten zur weltbeherrschenden Seemacht aufstiegen. Und bei den Gleitseglern des Flugpioniers Otto Lilienthal stand Ende des 19. Jahrhunderts der Storch Pate. Lilienthal hatte erkannt, dass der gewölbte Storchenflügel im Luftstrom Auftrieb erfährt. Nur so ist es möglich, die Erdanziehungskraft zu überwinden und zu fliegen.

Vorbild für die Oberfläche von Solaranlagen war die Haut der Sandfische Quelle: Laif

Doch damals war es nur das grobe Äußere, das imitiert wurde. Heute lassen sich dagegen auch biologische Strukturen bis auf den milliardstel Millimeter genau nachbauen – im sogenannten Mikro- und Nanometerbereich.

Das beste Beispiel: der Lotus-Effekt. Schon in den Siebzigerjahren hatte der in Bonn lehrende Botaniker Wilhelm Barthlott entdeckt, dass viele Pflanzenblätter eine stark selbstreinigende Wirkung besitzen: Das Wasser perlt von ihren mit Wachs überzogenen Oberflächen samt Schmutzpartikeln ab. Doch erst 20 Jahre später konnten Forscher den Effekt imitieren.

Der Grund: Die Nanostruktur der Blattoberfläche muss ein bestimmtes Muster besitzen, damit der Schmutz nicht haften bleibt. Seit diese Strukturen sich mit dem Rasterelektronenmikroskop sichtbar machen ließen, konnten die Wissenschaftler den Effekt zwar erklären. Doch bis die Entwickler ihn erfolgreich auf Lacke, Oberflächenbeschichtungen und Farben für Autos, Häuser, Geschirr oder Kloschüsseln übertragen hatten, dauerte es bis Ende des vorigen Jahrtausends.

Mit Mikrorillen gegen Staub

Auch Bioniker Rechenberg begegnete seinem Wüstensandfisch schon vor 16 Jahren zum ersten Mal. Beduinen empfahlen ihm damals allerdings, die Echse zu Pulver zu zerreiben – als Potenzmittel. Der Ingenieur interessierte sich aber schon 1994 mehr für die besonderen Eigenschaften der Haut des Reptils.

Im Labor stellte er fest: Das Tier ist glatter als polierter Stahl und besitzt einen unglaublich niedrigen Reibungswiderstand. Die Schuppenhaut ist nämlich übersät mit feinen Querrillen – Rechenberg nennt sie Abstreifkämme –, auf denen Sand und feinere Tonpartikel einfach abrutschen. Wie beim Lotusblatt sind es mikrokleine Strukturen, die den Effekt verursachen.

Wozu solch eine superglatte Oberfläche nützlich sein kann, wurde Rechenberg klar, als er vom Wüstenstrom-Projekt Desertec hörte: Dabei sollen in einigen Jahrzehnten riesige solarthermische Kraftwerke in der Sahara Strom für Europa produzieren. Das Problem: „Wenn die Solarspiegel dort ungeschützt stehen, sind sie nach kurzer Zeit blind“, sagt Rechenberg.

Das Problem sind weniger die Sandkörner, die vom Wind umhergeweht werden und an den Spiegeln kratzen, als die feinen Tonmineralien, die zwischen den Sandkörnern mitfliegen und sich wie eine Lackschicht auf die Spiegeloberflächen absetzen. Wie die Sandfischhaut das Problem lösen kann, hat Rechenberg im vergangenen Sommer getestet: Der Freiburger Nano-Oberflächen-Spezialist Holotools hatte eine Kunststofffolie mit entsprechenden Mikrorillen im Programm. Sie ist ursprünglich den Längsrillen in der Haihaut nachempfunden, wo diese für ein möglichst schnelles und verwirbelungsfreies Vorbeigleiten des Wassers beim Schwimmen sorgen. Solche bionischen Riblet-Folien werden seit einigen Jahren auf die Tragflächen von Flugzeugen geklebt, damit die Luft leichter vorbeigleitet. Denn das spart Treibstoff.

Rechenberg wollte Wind und Partikel aber nicht sanft vorbeigleiten lassen, sondern abstreifen. Er brauchte keine Längsrillen wie beim Hai, sondern Querrillen wie beim Sandfisch. Also drehte er die Folie um 90 Grad und klebte sie quer zur Windrichtung auf mehrere Versuchsglasscheiben. Die stellte er eine Woche in den Wüstenwind. Das Ergebnis sei fantastisch gewesen: „Mit Folie waren die Scheiben klar und durchsichtig.“ Gläser ohne Folie waren dagegen stumpf und hellgelb vom Wüstenstaub, sagt der Forscher.

