Aber warum ausgerechnet Scientology? Der bizarre Auftritt eines Filmstars und die ungewöhnlichen Glaubenslehren der Sekte hatten dem durchschnittlichen Nutzer der Imageboard-Foren und von eBaum’s World, der immer auf der Suche nach dem Seltsamen, Neuen und Aufregenden war, sogar eher gefallen müssen. Aber dann hatte Scientology versucht, das Tom-Cruise-Video zu unterdrücken, und das hatte eine Reaktion im Stil einer Bürgerwehr herausgefordert. Dazu kam noch die fast neurotische Reizbarkeit der Sekte. Es war bekannt, dass sie sowohl im realen Leben wie auch im Internet ihre Kritiker einzuschüchtern versuchte. Dadurch wurde sie zum perfekten „troll bait“, zum verdienten Opfer für 4chan und Konsorten und die immer besser organisierten Anons auf Partyvan. Die vorhergehenden Konflikte der Scientologen mit ihren Gegnern im Internet waren in den Medien bereits so ausführlich geschildert worden, dass die kanadische Zeitung Globe and Mail den Versuch der Sekte, das Tom-Cruise-Video auf YouTube zu löschen, als „Scientology gegen das Internet, Folge 17“ bezeichnete. Der Kampf der Sekte gegen ihre Kritiker im Internet dauerte bereits fünfzehn Jahre an und hatte 1994 noch in der guten alten Zeit der Usenet-Gruppen wie alt.religion.scientology begonnen, als ausgestiegene Mitglieder die Scientologen durch die Veröffentlichung vertraulicher interner Dokumente gegen sich aufbrachten.
Ein anderer Grund, der generell für die oft willkürlichen Anonymous-Aktionen galt, war einfach, dass sie es konnten. Die Technologie des Internets war inzwischen so weit entwickelt, dass jeder beliebige Nutzer Zugang zu kostenlosen Tools wie Gigaloader hatte und sich am Angriff auf eine Webseite beteiligen konnte. Das Tom-Cruise-Video und die Erstposterin auf /b/ waren bloß im richtigen Moment aufgetaucht. Je langer der Angriff dauerte, desto mehr Menschen horten davon und nutzten die Gelegenheit. Das „Feuer“, unter dem die Seite Scientology.org lag, lies nicht nach; wenn ein User den Gigaloader abschaltete, fingen zwei oder drei andere gerade erst an.
"Wir können alles zerstören, was wir wollen!"
Hier begann für Anonymous ein neues Kapitel. Die OP hatte in ihrem zweiten Post geschrieben: „Wenn wir Scientology bezwingen, dann können wir alles zerstören, was wir wollen!“ Sie ermahnte 4chan, man müsse als größter Chan mit den meisten Nutzern „das Richtige tun“. Der neue Thread war mit 587 Kommentaren genauso beliebt wie der vom Tag zuvor. Immer wieder wurde der Gebrauch des Gigaloaders erklärt, und viele User meldeten sich einfach mit „BIN DABEI“.
Bald nahmen die Anons auch andere Webseiten der Scientology-Sekte unter Feuer: rtc.org, img2.scientology.org und volunteerministers.org. Schließlich nahm Scientology alle Seiten für vierundzwanzig Stunden vom Netz und verlegte sie auf Mietserver der Firma 800hosting.
Unter den ungefähr zehn Software-Tools, aus denen die Anons für ihre Attacken gegen die Scientology-Seiten wählen konnten, blieb der Gigaloader am beliebtesten. Auf #xenu waren inzwischen so viele Diskussionsteilnehmer eingeloggt, dass es unmöglich wurde, zu irgendeinem Beschluss zu kommen. Wie aus dem Nichts meldete sich dann am zweiten Tag ein männlicher Anon, der außerdem Administrator der Encyclopedia Dramatica war, ganz IN GROSSBUCHSTABEN: „LEUTE, IHR MÜSST UNBEDINGT MIT DER PRESSE REDEN. GEBT EINE PRESSEERKLÄRUNG RAUS. DAS IST EINE GROSSE SACHE.“ Bis jetzt hatte noch niemand an ein Öffentlichkeitsarbeit-Team gedacht, und kaum jemand im Chatroom wollte das übernehmen. Ein paar fanden sich aber doch: Mit wenigen Klicks richtete jemand einen Chatroom namens #press ein, gab das auf #xenu bekannt, und fünf Nutzer loggten sich ein. Ganz oben im Chatroom stand das Thema: „Hier geht es darum, wo wir der Presse was sagen.“
Anonymous startet PR-Kampagne
Einer der Nutzer im Chatroom #press war ein rundgesichtiger Brillenträger, der in Boston in seinem Schlafzimmer saß, das ihm zugleich als Arbeitszimmer diente. Gregg Housh war freiberuflicher Softwareentwickler und sollte in den nächsten Monaten einer der wichtigsten Organisatoren von Anonymous werden. Ähnlich wie andere trat er später wieder in den Hintergrund, um einer neuen Generation von Galionsfiguren wie Sabu und Topiary Platz zu machen. Housh stammte aus Dallas, Texas, reiste gern, organisierte Telefonstreiche und war Stammgast im Partyvan-IRCNetzwerk. Er war bestimmend und redselig und gab äußerlich keinen Hinweis darauf, ein Computer-Nerd zu sein.
