Internet-Skeptiker wie der amerikanische Autor Nicholas Carr („Wer bin ich, wenn ich online bin ... und was macht mein Gehirn solange?“) argwöhnen, dass das Netz die Menschen zur Denkfaulheit erzieht, sie der Konzentrationsfähigkeit beraubt und ihnen letztlich die Mutter aller Freiheiten – die des autonomen Denkens – nehmen könnte. „Ich stelle fest, wie sich meine eigenen Denkgewohnheiten dramatisch gewandelt haben, seit ich mich vor 15 Jahren zum ersten Mal ins Web einwählte“, schreibt Carr, „und ich mag nicht, was der Computer mit mir anstellt.“ Derselbe Autor räumt freilich auch ein, dass die Menschen „dankbar sein sollten für die Reichtümer an Information, die das Netz bietet“.
So what? Sind wir jetzt etwa im Begriff, Denkfreiheit gegen Informationsfülle einzutauschen? Ist das grenzenlose Vertrauen auf Googles Suchfilter-Algorithmen gar der Beginn des digitalen Idiotentums? Werden wir, wie der weißrussische Netz-Verteufler Evgeny Morozov in seinem Erfolgsbuch „Smarte neue Welt – Digitale Technik und die Freiheit des Menschen“ prophezeit, am Ende „smarte Geräte, aber dumme Menschen“ haben?
Letztlich sind solche zutiefst pessimistischen Visionen Ausdruck eines archaischen, nur tiefenpsychologisch erklärbaren Technik-Unbehagens, das sich bis zum griechischen Philosophen Sokrates zurückverfolgen lässt. Sokrates hatte eine ausgeprägte Abneigung gegenüber der Schrift, die als Technologie damals fast so umwälzend war wie heute das Internet.
Der Philosoph schwor auf mündliche Kommunikation und lehnte es strikt ab, seine Lehre schriftlich festzuhalten, weil er in der Schrift eine Gefahr fürs freie Denken und eine Korrumpierung der Philosophie sah. Zum Glück brachen seine Schüler die Regel des Meisters, denn sonst wüsste heute ironischerweise kein Mensch mehr etwas über den Vater der abendländischen Philosophie.
Technischer Fortschritt und Freiheit lassen sich also beileibe nicht so einfach saldieren, wie die Netzkritiker uns vorrechnen wollen. Was die Informationstechnik mit der Freiheit anstellt? Ob und in welchem Umfang die an die Technik verlorenen Freiräume tatsächlich durch neue Freiheiten auf anderer Ebene kompensiert werden, liegt also letztlich im Auge des Betrachters.
Was Kulturpessimisten, Nostalgiker und Technophobe in grober Unterschätzung des menschlichen Gehirns, seiner Anpassungsfähigkeit und seiner Emergenz als digitale Selbstversklavung verteufeln, ist für überzeugte Netzwerker eine technikgestützte Form der Emanzipation, eben Freiheit auf einer neuen, anderen Ebene.
Anstatt auf die Technik zu starren, wie das Kaninchen auf die Schlange, und vor vermeintlichen Freiheitsberaubungen durch die Technik zu bibbern, sollten wir auf die Emergenz des menschlichen Gehirns und auf die Anpassungsfähigkeit des Denkens vertrauen und lernen, mit den neuen Freiheiten, die die Technik gewährt, richtig umzugehen, sie gewinnbringend zu nutzen.
Die beste Methode für uns Menschen, das autonome Denken ungeachtet der digitalen Helfer nicht zu verlernen, ist, es systematisch und kontinuierlich zu praktizieren, also den Komfort des mechanischen Denkens nicht überhand nehmen zu lassen, das Denken nicht den Maschinen zu überlassen.
Die Freiheit – vor allem die des Denkens – ist ein Muskel. Man muss ihn trainieren, damit er funktioniert.