Der Rüssel von Elefanten...

Um die vielen Lösungsansätze, die die Natur bietet, auch wirtschaftlich nutzbar zu machen, gründete Rudolf Bannasch, ein Rechenberg-Mitarbeiter, im Jahr 2000 das Unternehmen Evologics aus dem Bionik-Lehrstuhl aus. Mit einer Idee, die vom Institut auf die Firma überging, sind die Berliner nun indirekt sogar Mitgewinner des Zukunftspreises 2010 geworden. Denn der ging im Dezember an ein bionisches Produkt des Automationsexperten Festo aus dem schwäbischen Esslingen: einen sehr flexiblen Roboterarm nach dem Vorbild des Elefantenrüssels. Der ist flexibel, überträgt hohe Kräfte und kann dennoch präzise zugreifen. Damit er das auch gefühlvoll tut, wurde das von Evologics entdeckte Fischflossenprinzip auf die Finger des Roboterrüssels übertragen. Sie reagieren genauso auf Druck, wie es eine Fischflosse tut.

...ist Vorbild für Roboterarme

Der Trick dabei: Die biegsamen Flossenstrahlen weichen in der Strömung dem Wasserdruck nicht aus, sondern stellen sich ihm entgegen. Diesen sogenannten Flossen-Strahl- oder Fin-Ray-Effekt hatten Bannasch und seine Mitarbeiter in eine Robotiksteuerung eingearbeitet. Die Konstrukteure des Roboterherstellers Festo und Forscher des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung in Stuttgart passten sie in den Rüsselgreifer ein.

Der Effekt: Der mit Druckluft gesteuerte sogenannte Fin-Gripper umschließt mit seinen vier Strahlenfingern aus biegsam-weichem Polyamid den Gegenstand, den er greifen soll, und passt sich exakt seiner Form an. Damit wird der Druck sanft und gleichmäßig verteilt. Ein rohes Ei aufzuheben oder ein Glas Wasser zu halten ist für den Greifer kein Problem. So kann er Obst und Schokoladeneier packen und sortieren, ohne Druckstellen oder Schoko-Bruch zu produzieren. Bisherige Greifer hatten dagegen wie eine Beißzange feste Druckpunkte, an denen sie zulangten.

Ein beweglicher Roboterarm, der spürt, wenn er zu fest zudrückt, kann als Montageautomat in der Fertigung, aber auch im Haushalt oder bei der Obsternte eingesetzt werden. Selbst zur Altenpflege könnte er taugen. Egal, was er tut, Manieren hat er: Reicht man ihm die Hand, erwidert er sanft den Händedruck.

Wie kaum ein anderes Unternehmen setzt Roboterspezialist Festo auf die Bionik und hat entsprechende Netzwerke und Ideenwerkstätten zusammen mit führenden Forschern aufgebaut. Für den Festo-Chef Eberhard Veit läutet der bionische Handling-Assistent auch ein neues Zeitalter bei der Zusammenarbeit von Mensch und Maschine ein, die bisher von Not-Aus-Schaltern oder Schutzabdeckungen geprägt ist. Der neue Roboter sei nicht nur sanft zu Eiern oder Äpfeln, er sei auch für Menschen ungefährlich, sagt Veit: „Erstmals ist eine völlig gefahrlose Kooperation von Mensch und Maschine möglich.“

Das Vorbild für diesen Kletterroboter ist eine Ratte

Genau darauf setzt auch der Mediziner Hartmut Witte, der das Fachgebiet Biomechatronik am Institut für Mikrosystemtechnik, Mechatronik und Mechanik an der Technischen Universität Ilmenau leitet. Nach dem Vorbild der Ratte hat er im Projekt InspiRat mit dem Ilmenauer Sensorik- und Robotikunternehmen Tetra einen nur 1,1 Kilogramm leichten Kletterroboter gebaut, der selbstständig durch Kabelschächte kriecht und mithilfe einer Minikamera Schäden an Leitungen sucht.

