Hackernetzwerk Wie Anonymous Scientology in die Knie zwang

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Das FBI ermittelt

Von der Cloud im Stich gelassen
Die Besonderheit des Mobilfunkgerätes Sidekick war, dass Kalender- und Adressdaten nicht auf dem Gerät, sondern online gespeichert wurden und somit auch beim Verlust des mobilen Endgerätes nicht verloren gingen. Dass ihre eigenen Systeme selbst nicht ganz rund liefen, damit rechnete das Unternehmen nicht. Aufgrund eines Systemfehlers war der Dienst eine Woche lang nicht erreichbar. Am Ende mussten viele Nutzer feststellen, dass alle ihre persönlichen Daten verloren waren, besonders bei geschäftlicher Nutzung des Kalender- und Adressdienstes ein riesiges Problem. Quelle: PR
Google Mail ist mittlerweile für einige Firmen schon zur lohnenden Alternative zu einem eigenen Mailserver geworden. Das erspart unter anderem lästige Wartungen. Mit Hilfe von Google Apps realisieren so immer mehr Unternehmen ihre Mail-Lösungen. Schlecht ist allerdings, dass sich die Daten so der eigenen Kontrolle entziehen und man sich in eine freiwillige Abhängigkeit begibt. Diese Abhängigkeit bekamen Nutzer im Jahr 2011 zu spüren. Betroffen waren zwar „nur“ 0,08 Prozent, doch in absoluten Zahlen fanden rund 150.000 Kunden ihre E-Mail-Postfächer leer vor. Zwar konnten die Daten wiederhergestellt werde, doch tagelang hatten die Nutzer keinen Zugriff auf ihre Mails, weder auf private noch geschäftliche. Quelle: Reuters
Nicht nur Google litt zeitweise unter einer Panne bei seinen Mailsystemen. Auch der zu Microsoft gehörende Dienst Hotmail hatte Ende 2010 große Probleme. Rund 17.000 Nutzer staunten nicht schlecht, als sie beim Einloggen feststellen mussten, dass ihre Benutzerkonten gelöscht wurden. Verursacht wurde dies durch ein internes Script von Microsoft, das eigentlich nur die Aufgabe hatte, automatisch zu testzwecken erstellte Account wieder zu löschen. Wegen eines Fehlers erwischte das Script allerdings 17.000 echte Benutzerkonten. Zwar konnte Microsoft innerhalb von 3 Tagen den Großteil der Konten wiederherstellen, doch mussten acht Prozent der Betroffenen drei weitere Tage warten. Quelle: Logo
Richtig schmerzhaft wird es für Unternehmen, wenn nicht nur keine geschäftlichen Mails mehr ankommen, sondern wenn Kunden erst gar keine Möglichkeit mehr haben, zu bezahlen. Genau das ist geschehen, als das Online-Bezahlsystem Paypal im Sommer 2009 für einige Stunden ausfiel und Millionen von Händlern im Stich ließ, deren Kunden ihnen kein Geld überweisen konnten. Kunden von Paypal sind sowohl Privatpersonen, die Artikel zum Beispiel auf der Muttergesellschaft von Paypal, Ebay, verkaufen, als auch mittelständische und große Unternehmen. Quelle: dapd
Eine Stunde Ausfall klingt nicht lang. Doch für Kunden wie Symantec, Allianz, Burberry und Electronic Arts bedeutet eine Stunde Software-Ausfall den Verlust von tausenden Arbeitsstunden. Während dieser einen Stunde versagten die Server von Salesforce.com, einem großen Anbieter von Cloud-Services, komplett ihren Dienst. Zehntausende Firmen, die ihre Kundendienste über die Plattform von salesforce.com abwickelten, waren von diesem Ausfall betroffen. Quelle: Logo
Viele große und bekannte Dienste nutzen die Amazon-Cloud AWS. Entsprechend groß ist die Anzahl der von dem Ausfall vor wenigen Wochen betroffenen Anwendungen. Dazu zählte unter anderem der populäre Bilder-Dienst Instagram. Grund für diesen Ausfall waren massive Regenfälle, Stürme und Stromausfälle im US-Bundesstaat North Virginia. So ein Vorfall ist ziemlich lästig, schlimmer wird es aber, wenn Daten verloren gehen. Genau das ist im April ebenfalls Amazon passiert. Ein falsch durchgeführtes Update sorgte dafür, dass sich das System selber lahmlegte – für insgesamt vier Tage. Ein Teil der Daten war unwiederbringlich verloren. Quelle: Amazon
Dass Systemausfälle nicht nur für die Kunden schmerzhaft und teuer sind, sondern auch für die Anbieter, bekam Rackspace zu spüren. Insgesamt drei Millionen Dollar musste der Hosting-Anbieter an unzufriedene Kunden zahlen. Wegen insgesamt vier Ausfällen im Jahr 2009 waren Websites auch von prominenten Kunden wie Justin Timberlake nicht erreichbar. Rackspace selbst nannte die Vorfälle „schmerzhaft und sehr enttäuschend“. Auch andere Hosting-Anbieter wie der Ruby-on-Rails-Dienstleister Engine Yard setzen auf die Amazon-Server und sind bei jedem Ausfall ebenfalls betroffen. Quelle: Rackspace

Ende März gab es für Chanology neue Webseiten, zu denen auch Diskussionsforen gehörten. Hier traf sich jetzt die Chanology-Gemeinde; beliebt waren zum Beispiel Enturbulation.org und WhyWeProtest.net. Auf 4chan wurde Chanology jetzt gar nicht mehr diskutiert – sie hatte sich dauerhaft auf diese neuen Seiten und in die IRC-Chatrooms verlagert. Die nächsten Monate hindurch hielt Anonymous weiter kleine Protestveranstaltungen überall auf der Welt ab, während Housh dabei mithalf, regelmäßig alle drei Tage ein Strategietreffen in #marblecake zu veranstalten, bei dem es um das weitere Vorgehen gegen Scientology ging.