Noch als Teenager hatte er eine Haftstrafe wegen illegaler Downloads verbüßen müssen. Die Strafe war allerdings laut Gerichtsakten verkürzt worden, nachdem er sich zur Zusammenarbeit mit dem FBI bereit erklärt hatte; außerdem hatte der Richter seine schwere Kindheit als mildernden Umstand berücksichtigt. Houshs Vater hatte sich abgesetzt, als der Junge erst vier war, seine Mutter ging putzen und pflegte zusätzlich eine erwachsene Tochter, die an Epilepsie litt. Housh wollte nicht wieder ins Gefängnis zurück und bemühte sich, sauber zu bleiben, zumal er jetzt selbst eine kleine Tochter hatte. Aber was Anonymous hier mit Scientology machte, faszinierte ihn einfach. Er loggte sich im #press-Chatroom ein und schrieb spontan eine Presseverlautbarung mit dem Titel „Die Internet-Gruppe Anonymous erklärt Scientology den Krieg“; als Quelle wurde ironisch „ChanEnterprises“ angegeben. Anonymous übernahm den Text sofort.
Als die anderen Chatteilnehmer die Erklärung lasen, klang sie so dramatisch und überzeugend bedrohlich, dass sie beschlossen, auch noch ein Video daraus zu machen. Ein Mitglied der Gruppe mit dem Spitznamen VSR meldete einen YouTube-Account mit der Bezeichnung „Church0f-Scientology“ an. Dann suchten die Beteiligten einige Stunden lang urheberrechtsfreie Filmausschnitte und Musik zusammen und schrieben einen Begleittext dazu, der von einer Automatenstimme vorgelesen werden sollte. Weil die Spracherkennungssoftware so schlecht war, musste der Text in einer Art Lautschrift umgeschrieben werden – aus „destroyed“ („zerstört „) wurde etwa „dee stroid“ –, damit er in der gesprochenen Fassung verständlich wurde. Das Manuskript sah dadurch wie Buchstabensalat aus, klang aber wie gewöhnliches Englisch.
In der Endfassung intonierte dann eine Maschinenstimme, die sich wie Stephen Hawkings’ Sprachcomputer anhörte, zum Bild eines düsteren Wolkenhimmels: „Hallo, Scientology-Führung, wir sind Anonymous.“ Der Text erlegte sich keine Zurückhaltung auf: Die Autoren versprachen, „die Scientology-Sekte in ihrer gegenwärtigen Form systematisch zu demontieren ... Zum Wohl ihrer Mitglieder, zum Wohl der Menschheit – und aus Schadenfreude – werden wir sie aus dem Internet verjagen.“ Housh und die anderen selbst ernannten PR-Leute nahmen es natürlich nicht ernst. Doch während sie noch an der Endfassung des Videos arbeiteten und dabei ihre Späße über diesen „Krieg“ machten, der einer der lustigsten Internetstreiche aller Zeiten werden, aber höchstens ein paar Tage dauern konnte, wurde einer von ihnen, ein französischer Doktorand, plötzlich ernst.
„Leute, was wir hier tun, wird die Welt verändern“, meinte er. Die anderen Gruppenmitglieder waren nach einem Moment der Verwunderung deutlich amüsiert, wie sich Housh erinnert. „Gtfo“, schrieb einer. „Lass das dumme Geschwätz.“ Aber der französische Anon ließ sich nicht beirren. Das Video, an dem sie gerade arbeiteten, würden Zehntausende Menschen sehen. Hier begann etwas Großes, „und wir wissen noch gar nicht, was daraus wird“. Housh und die anderen zuckten mit den Schultern und machten, so Housh, einfach weiter. Sie nannten das Video Message to Scientology („Botschaft an Scientology“), stellten es am 21. Januar auf YouTube ein und verlinkten es über die Chans und auf Digg. Weil die meisten von ihnen die Nacht durchgearbeitet hatten, fielen sie danach erst einmal ins Bett.