Wenn Klaus Bauer von seiner Vision einer Fabrik in der Industrie 4.0 spricht, gerät er ins Schwärmen. "Wann sie Realität wird, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass wir für die Probleme, die wir heute noch haben, Lösungen finden werden. "Wenn," schränkt er ein, "der Nutzen, den wir daraus ziehen nur groß genug ist."
Dass dieser Nutzen immens sein wird, daran hat der Leiter der Entwicklung Basistechnologie beim schwäbischen Maschinenbauer Trumpf, keinen Zweifel. Doch worin soll der Mehrwert liegen? Die Grundidee von Industrie 4.0: Maschinen sollen via Internet Informationen untereinander austauschen, so die Arbeit besser koordinieren, effizienter und flexibler arbeiten und damit weniger Ressourcen verbrauchen. Die Kosten sinken, so dass die Produktivität steigt.
Die deutsche Akademie der Technikwissenschaften "ac atech" schätzt, dass Unternehmen mittels Industrie 4.0 ihre Produktivität um 30 Prozent steigern können. Wie realistisch diese Werte sind, kann heute noch niemand sagen.
Stufen der industriellen Entwicklung
Die erste industrielle Revolution datiert man auf das Ende des 18. Jahrhunderts. Gekennzeichnet war sie durch die Einführung mechanischer Produktionsanlagen, die durch Wasser- und Dampfkraft angetrieben wurden. In dieser Zeit wurde auch der erste mechanische Webstuhl entwickelt.
Quelle: Deutsche Bank Research Industrie 4.0 - Upgrade des Industriestandorts Deutschland steht bevor, Stand: Februar 2014
Die Erfindung erster Fließbänder in Schlachthöfen in den USA ist Symptom der zweiten industriellen Revolution. Die Verfügbarkeit elektrischer Energie für Produktionszwecke bedingte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion.
In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts automatisierte sich die Produktion weiter. Von diesem Zeitraum an wurde nicht mehr nur Arbeitsteilung betrieben, sondern ganze Arbeitsschritte wurden von Maschinen übernommen. Die Grundlage für diese Entwicklung war der Einsatz von Elektronik und IT.
Die Industrie 4.0 soll die vierte industrielle Revolution werden. In der "intelligenten Fabrik" sollen Menschen, Maschinen und Ressourcen miteinander kommunizieren. Das jeweilige Produkt soll, gefüttert mit Informationen über sich selbst, seinen eigenen Fertigungsprozess optimieren können.
Intelligente Linsen - Fernwartung per Cloud
Auch Bauer tut sich schwer, den Nutzen der ersten Trumpf-Produkte, die ein Hauch von Industrie 4.0 umweht, in Zahlen auszudrücken. Die Schwaben haben nämlich eine erste "intelligente" Maschine im Einsatz. Die Linsen in ihren Laserschneidemaschinen zur Blechbearbeitung tragen seit neuestem einen RFID-Chip. Die schlaue Linse meldet der Zustandsüberwachungssensorik, wann sie schmutzig ist und sauber gemacht werden muss. Unnötige Reinigungen entfallen, die Verfügbarkeit der Maschine steigt, die Kosten sinken. Beziffern lässt sich der Gewinn dieser Technologie noch nicht. Dafür sind die Linsen noch nicht lange genug im Einsatz.
Das zweite 4.0-Projekt der Schwaben ist das cloudbasierte Telepräsenzportal. Über diesen Internetdienst kann eine Maschine in China Kontakt mit einem Experten bei Trumpf in Ditzingen aufnehmen. Der kann aus der Ferne des Status der Maschine einsehen und sogar in den Produktionsprozesse eingreifen. "Mehrere tausend Maschinen sind heute über diese Plattform mit Trumpf intelligent vernetzt", freut sich Bauer. Hier gibt es auch Zahlen: Bereits 60 bis 70 Prozent der Probleme der Kunden werden schon online gelöst. Aber ist das schon Industrie 4.0? "Nein", sagt Bauer, "die Industrie-4.0-Maschine gibt es noch nicht. Was wir haben, sind einzelne erste Bausteine."
In der schönen neuen Welt sollen die Maschinen nämlich das Kommando übernehmen. Nicht der Mitarbeiter drückt den Knopf, damit die Maschine den Kontakt zum Hersteller aufnimmt. In der Ära 4.0 ist es die Maschine selbst - wenn sie es für nötig hält. "Sie könnte sich etwa Software-Updates oder passende Datensätze für ein bestimmtes Material, das sie zum ersten Mal bearbeitet von einem Datenmarktplatz herunterladen", zählt Visionär Bauer auf. Die Maschine könnte über einen Prepaid-Account verfügen, den der Besitzer von Zeit zu Zeit auflädt. Welche Daten oder Dienste die Maschine dafür kauft, bleibt ihr selbst überlassen. Bis zum Jahr 2020 so eine Schätzung von Branchenverbänden könnten bereits 50 Milliarden solch intelligenter Maschinen weltweit miteinander vernetzt sein.