Seit dem von einem Kabelbrand verursachten Großbrand des Düsseldorfer Flughafens würden solche Inspektionen viel ernster genommen, sagt Witte, doch sehen die Menschen in die meist nur armdicken Schächte nicht weit genug hinein. Das ist die Stunde der Kletterroboter. Ohne sie bliebe oft nur, die Schächte aufzubrechen oder aufzuschrauben.

Empfindlich wie echte Haut

Wittes Mitarbeiter entwickeln auch medizintechnische Hilfsmittel. Etwa eine der Haut nachempfundene Bettunterlage, die das Wundliegen von Patienten verhindern soll. Bisher gibt es Unterlagen, die sich nach einem vorgegebenen Muster immer wieder aufpumpen und dann Luft ablassen. Das neue Modell soll wie echte Haut fühlen können und bestimmte Parameter in der Haut des Patienten messen, etwa die Durchblutung. Ist diese schlecht, droht Wundliegen, also muss die Matte genau hier mit ihrem massierenden Auf und Ab beginnen.

Dass es so lange gedauert hat, bis Wissenschaftler, Techniker, Mediziner und Manager die biologischen Vorbilder neu entdeckten, liegt zu großen Teilen an der technischen Machbarkeit von miniaturisierten Nachbauten.

Aber das ist nicht der einzige Grund, meint der in St. Gallen lehrende Management-Vordenker Fredmund Malik. Es habe auch mit einer gewissen Überheblichkeit der Menschen gegenüber der vermeintlich tumben Natur zu tun, die während der Industrialisierung entstanden sei: „Erst die sich häufenden Rückschläge der jüngsten Zeit – sei es auf technischem, wirtschaftlichem oder medizinischem Gebiet – haben die Frage aufgeworfen, wie es die Natur über so viele Jahrmillionen geschafft hat, nicht nur ihre Existenz zu sichern, sondern sich zudem permanent zu immer höheren Lebensformen weiterzuentwickeln.“

Der Schwarzekiefernprachtkäfer ist Vorbild für Feuermelder

Im echten Leben begegnen Bionik-Forscher dieser Überheblichkeit noch immer, klagt Jürgen Bertling, Leiter des Geschäftsfelds Spezialwerkstoffe am Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik in Oberhausen. Er entwickelt nach dem Vorbild von nachwachsenden Nagetierzähnen Messer, die sich selbst schärfen. Wenn er seinen potenziellen Kunden, den Messerherstellern oder Werkzeugmaschinenbauern, von diesen im Wortsinne rattenscharfen Messern erzählt, wird er zunächst belächelt. Das sei ja niedlich, heißt es dann immer.

Mehr Schärfe spart Energie

Wenn der Chemietechnik-Ingenieur dann aber erklärt, wie die Kombination aus einer harten und einer weichen Schicht die Schneidkante bei jedem Biss schärft – und wie sich das Konzept in Stahl und Keramik übersetzen ließe, schrecken die meisten zurück, weil die Natur angeblich so komplex sei, dass sie sich ohnehin nicht nachbauen lasse.

Doch Bertling ließ sich nicht schrecken. Er hat inzwischen ein Messer für Industriemaschinen entwickelt, das Kunststoffteile, Gummidichtungen, Spanplatten oder Metall schneidet. Bisher müssen diese oft nach wenigen Stunden ausgetauscht werden, weil sie stumpf sind. Beim Tausch geht wertvolle Maschinenlaufzeit verloren. Bertlings Messer halten viel länger.

Anfangs werden sie beim Schneiden zudem tatsächlich schärfer. Das spart Energie. Klassische Messer beginnen nach kurzer Zeit eher zu reißen und zu hacken, statt zu schneiden. Wie bei einem stumpfen Küchenmesser muss dann auch die Maschine mehr Druck aufbauen, um das Material klein zu kriegen. Der Energieverbrauch steigt.

Im Vergleich zeigte sich: Bertlings Messer wurden während ihrer Gesamtlebenszeit um 16 Prozent schärfer, klassische Messer dagegen um 200 Prozent stumpfer. Und noch ein positiver Effekt: „Unsere Schneidekanten sehen bis zum Schluss sauber und glatt aus“, sagt Bertling.

Der Forscher hat allerdings ein gravierendes Problem: Die meisten Messerhersteller haben gar kein Interesse an solchen langlebigen Materialien, die ihren Messer-Absatz schmälern könnten. Doch Bertling ist überzeugt, dass solche Innovationen sich zwar eine Zeit lang ignorieren ließen, aber „aufhalten lassen sie sich nicht“.

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