Das Phänomen Snapchat Warum der Hype bald vorbei sein könnte

Der Hype um Snapchat ist groß – zumindest unter Jugendlichen. Doch die ältere Generation kann mit dem Bilderdienst wenig anfangen. Das kann für Snapchat auf lange Sicht zu einem existenziellen Problem werden.

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Haben Sie Snapchat verstanden? Quelle: Pressebild, Montage

Für ein Foto braucht es nur wenige Klicks. Ein Klick auf den weißen Geist: Das Profil öffnet sich, die Smartphone-Kamera ist automatisch aktiviert. Ein weiterer Klick auf einen runden Button in der Menüleiste: Das Smartphone schießt das Foto. Noch ein Klick: Der Nutzer bestimmt, wie lange das Bild sichtbar ist. Der finale Klick: Die Aufnahme erscheint in der eigenen Live Story, in der Freunde und Bekannte das Bild solange sehen, bis es sich selbst auflöst.

Dass es scheinbar nach spätestens 24 Stunden keinerlei Beweise mehr für das Foto gibt, macht die App mit dem weißen Geist vor allem für die junge Generation attraktiv: Denn vorbei sind die Zeiten, in denen sie bei Instagram und Facebook nach dem optimalen Selbstportrait lechzen. Der Druck, das perfekte Selfie zu posten, fällt bei Snapchat weg.

Deshalb nutzen vor allem in den USA immer mehr Jugendliche den Bilderdienst, für den das Geschäft mit der vermeintlichen Vergänglichkeit zum Erfolgsmodell geworden ist. Laut der amerikanischen Investmentbank Piper Jaffray hat Snapchat den Bilderriesen Instagram mittlerweile als das beliebteste soziale Netzwerk unter Jugendlichen in den Vereinigten Staaten abgelöst.

Nutzerzahlen der bekanntesten sozialen Medien

Und auch in Deutschland tauschen sich immer mehr Jugendliche über die Foto-Schnipsel-App aus. Für ihren Youth Insight Panel hat die Bauer Media Group fast 700 Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren zu ihrer Social-Media-Nutzung befragt und kommt zu dem Ergebnis: Snapchat ist bei dieser Zielgruppe mittlerweile beliebter als Facebook. Während im vergangenen Jahr noch 17 Prozent der Mädchen und Jungen angaben, den Foto-Dienst zu nutzen, sind es heute 35 Prozent. Auf Facebook sind laut Umfrage 32 Prozent der Jugendlichen aktiv.

Trotz Erfolgskurs gibt sich Snapchat in der Öffentlichkeit zurückhaltend, veröffentlicht nur selten Nutzerzahlen. Zuletzt im Mai 2015, als die Plattform 100 Millionen User hatte. Branchenexperten wie der deutsche Geschäftsführer des US-Marktforschungsunternehmens IDC, Wafa Moussavi-Amin, sind sich sicher, dass sich die Zahl seitdem verdoppelt haben muss – und sich das Wachstum auch in Deutschland bemerkbar macht. Er schätzt, dass mittlerweile zwei bis drei Millionen Deutsche regelmäßig Snaps verschicken.

Für 2016 rechnet Moussavi-Amin mit einem kräftigen Wachstum hierzulande. Der Messenger habe großes Potenzial, zu einem der führenden sozialen Netzwerke weltweit heranzuwachsen. "Snapchat hat sich eine Berechtigung auf dem Markt erarbeitet, indem der Dienst seinen Usern einen geschützten und exklusiven Raum bietet", sagt der Branchen-Kenner.

Die beliebtesten Apps in Deutschland
Snapchat Quelle: dpa
Shpock Quelle: PR
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Spotify Quelle: dpa
Skype Quelle: dpa
Instagram Quelle: AP
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Exklusiv deshalb, weil die jungen Nutzer dort noch weitestgehend unter sich sind: Laut GlobalWebIndex war Mitte des vergangenen Jahres mehr als jeder zweite Nutzer zwischen 16 und 24 Jahre alt. Nur 15 Prozent der Befragten waren älter als 35 Jahre.