Ist nicht Skepsis angebracht, vor einer Welt, in der eine Armada von Maschinen selbständig Entscheidungen trifft? "Was machen wir denn heute an den Börsen", entgegnet Bauer, "da entscheiden Computer in Millisekunden über Kauf oder Verkauf von Milliardenwerten. Auf deren Urteilsvermögen vertrauen wir schließlich auch."
Die intelligente Fabrik
Kaum einer weiß so gut wie Bauer, vor welcher Herkulesaufgabe die deutsche IT-Branche, Elektrotechniker und den Maschinenbauern stehen. Sie müssen so eng wie nie zuvor zusammenarbeiten, soll Industrie 4.0 Realität werden. Im Zentrum der Idee der Industrie 4.0 steht das Konzept der "Smart Factory" - der intelligente Fabrik.
Was bedeutet Smart Factory?
In der intelligenten Fabrik tauschen Menschen, Maschinen und Ressourcen miteinander Informationen aus. Sie kommunizieren mittels Funksender, Datenwolken im Internet oder im Intranet der Fabrik. Die Produktionsanlagen haben Diagnose- und Reparaturfähigkeiten. Die intelligente Fabrik organisiert sich damit selbst.
Die Produktion soll flexibler werden. Der ständige Datenaustausch soll dazu führen, dass die Maschinen stets optimal ausgelastet sind. Kurzfristige Änderungen in der Nachfrage oder Ausfälle in der Wertschöpfungskette werden rasch kompensiert. In der Industrie 4.0 organisieren sich einzelne Fertigungslinien selbständig bedarfsgerecht. Fällt eine Maschine in dieser Linie aus, organisiert sich die Fertigung über einen alternativen Weg selbständig neu. Ändern sich etwa die Bestellungen oder die Mengen verfügbarer Rohstoffe, passen die Anlagen die Fertigung automatisch an die neuen Gegebenheiten an.
Weil Auftraggeber und Auftragnehmer ständig online Daten austauschen, können Kunden auch kurzfristig Änderungswünsche eingeben. Außerdem können individuelle Kriterien und Kleinserien bis hin zu Einzelstück schnell und kostengünstig realisiert werden.
"Intelligente" Maschinen - das klingt nach Robotern wie in Science-Fiction-Streifen iRobot oder Terminator. Nach Maschinen, die die Fähigkeit erlangt haben, Entscheidungen selbständig zu treffen. Doch das, was im menschlichen Gehirn in Millisekunden abläuft und sich aufgrund von Wissen, jahrelanger Erfahrung oder auch Intuition zu einem Gedanken und einer Entscheidung formt, ist im Reich der Maschinen das Ergebnis einer unfassbar großen Rechenaufgabe. Das vorerst größte Problem sind daher die unglaublichen Datenmengen, die die Maschinen verarbeiten müssen, damit sie entscheiden können, was zu tun ist.
Was heißt schon "große Datenmenge"?
Tausende Sensoren und Chips nehmen Messwerte auf, für tausende unterschiedlicher Teile. Denn auch das ist eine Vision von Industrie 4.0: Kleinserien oder sogar Einzelstücke werden in die Produktion eingebracht wie Massenware. Jedes Bauteil trägt einen Chip, der sagt, was aus ihm werden soll und zu welcher Maschine es dafür zuerst muss. All diese Informationen müssen in Echtzeit verarbeitet und bewertet werden, nur dann funktioniert das Konzert der Maschinen reibungslos. Stefan Heng, Autor der Studie "Industrie 4.0" von Deutsche Bank Research ist skeptisch: "Das stellt eine erhebliche Anforderung an die IT-Systeme dar." Das gesamte Konzept der Industrie 4.0 stehe und falle damit, ob man der Datenauswertung (Big Data) Herr werde. Bauer ist zuversichtlich. Die Frage müsse schließlich heißen: Was ist groß? "Vor zwanzig Jahren war ein Megabit riesig – heute passen zig Gigabyte auf ein Smartphone. Ich glaube, dass das, was wir heute als ‚große Datenmengen‘ bezeichnen, in wenigen Jahren Kinderkram ist.“
Eine Weltsprache für Maschinen
Das zweite große Problem: Alle Maschinen müssen dieselbe "Sprache" sprechen. Bosch-Rexroth arbeitet an einer solchen gemeinsamen Sprache für Maschinen. Gelingt es nicht, sich Industrie-weit auf eine oder zumindest wenige Standards zu einigen, könnte die komplette Vision der intelligenten Produktion in einem Turm-Bau-zu-Babel-Szenario verpuffen.
