Deutschland forscht Auf Ideensuche in der ganzen Welt

Bei der Entwicklung der größten Gasturbine der Welt blieben die Siemens-Ingenieure noch überwiegend unter sich. Mittlerweile setzen sie aber nicht mehr nur auf den eigenen Erfindergeist. Immer öfter bedient sich der Technologiekonzern externer Expertise.

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Der Däne Henrik Stiesdal in der Gondel einer Windturbine, die er bei Siemens mitentwickelte. Quelle: handelsblatt.com

MÜNCHEN. Welch ein Monument deutscher Ingenieurskunst. Im grauem Anzug und mit Bauarbeiterstiefeln steht Willibald Fischer in einer Industriehalle im oberbayerischen Irsching und wirkt fast winzig neben der riesigen Gasturbine: 13 Meter lang, fünf Meter hoch und 444 Tonnen schwer. Fischer ist der stolze Vater dieses Stahlkoloss. Er und Hunderte andere Siemens-Ingenieure haben ihn in den vergangenen elf Jahren entwickelt.

Der Probebetrieb hier im Eon-Kraftwerk wurde erfolgreich absolviert, nun werden die ersten Turbinen an Kunden in den USA verkauft. Mit einem Wirkungsgrad von mehr als 60 Prozent markiert die SGT5-8000 H derzeit weltweit das Maß aller Dinge. Bei der Verbrennung des Gases geht weniger Energie verloren als bei jeder herkömmlichen Anlage.

Die weltweit größte Gasturbine hat Siemens noch weitgehend selbst entwickelt. Dabei nutzte der Technologiekonzern seine eigene enorme Kapital- und Ingenieursstärke. Turbinen, das ist das Kerngeschäft der Münchener, da setzen die Forscher Maßstäbe, da vertraut man auf die eigene Kompetenz. Bislang zumindest.

Doch die Konkurrenz schläft nicht. In China verlassen jedes Jahr Hunderttausende frisch ausgebildete Ingenieure die Universitäten. Im globalen Wissens- und Innovationspool ist Siemens nur eine ganz kleine Nummer.

Die Forschung und Entwicklung (F&E) von morgen, sie kann, sie muss deshalb ganz anders aussehen. Das haben sie auch bei Siemens erkannt. Man könnte die Strategie F&E 2.0 nennen. Der einsiedlerische Professor, der in seinem Kämmerlein eine bahnbrechende Erfindung macht, das war gestern. "Den Forscher im Elfenbeinturm gibt es nicht mehr. Heute sind auch internationales Auftreten und soziale Fähigkeiten gefragt", sagt Siemens-Forschungsvorstand Paul Achatz. Jetzt gilt es, sich weltweit die besten Ideen und Köpfe zu sichern.

Das weiß niemand besser als Thomas Lackner. Der Ingenieur ist zuständig für "Open Innovation", ein Konzept, das in der Industrie heiß diskutiert wird. Siemens fängt gerade damit an. Es geht darum, F&E-Aufgaben nicht mehr nur intern zu lösen. Stattdessen stellen Konzerne wie Siemens konkrete Forschungsfragen und erläutern Problemstellungen auf spezialisierten Wissensplattformen im Netz. Jeder kann antworten - der Student in Korea genauso wie der Professor in den USA, oder auch der schwäbische Tüftler. "Wir bekommen Antworten aus Bereichen, an die bei uns nie jemand gedacht hatte", sagt Lackner.

Die Postautomatisierungssparte von Siemens etwa, in der es darum geht, Sendungen vom Absender an den Empfänger möglichst schnell und günstig zu schicken, hat zehn Mio. Euro in die Hand genommen. Sie war auf der Suche nach neue Ideen zum optimalen Entladen von Lastern. 35 Vorschläge aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen und Ländern flatterten ins Haus. Die besten Lösungen werden ausgewählt und die jeweiligen Anbieter bekommen den Auftrag.

Mit "Open Innovation" geht Siemens ganz neue Wege, vor denen viele andere deutsche Unternehmen noch zurückschrecken. "Das ist ein hochspannender Ansatz", sagt Dieter Kempf, Chef des Nürnberger IT-Dienstleisters Datev. Er sei aber auch sehr schwierig durchzusetzen: "Da braucht es noch viel Überzeugungsarbeit in den Köpfen."

Vor allem bei den stolzen Siemens-Ingenieuren. Sie müssen erst einmal lernen, dass es in der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts ohne Impulse von außen nicht mehr geht. "Der Mix macht's aus", sagt Lackner.

Derzeit steckt der Konzern pro Jahr rund vier Mrd. Euro in Forschung und Entwicklung. 30 800 Mitarbeiter beschäftigen sich mit intelligenten Stromnetzen, erfinden schwimmende Windräder und Geschirrspüler, die mit Mineralien reinigen. Jeden Tag würden 35 Erfindungen ins Leben gerufen, verkündet der Konzern. Bei den deutschen Patentanmeldungen liegt Siemens auf Rang zwei hinter Bosch, bei den europäischen ebenfalls nach Philips.

