Es ist ein Unfall, wie er täglich Hunderte Male auf regennassen Straßen passiert: Ein Auto rutscht beim Bremsen von der Fahrbahn. Ergebnis: Der Stoßfänger vorn ist eingedellt und zerkratzt.
Glücklicherweise hat der Fahrer eine Vollkasko-Versicherung abgeschlossen, die auch bei selbst verschuldeten Unfällen für die Schäden am Auto aufkommt. Und so sieht man den Crashpiloten nach einigen Schreckminuten mit einem Smartphone in der Hand filmend um seinen ramponierten Wagen herumlaufen.
Kurz darauf erfährt der Autofahrer über sein Mobiltelefon nicht nur, dass die Reparatur 1931,48 Euro kosten wird. Er erhält auch einen Link zu einer Fachwerkstatt, die den Schaden zu diesem Betrag reparieren würde. Alternativ kann sich der Versicherte die Schadenssumme innerhalb von 48 Stunden auf sein Girokonto überweisen lassen. Er muss dann auf seinem Handy das blaue Feld mit der Aufschrift „Auszahlung veranlassen“ antippen.
Möglich macht die schnelle, volldigitale Abwicklung des Unfallschadens eine App, die ControlExpert aus Langenfeld bei Düsseldorf entwickelt hat und die seit Kurzem große Kfz-Versicherer wie Allianz, DEVK oder Württembergische zur Schadensregulierung einsetzen. „Früher lag die Bearbeitungszeit eines solchen Schadens bei drei bis vier Wochen – unsere App reduziert sie auf zwei bis vier Stunden“, sagt Gerhard Witte.
Der Ingenieur hat ControlExpert 2002 gegründet und mit Partner Kai Siersleben einen weltweit agierenden Dienstleister für digitale Schadensbearbeitung und Kostenprüfung bei Autoversicherern, Flottenbetreibern und Leasinggesellschaften geformt. 2015 erwirtschaftete das Unternehmen mit 300 Mitarbeitern mehr als 30 Millionen Euro Erlös und einen Nachsteuergewinn von deutlich über einer Million Euro.
Witte („Ich bin ein Spielkind“) hat die Chancen, die sich für seinen Berufsstand durch Elektronifizierung und Digitalisierung ergeben, schon als selbstständiger Kfz-Sachverständiger in den Achtzigerjahren erkannt und genutzt: Um Unfallhergänge schneller als seine Wettbewerber rekonstruieren zu können, schrieb er für seinen Apple-Rechner ein „Great Automatic Gutachten Manager“ getauftes Computerprogramm. Damit ließen sich Luftbilder vom Unfallort, die er von seinem kleinen Privathubschrauber aus schoss, systematisch auswerten: „Ein Gutachten war damit nach spätestens zwei Tagen fertig.“ Später entwickelte er ein Programm, mit dem sich für die staatliche Abwrackprämie blitzschnell der exakte Wert von Altfahrzeugen ermitteln ließ. Ein anderes half bei der Analyse von Glasschäden an Pkws – es wurde zum Nukleus von ControlExpert.
Denn Witte hatte eine Marktlücke entdeckt: Täglich flattern den Kasko-Versicherungen in Deutschland allein 4000 Rechnungen über Glasreparaturen ins Haus – nach Stein- oder Vogelschlag, aber auch nach mutwilliger Zerstörung. Alle zu überprüfen überfordert die Versicherer, zumal sie der Wettbewerbs- und Kostendruck zwingt, Personal abzubauen und Prozesse zu straffen.
Check mit künstlicher Intelligenz
Als Witte mithilfe seines Programms auch noch nachweisen konnte, dass etwa 90 Prozent der Reparaturrechnungen Fehler aufwiesen und sich durch eine vollautomatische Kontrolle von Kostenvoranschlägen und Rechnungen im Schnitt zwölf Prozent der Ausgaben sparen ließen, hatte ControlExpert den Durchbruch geschafft.
Eine Wissensdatenbank, die täglich um ein Volumen von einem Terabyte oder 15 000 Dossiers wächst, ermöglicht es dem Unternehmen, in einer Vielzahl von Feldern Prozesse und Abrechnungen mithilfe künstlicher Intelligenz zu prüfen – Werkstattrechnungen, Schadensgutachten, auch Tankquittungen von Flottenbetreibern und Dienstwagennutzern. „Wir haben uns damit nicht nur Freunde gemacht“, sagt Witte. Zu den Kritikern seines „Drückergewerbes“ (Branchenspott) zählen Kfz-Sachverständige, die konventionell Unfallschäden begutachten, oder Werkstattbetreiber, die früher fünf Liter Motoröl berechnen konnten, obwohl der Motor des Autos nur vier Liter fasst.
Der Aufwand, den der Mittelständler dafür treibt, ist enorm. In Langenfeld sowie am zweiten Standort in Hamburg arbeiten unabhängig voneinander Rechenzentren, die aufwendig gegen Hackerangriffe und Stromausfälle geschützt sind. Zusätzlich prüfen 200 Kfz-Meister und Sachverständige Schadensbilder und Kostenvoranschläge. Wo nötig, werden anschließend kritische Einzelpositionen über das PostMaster-System geklärt – eine digitale Kommunikationsplattform, über die Tausende von Werkstätten, Versicherungen und Flottenbetreibern vernetzt sind.
In zehn Ländern ist ControlExpert vertreten, etwa in Brasilien, China und demnächst den USA. Das Unternehmen wächst rasant, Ziel ist ein Umsatz von 50 Millionen bis Ende 2017. „Die beste Zeit hat ControlExpert noch vor sich“, ist der Senior überzeugt. Sohn Andreas soll dafür sorgen, dass dies kein Lippenbekenntnis bleibt: Der 32-jährige Ingenieur und Automatisierungsspezialist hat kürzlich die Leitung der Entwicklungsabteilung übernommen.