Enthüllungsplattform Wikileaks-Gründer Assange: Der Geheimnisträger

Anmaßung und Paranoia: Julian Assange stürzt seine Enthüllungsplattform Wikileaks in die Krise.

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WikiLeaks-Gründer Julian Quelle: AP

Offenbar war er beim Friseur. Die weiße Warhol-Mähne von Julian Assange ist getrimmt, braun gefärbt und blond gesträhnt, das Gesicht ist wie immer bleich, die Stimme sanft. Ansonsten kann man nicht viel Eindeutiges sagen über den 39-jährigen Mitbegründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, den die einen "Wahrheitskämpfer", die anderen "Cyberterrorist" oder "Hacker-Diktator" nennen. "Nichts ist so, wie es scheint", sagt Assange an diesem Donnerstagabend in der Londoner City University auf einer Veranstaltung der Journalismus-Fakultät immer wieder. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass er sich wieder der Öffentlichkeit zeigt.

Geheimniskult um seine Person gehört inzwischen zu den Markenzeichen des Julian Assange. Vermutlich lebt der Australier zurzeit in Schweden, dort wird ihm demnächst der Prozess gemacht. Wahrscheinlich wird er in wenigen Wochen Hunderttausende Dokumente zum Irakkrieg veröffentlichen. Ganz bestimmt hat er den deutschen Wikileaks-Sprecher Daniel Domscheit-Berg aus der Organisation herausgeekelt. Wenn man Assange per E-Mail um ein Interview, um Antworten auf diese Fragen bittet, kommt keine Reaktion.

Vom Held zum Terrorist

Noch im Juli galt dieser Mann als Held der Wahrheit. In Zusammenarbeit mit dem Spiegel, dem britischen Guardian und der New York Times veröffentlichte Wikileaks die sogenannten Afghanistan-Protokolle, mehr als 70.000 geheime Militärdokumente über den Krieg. Es war einer der größten Scoops in der Mediengeschichte; er würde, so hieß es, die Sicht auf den Nato-Einsatz verändern und den Journalismus revolutionieren. Wenige Monate später hat die US-Regierung die Truppen für Afghanistan aufgestockt, und Assange steht in Schweden unter dem Verdacht der Vergewaltigung. Seitdem brodelt es in der Wikileaks-Community.

Assange nimmt auf dem Podium Platz und behält seine schwarze Lederjacke an. Er hat Probleme mit dem Buchstaben "P", immer wenn er ihn ausspricht, macht das Mikrofon "Plopp". Dabei benutzt Assange gern Worte, die mit "P" beginnen: people (die Menschen), power (Macht) und publish (veröffentlichen). Assange glaubt, dass Wikileaks den Menschen Macht gibt, indem es die Geheimnisse von Regierungen, Unternehmen oder Politikern veröffentlicht. Für ihn ist eine transparente Welt die bessere Welt.

Nach Assanges Sicht gelten für Wikileaks besondere Maßstäbe: Seine »kleine Aktivistenorganisation« brauche nicht wie alle anderen offenlegen, wer sie finanziert, wie sie Dokumente überprüft und wer entscheidet, was wann veröffentlicht wird. Das klingt selbstgerecht für einen Mann, der sich als Anwalt der Machtlosen versteht. "Regierungen müssen transparent sein, aber nicht Einzelne", sagt Assange. "Transparenz sollte proportional zu Macht sein." Wikileaks ist inzwischen selbst mächtig geworden, warum also führt er Wikileaks nicht transparenter?

Niemand weiß, auf wie vielen Hunderttausenden Geheimdokumenten Assange sitzt, woher sie kommen und wann sie veröffentlicht werden. Die Informanten leiten ihre Daten über ein verschlüsseltes Netzwerk an Wikileaks weiter, die Server der Organisation stehen unter anderem in Schweden, Belgien und Island, wo der Quellenschutz hoch ist. Freiwillige aus aller Welt und eine Handvoll feste Mitarbeiter dekodieren die Dokumente, über die Veröffentlichung entscheidet wohl vor allem Assange. Organisatorisch präsentiert sich Wikileaks wie ein anarchisches Hackerprojekt, politisch aber ist es eine feste Größe geworden.

Julian Assange hält eine Quelle: REUTERS

"Wikileaks benutzt neue Technologien, ein globales Netzwerk und den einfachen Zugang zu Informationen, um Regierungsgeheimnisse für ein imaginäres Weltpublikum zu enthüllen", sagt der australische Historiker John Keane. Er glaubt, dass Wikileaks für eine moderne Gesellschaftsform steht, in der Regierungen von nichtstaatlichen Organisationen ständig beobachtet und bewertet werden. Aber wer kontrolliert Wikileaks?