Auch wenn Snapchat noch deutlich weniger Nutzer als Facebook hat, werden in der App mittlerweile fast genauso viele Videos täglich angeschaut wie auf der Plattform von Mark Zuckerberg. Bei Facebook werden die Clips automatisch abgespielt – bei Snapchat muss der User sie gezielt anklicken. "Snapchat ist schon längst keine Kinder-Plattform mehr", sagt Social-Media-Experte Philipp Steuer, der das Buch "Der ultimative Snapchat-Guide" veröffentlicht hat. Selbst US-Präsident Barack Obama und Politiker des Europa-Parlaments setzen regelmäßig Snaps ab, um ihre Anhänger auf dem Laufenden zu halten. Hillary Clinton und Bernie Sanders nutzen den Dienst im US-Wahlkampf.

Und die Gründer legen sich ins Zeug, um noch mehr User auf die Plattform zu locken: Die Nutzer können mittlerweile längere Videos hochladen und Nachrichten verschicken. Das Unternehmen arbeitet bewusst mit großen Medienpartnern wie CNN, Vice oder Buzzfeed zusammen, die extra für die Plattform eigene Inhalte mit Unterhaltungscharakter erstellen. Die User länger sollen so länger in der Anwendung gehalten und neue Nutzer angelockt werden.

Obwohl der amerikanische Instant-Messaging-Dienst erst ein halbes Jahrzehnt alt ist, ist er mit einer Bewertung von 16 Milliarden Dollar eines der am höchsten gehandelten Start-ups der Welt. Zum Unmut von Konkurrent Facebook, der das Potenzial von Snapchat schon kurz nach der Gründung erkannte und bei einem Übernahmeversuch im Jahr 2013 scheiterte. "Der Übernahmeversuch von Facebook hat gezeigt, dass Snapchat Trends setzt und ein ernstzunehmender Konkurrent für andere soziale Medien ist", sagt Steuer.

Vor diesen Hürden steht Snapchat

Snapchats Gegenwart sieht rosig aus. Damit der Dienst aber auch in Zukunft bestehen kann, muss der Hype um den weißen Geist irgendwann Gewinn einbringen. Zwar erwartet Snapchat laut Medienberichten für 2016 aufgrund seiner Werbe-Einnahmen einen Umsatz in Höhe von 350 Millionen Dollar – womit der Dienst seinen Erlös praktisch vervierfachen würde. Doch IDC-Geschäftsführer Moussavi-Amin ist sich sicher, dass der Dienst zugunsten des Wachstums momentan noch auf einen Gewinn verzichtet. "Snapchat investiert in neue Funktionen, um die Nutzer zu halten und neue zu generieren", sagt Moussavi-Amin.

Auch den Sprung an die Börse will Snapchat wagen, das hat Unternehmensgründer Evan Spiegel bereits angekündigt. Der Zeitpunkt ist allerdings noch offen.

Während Philipp Steuer einen unmittelbaren Börsengang des Start-ups erwartet, zeigt sich Moussavi-Amin angesichts der finanziellen Lage von Snapchat zurückhaltender. Er rechnet in frühestens zwei Jahren damit – vorausgesetzt, Snapchat ist bis dahin noch ein eigenständiger Instant-Messaging-Dienst. "Wenn Snapchat weiterhin so erfolgreich ist, wird Facebook den Gründern bald sicherlich ein weiteres Angebot unterbreiten", glaubt Moussavi-Amin. Gerade weil es für Messenger-Anbieter schwer ist, mit ihren Anwendungen Geld zu verdienen, schätzt er die Wahrscheinlichkeit hoch ein, dass die Gründer Spiegel und Murphy auf den nächsten Deal eingehen werden.

Snapchats Nutzerpotenzial ist schnell erschöpft

Das könnte vor allem daran liegen, dass sich Snapchats Nutzerpotenzial irgendwann ausschöpft. Dass sich hauptsächlich Jugendliche auf Snapchat bewegen, ist eine Medaille mit zwei Kehrseiten: Einerseits verbreitet sich die App über Freundeskreise und Schulen rasant – und lockt immer mehr Jugendliche auf die Plattform.