Diese Treffen konnten, erinnert sich Housh, zwischen drei und sechs Stunden dauern. Er postete eine Tagesordnung, las die Berichte der einzelnen Mitglieder über ihre Aktionen und verteilte Aufgaben von der Webseitengestaltung bis zum Entwerfen eines Flyers und der Suche nach Hintergrundmusik für das nächste YouTube-Video. Die Gruppe versuchte, die Aktivitäten von Anonymous jeweils für den kommenden Monat zu planen. Bis dahin hatte noch niemand die Raids oder Streiche der Gruppe vorausgeplant.

Hier ein Beispiel für ein ›Topic‹ des #marblecake-Chatrooms, laut Chatlog vom Freitag, den 6. Juni:

03[19:44] * Topic is ’press releases, videos, ideas, collaboration, basically things we need done. ||Meeting thursday nights at 9pm EST ||/msg srsbsns for cosnews.net writefagaccounts||you should think of things you hate about the present state of chanology and want changed._’ 03 [19:44]* Set by gregg in Fri Jun 06 19:27:08

„Ich fing an, die Sache mit eiserner Hand zu leiten“, erklärt Gregg. „Nur wenige fehlten [bei den Treffen].“Wenn jemand nicht kommen konnte, gab es ein Google-Dokument, in dem das Protokoll nachgelesen konnte.

Im Juni schwand die Motivation allmählich, und in #marblecake wurde jetzt über die Anfangszeit von Chanology im Januar reminisziert. „Das war die gute alte Zeit“, schrieb ein User namens 007 im Juni. „Niemand konnte voraussagen, was IRL [im richtigen Leben] passieren wurde. Alle waren voll dabei. Ich wünschte, so viel Begeisterung konnten wir wieder hinkriegen.“

King Nerd und Megaphonebitch

Im Sommer 2008 litt Project Chanology unter Streitigkeiten zwischen den Organisatoren, und die Teilnehmerzahl der Demonstrationen im richtigen Leben, die inzwischen monatlich in großen Städten stattfanden, nahm stetig ab. Housh behauptet, die junge Bewegung habe zu jener Zeit einen Schlag einstecken müssen, als zwei Anons mit den Spitznamen King Nerd und Megaphonebitch die Adresse von #marblecake outeten, die Teilnehmer als „leaderfags“ („Führerschwuchteln“) verspotteten und die meisten dazu brachten, sich zurückzuziehen. In den kommenden Monaten ging dann Chanology nicht irgendwie zu Ende, sondern verlief im Sande. Viele Anons waren inzwischen von Project Chanology gelangweilt, auch wenn es die längste und größte Angriffsserie war, die Anonymous je gegen ein einzelnes Ziel durchgeführt hatte.

Das amerikanische Bundeskriminalamt FBI begann dagegen gerade erst mit seinen Ermittlungen. Ebenfalls im Sommer war es den „Feds“, wie sie bei den Anons hießen, gelungen, zwei der mehreren Hundert Teilnehmer an den DDoS-Angriffen auf Scientology dingfest zu machen. Sie hatten das Pech, als Opferlämmer zu dienen, und waren die Ersten von Dutzenden, die im Lauf der nächsten Jahre festgenommen wurden. Die Anons hatten bis jetzt immer geglaubt, vor Verhaftungen sicher zu sein, weil sie den Behörden verborgen blieben. Einer der Ersten, die den Irrtum erkannten, war Brian Mettenbrink, der gelangweilte Collegestudent, der im Januar 2008 die LOIC-Software ein bisschen zu lange im Hintergrund seines Rechners laufen lassen hatte.

Das FBI steht vor der Tür

„Brian?“ „Was?“ Brian Mettenbrink schlief noch auf dem Sofa im Keller, als sein Mitbewohner ihn rief. Es war ein kühler Vormittag Mitte Juli 2008, sechs Monate nachdem er die LOIC heruntergeladen und sich an den allerersten DDoS-Attacken von Anonymous gegen Scientology beteiligt hatte. Er erinnerte sich kaum noch an dieses Wochenende, an dem er sein Wohnheimzimmer kaum verlassen hatte. Inzwischen hatte er sein Luft- und Raumfahrtstudium an der Iowa State University abgebrochen und war mit einigen Freunden in ein großes, erbsengrünes Haus in Omaha, Nebraska, gezogen. Jetzt sah er sich langsam nach einem Job um, weil er mithelfen musste, die Miete aufzubringen.

„Hier sind ein paar Leute, die dich sprechen wollen.“ Brian setzte sich auf, tappte blinzelnd die Treppe hinauf und kam in T-Shirt und Unterhose, wie er geschlafen hatte, an die Tür. Dort standen zwei Männer in Anzügen, die ihre Ausweise zuckten und sich als FBI-Agenten vorstellten. Sie fragten Mettenbrink, ob er Zeit für eine „freundliche Unterhaltung“ habe. Brian stimmte zu und bat sie herein. Er hatte keine Ahnung, dass es um die DDoS-Angriffe ging.

Die Schuhsohlen der Agenten klickten auf dem Fliesenboden des Flurs, als sie ins Esszimmer gingen und sich an den hölzernen Tisch setzten. Mettenbrink schob sich die John-Lennon-Brille auf der Nase zurecht. Er war eher ratlos als ängstlich. Die Agenten begannen, ihm Fragen über die Angriffe vom Januar und über Anonymous allgemein zu stellen.

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