Rexroth liefert mit dem Softwareportfolio Open Core Engineering und dessen Schnittstellentechnologie Open Core Interface (OCI) einen ersten Ansatz um verschiedene Programmiersprachen zusammenzubringen. Ein Beispiel: Als Software für Messe- und Prüfmaschinen, die dafür sorgen, dass Bauteile auch genau den geforderten Belastungen standhalten, hat sich weltweit das Programm LabView durchgesetzt. Der einzige Nachteil bislang: Die Maschinenhersteller mussten zusätzlich zu LabView auch immer die Maschinensteuerung programmieren und die beiden Programme miteinander koordinieren. Dafür gibt es keine Standardschnittstellen. LabView- und SPS-Spezialisten mussten sich abstimmen, dann ihre jeweiligen Programme schreiben und sie abschließend darauf testen, ob sie auch wirklich Hand in Hand funktionieren.
Sicherheitsfragen noch weitgehend ungeklärt
"OCI hat die Arbeit der Programmierer erheblich vereinfacht", meint Lukas Wintjes, Geschäftsleiter Vertrieb und Branchenmanagement Fabrikautomation von Bosch Rexroth. "Ein Programmierer erstellt jetzt über LabView die Software für die Prüfgaben und die Bewegungsabläufe der Maschine ohne eine Zeile SPS-Code zu benötigen." Maschinenhersteller Kraus Automatisierungstechnik aus dem fränkischen Hassfurt nutzt OCI bereits. Mit gleicher Mannschaft kann das Unternehmen jetzt doppelt so viele Maschinen programmieren.
Mensch soll die Kontrolle behalten
Trumpf und Bosch-Rexroth bieten beide bereits Maschinenbedienung und Diagnose mittels iPad und Apps an. Ganz wie beim privaten Smartphone, soll der Bediener die Maschine mit einem Fingerwisch in Betrieb nehmen können. Trumpf-Manager Bauer: "Obwohl die Systeme komplexer werden, sollen die Mitarbeiter in der Fertigung das nicht merken. Wir wollen nicht nur Experten. Der Mensch soll dirigieren und entscheiden, sich aber nicht mit der Komplexität der Steuerung beschäftigen müssen." Vor zehn Jahren habe eine Maschine eine Steuerung gehabt, heute seien es zehn. Man solle aber nicht Ingenieur sein müssen, um die Maschine im Griff zu haben.
Bei allem Potenzial, das in "intelligenten" Maschinen steckt, der Mensch soll in der Vision von Industrie 4.0 immer noch das letzte Wort haben. "Trotzt ausgeklügelten Automatismen behält der Mensch jederzeit die Kontrolle über die Produktion", betont Bauer.
Ein wesentlicher Punkt, um die Kontrolle zu bewahren ist das Thema Sicherheit. Der intensive Datenaustausch, der mit Industrie 4.0-Anwendungen einhergeht, macht Unternehmen und Fabriken zum attraktiven Ziel für Hacker. Datendiebstahl oder Sabotage der Produktion - beides ist möglich. Hier gibt es noch keinerlei Standards. Ganz abgesehen davon, dass etwa in den USA völlig andere Datenschutzbestimmungen gelten als in der EU. Wie hier unterschiedliche Rechtsräume miteinander verschmelzen sollen ist eine weitere riesige Baustelle.
Bei allen Problemen und aller Skepsis: Deutsche Unternehmen setzen riesige Hoffnungen in das Konzept Industrie 4.0. In Arbeitskreisen wie dem der Bundesregierung und Plattformen der Branchenverbände VDMA, ZVEI und Bitkom wird diskutiert, getüftelt und an Standards gearbeitet. Denn eines ist klar: es gibt keine bessere Wiege für den Sprung in ein neues industrielles Zeitalter. Deutsche Unternehmen erwirtschaften ein Drittel der industriellen Wertschöpfung der gesamten EU, hier sitzen die Weltmarktführer im Mittelstand, hier brummt der Maschinenbau. "Industrie 4.0 kann allein im engen Austausch zwischen Elektrotechnik, Maschinenbau und IT vorankommen", meint Heng. Und dafür sind die Voraussetzungen nirgends so gut wie in Deutschland dem "Fabrikausrüster der Welt".