Andererseits bleibt laut Moussavi-Amin die ältere Generation fern, die der Dienst eigentlich bräuchte, um seinen Wachstumskurs auf lange Sicht fortzusetzen. Das liegt seiner Meinung nach daran, dass es bei Snapchat keinen klaren Aufbau gibt, sondern das Tool aufgrund der Aktualität über eine dynamische Menüführung verfügt. "Dieser Aufbau schließt ältere Nutzer automatisch aus, weil sie Snapchat intuitiv bedienen müssen", sagt Moussavi-Amin.

Snapchat hat also nach Ansicht des IDC-Geschäftsführers sein Potenzial quasi ausgeschöpft, wenn das soziale Netzwerk alle Jugendlichen dazu gebracht hat, die Anwendung regelmäßig zu nutzen. "Im Gegensatz zu Snapchat haben Facebook und WhatsApp ein viel größeres Nutzerpotenzial", sagt der Experte. WhatsApp komme zumindest in der Theorie für alle Mobilfunknutzer infrage, während Snapchat hauptsächlich die 13- bis 20-Jährigen anspreche.

Natürlich hat Snapchat die Möglichkeit, die Foto-Schnipsel-App so anzupassen, dass auch Ältere damit zurecht kommen. Dafür müsste der Dienst laut Moussavi-Amin zumindest seine dynamische Menüführung und damit eines seiner Alleinstellungsmerkmale aufgeben.

Doch dadurch verliert der Dienst womöglich die jüngeren Nutzer, die sich mit Snapchat einen exklusiven digitalen Ort geschaffen haben – fernab der elterlichen Kontrolle. Und: Die Älteren müsste Snapchat erst einmal überzeugen. "Das Risiko ist für Snapchat momentan einfach zu groß, zu scheitern", sagt Moussavi-Amin.

Das Geschäft mit der vermeintlichen Vergänglichkeit

Snapchat hat sich ein vermeintliches Alleinstellungsmerkmal geschaffen, indem der Dienst damit wirbt, dass Informationen verschwinden. Dabei ist der Unterschied zwischen Facebook und Snapchat in Sachen Datenschutz geringer, als viele Nutzer annehmen. "Snapchat gaukelt seinen Usern nur vor, Informationen zu löschen", sagt Moussavi-Amin. Denn wer die Nutzungsbedingungen der Foto-App aufmerksam liest, der wird feststellen, dass er die Rechte der veröffentlichten Snaps an die Gründer überträgt. "Der Instant-Messaging-Dienst stellt die Snaps zwar spätestens 24 Stunden später nicht mehr auf der Plattform zur Verfügung. Er speichert die Informationen aber auf seinem Server in den USA", sagt Moussavi-Amin.

Das heißt für den Nutzer: Snapchat dürfte beispielsweise auf der Plattform veröffentlichte Fotos zu eigenen Werbezwecken nutzen – auf Plakaten oder Anzeigen. Das steht auch in den Nutzungsbedingungen von WhatsApp und Facebook.

Hinzu kommt: Wer ein ernsthaftes Interesse hat, die Snaps anderer User zu archivieren, der findet einen einfachen Weg. Beispielsweise via Screenshot.

Die Jugendlichen scheinen das zu ignorieren – und halten den Bilderdienst zumindest derzeit auf Erfolgsspur. "Snapchat wird wahrscheinlich niemals so viele Menschen wie Facebook auf der Plattform versammeln können", sagt Steuer. "Aber in Sachen Aktivität und Reichweite wird der Dienst zukünftig zu den beliebtesten sozialen Medien gehören."

Ob der Erfolg aber von Dauer ist, wird sich zeigen, wenn das derzeitige Nutzerpotenzial erschöpft ist – und der Messenger einen Spagat zwischen alten und neuen Nutzergruppen machen muss.

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