"Die Früchte unserer Arbeit geben wir der Öffentlichkeit", sagt Assange, "nur ihr gegenüber tragen wir eine Verantwortung." Es ist die Antwort eines Hackers, der glaubt, dass alle Informationen allen zugänglich gemacht werden müssten und die Menge dann durch Schwarmintelligenz entscheidet, was echt und unecht ist. Seine Mission der totalen Transparenz setzt Assange mit dem Interesse der Allgemeinheit gleich.

"Kollateralschäden"

Im Publikum in London sitzen an diesem Abend aber viele, die finden, dass es Grenzen gibt, dass zum Beispiel die Namen von Unbeteiligten oder private Informationen geschützt werden müssen. "Es gibt eben Kollateralschäden", antwortet Assange. Wikileaks habe einen neuen Filter entwickelt, mit dem es Dokumente nach Namen durchforste; wie, das will er nicht sagen: "Wir müssen jetzt nicht diese Details besprechen." Es klingt, als wolle Assange Grundsatzprobleme einfach mit Software lösen. Seine Sturheit hat auch in der Wikileaks-Community zu Kritik und Austritten geführt.

Wikileaks wurde Ende 2006 gegründet. Weltweit Furore machte die Plattform erst mit der Veröffentlichung eines Videos der US-Armee im April dieses Jahres: Zu sehen ist, wie amerikanische Soldaten aus einem Apache-Helikopter elf Zivilisten in Bagdad erschießen, darunter zwei Reuters-Journalisten. Reuters forderte das Video unter Berufung auf den Freedom of Information Act an – ohne Erfolg. Ein US-Soldat spielte das Video Wikileaks zu, Assange veröffentlichte es unter dem Titel Collateral Murder. Es war ein Beweis dafür, dass Wikileaks mit seiner Technik, Anonymität und globalen Reichweite leisten kann, was traditionelle Medien nicht leisten können.

Ursprünglich wollten Assange und seine Leute nur Rohdaten ins Netz stellen, unkommentiert. Schnell stellte sich heraus, dass Informationen verpackt und verkauft werden müssen. "Vor einigen Jahren hätte ich nicht geglaubt, dass wir so große Scoops wie die Afghanistan-Protokolle sehen werden", sagt Manfred Redelfs vom Netzwerk Recherche, "allerdings erschlägt einen die Masse an Material. Man braucht Redaktionen, die die Informationen in einen Kontext setzen."

Mit jeder großen Veröffentlichung steigt der innere und äußere Druck auf Wikileaks. Je bekannter es wird, desto mehr Daten bekommt es, und desto mehr Freiwillige bieten ihre Hilfe an – eine Überforderung für das unstrukturierte Projekt. "Seit Dezember haben wir 800 Programmierer kontaktiert und gefragt, wie sie helfen können", erzählte Daniel Domscheit-Berg dem Blogger Markus Beckedahl von Netzpolitik.org. "Wir sind dann in ein strukturelles Problem gelaufen: Wessen Verantwortung ist es, 800 Leute zu organisieren, überhaupt diese Mails zu beantworten?" Wikileaks ist Opfer seines eigenen Erfolgs geworden.

Hinzu kommt, dass die amerikanische Regierung Assange ins Visier genommen hat. "An seinen Händen könnte das Blut eines jungen Soldaten oder einer afghanischen Familie kleben", behauptete der US-Generalstabschef Mike Mullen nach der Veröffentlichung der Afghanistan-Protokolle. Seitdem prüft das amerikanische Justizministerium, ob es Assange wegen Spionage verhaften lassen könnte. Assange wiederum hat eine verschlüsselte, 1,4 GB große Datei namens insurance.aes256 veröffentlicht, deren Schlüssel er im Fall seiner Festnahme freigeben will.

Auch die Vergewaltigungsvorwürfe in Schweden erklärte Assange anfangs zu einer Rufmordkampagne der CIA. Das Verfahren dort wurde zunächst eingestellt, dann wieder aufgenommen, dann gelangten Auszüge aus seiner Polizeiakte an die Medien. Ein Leak gegen den Propheten des Leaks.

Scheinbar desavouieren sich Wikileaks und Assange gerade selbst. Nichts ist so, wie es scheint. Das Prinzip Wikileaks wird bleiben – mit oder ohne Assange.

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