Bei seinen Innovationen hat Siemens vor allem ein Wachstumsfeld im Blick: Umwelt-Technologien. Vorstandschef Peter Löscher hat den "grünen Infrastrukturgiganten" ausgerufen. Vermutlich wird Siemens im laufenden Geschäftsjahr mit solchen Produkten - das Portfolio reicht von Solarkraftwerken bis zum stromsparenden Computertomographen - 25 Mrd. Euro Umsatz machen, ein Drittel der Gesamterlöse. Damit sieht sich der Konzern klar an der Spitze vor Rivalen wie General Electric. Um den Vorsprung zu sichern, investiert Siemens jährlich über eine Mrd. Euro in F&E im Öko-Bereich. Dazu zählt die Gasturbine von Willibald Fischer, dazu zählen die Windräder von Henrik Stiesdal.

Der Däne ist einer der Pioniere der Windkraft-Branche - und ein gutes Beispiel dafür, wie sich Siemens Know-how durch Akquisitionen ins Haus holt. Ein weiterer Weg, um externes Wissen zu nutzen. Stiesdal hatte für den ideenstarken dänischen Anbieter Bonus Energy gearbeitet, ehe Siemens das mittelständische Unternehmen 2004 kaufte. Die Übernahme sei für beide Seiten ein Glücksfall gewesen, erklärt Stiesdal: "Wir sind heute viel innovativer als früher." Schon, weil Siemens einfach mehr Finanzkraft habe. Wo die Dänen beim Tüfteln früher aufhören mussten, kann jetzt weiter geforscht werden.

Den Wissensvorsprung der Skandinavier haben die Münchener honoriert, indem sie das Hauptquartier der Windsparte in Dänemark ansiedelten. So ist es Siemens gelungen, Leistungsträger wie Stiesdal zu halten. Der schwärmt von den grenzüberschreitenden Möglichkeiten: Nur ein Unternehmen wie Siemens könne zum Beispiel ein Zentrum für Aerodynamik im amerikanischen Boulder betreiben. Zuletzt hat Stiesdal mit seinen Leuten Windräder entwickelt, die ohne Getriebe auskommen. Sie sind damit weniger reparaturanfällig und wiegen dazu noch wesentlich weniger. Eine echte Innovation.

Gute Erfahrungen mit einer Übernahme hat auch Willibald Fischer bei der Gasturbine gemacht. Ohne den Kauf der fossilen Aktivitäten des US-Wettbewerbers Westinghouse 1998 wäre Siemens heute nicht so weit - und die ersten Turbinen wären wohl nicht in die USA verkauft worden. Ein wichtiger Teil der Entwicklung fand in Orlando statt, einst Standort von Westinghouse.

Es dauerte einige Jahre, bis sich die Ingenieure auf beiden Seiten des Atlantiks aneinander und an die verschiedenen Denkweisen gewöhnt hatten. Für die Forscher in Erlangen war es ungewohnt, sich in Englisch auszutauschen, die Zeitverschiebung machte die Dinge noch komplizierter. Seit auch Kollegen aus Indien dabei sind, finden viele virtuelle Teamsitzungen morgens um fünf Uhr statt. Der Vorteil für den Konzern: Durch die unterschiedlichen Zeitzonen werden Projekte rund um die Uhr vorangetrieben. Zur besseren Abstimmung gibt es bei Siemens nun im F&E-Bereich einen "Product Development Process", in dem sämtliche Entwicklungsschritte penibel festgelegt werden.

Denn: Der Faktor Zeit ist entscheidend - gerade mit Blick auf die Konkurrenz. Vor wenigen Tagen hat GE angekündigt, bis 2015 weitere zehn Mrd. Dollar in grüne Technologien zu investieren. Gerade haben die Amerikaner vor den Toren Münchens, also direkt vor Siemens? Nase, ein neues Forschungszentrum für Stromrichtertechnik eröffnet.

Jetzt, in der Wirtschaftsflaute, werden die Weichen für künftiges Wachstum gestellt. "In Krisenzeiten muss man antizyklisch arbeiten", sagt Siemens-Forschungsvorstand Achatz. Andere Unternehmen mussten im Abschwung ihre F&E-Ausgaben herunterfahren. Siemens aber hat in der Verwaltung die Kosten drastisch gesenkt und gleichzeitig erneut mehr für Innovationen ausgegeben. Die Investitionsquote steigt so spürbar, denn der Umsatz wird im laufenden Geschäftsjahr um einen mittleren einstelligen Prozentwert auf etwa 73 Mrd. Euro zurückgehen. Mit einer F&E-Quote von rund sechs Prozent liegt Siemens unter den Infrastrukturanbietern in der Spitzengruppe.

Der Konzern forscht und entwickelt an 150 Standorten in aller Welt. Dabei setzt die Traditionsfirma auf Kooperationen mit Elite-Universitäten. Auch hier gilt die Stoßrichtung, externes Wissen verstärkt ins Unternehmen zu holen. So wurden Bündnisse unter anderem mit dem renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston und der Tongji Universität in China geschlossen.

Willibald Fischer macht sich bereits Gedanken über die nächste Generation seiner Gasturbine. Sie müsste noch flexibler sein, damit sie sich schneller hochfahren lässt, wenn Wind- und Solarstrom ausfallen. Und mit einem noch höheren Wirkungsgrad, deutlich über 60 Prozent, das wäre doch was.

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