Internet Die Netzkultur ist im Alltag angekommen

In Berlin ging am Freitag die Internet-Konferenz re:publica 2009 zu Ende. Die Veranstaltung zeigte, wie das Netz den Alltag verändert. WirtschaftsWoche-Redakteur Sebastian Matthes schreibt, weshalb ein solches Blogger-Treffen relevant ist und analysiert die wichtigsten sechs Entwicklungen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

1. Social Media, also Blogs, Social Networks und Twitter, werden Mainstream

Teilnehmer der Konferenz Quelle: dpa

Vor wenigen Jahren waren Veranstaltungen wie die re:publica vor allem Expertenrunden. Wer hier auftauchte, gehörte zur Internet-Elite, einer kleinen Zielgruppe, deren Unterhaltungen nur wenige folgen konnten. Diese Elite ist nicht mehr unter sich. In den vergangenen Tagen auf der re:publica waren viele Menschen, die gerade erst den Kurznachrichtendienst Twitter für sich entdeckt haben, die zwar ein Blog schreiben, aber auch erst seit einigen Monaten, Medizinstudenten, Philosophie-Doktoranden oder Startup-Gründer: Mit 1400 Besuchern war die dritte re:publica nicht nur ausverkauft, sie war auch doppelt so groß, wie die im vergangenen Jahr. Es war voll, immer wieder zu voll.

Das große Interesse zeigt, dass Kommunikationskanäle wie Social Networks und Weblogs nichts Besonderes mehr sind. Sie sind keine Instrumente mehr, die nur von einer kleinen Experten-Elite genutzt werden. Sie sind im Alltag der Massen angekommen: Die Zahl der Twitter-Accounts in Deutschland steigt drastisch, ebenso die Zahl der Menschen, die in Netzwerken wie Facebook regelmäßig Statusmeldungen abgeben oder selbst gedrehte Videos ins Netz stellen.

Wir leben nicht mehr in einer „Read-Only-Kultur". Immer mehr Mediennutzer verwandeln sich von reinen Konsumenten in Produzenten, die selber Inhalte erstellen, ob Blogbeiträge oder Videos. Diese Entwicklung findet zwar schon seit einer Weile statt, doch vor allem für „digital natives", die mit dem Internet aufgewachsene Generation, gehören Youtube und MySpace so zum Alltag, wie für ihre Eltern Tatort und Tagesschau. Wir leben also in einer „Read-And-Write-Kultur", wie Internet-Vordenker Lawrence Lessig in seinem mitreißenden, missionierenden Vortrag feststellte.

2. Social Media ist mächtig...

... wie sehr, zeigten gleich mehrere Vorträge auf der re:publica. Am deutlichsten wurde das bei dem Auftritt der Internetaktivistin Esra'a Al Shafei aus Bahrain. Mit der bloßen Macht von Blogs, Twitter, Facebook und Youtube organisiert sie erfolgreiche Kampagnen gegen Regierungen von Ländern wie Ägypten und Iran. Auf ihrer Plattform Mideastyouth.com kommen zahlreiche Minderheiten aus der Region zusammen: Schwule, Alleinerziehende und Islamkritiker, Menschen, die bis dahin keine Stimme hatten im Mittleren Osten.

Sie organisieren Protestaktionen mit Videos, die sich über die ganze Welt verbreiten, mit Texten und Aufrufen, etwa Postkarten an die iranische Regierung zu schreiben.

Aber Internet-Kampagnen sind kein Phänomen der arabischen Welt. Das beweist die „Atheist Bus Campaign", eine Initiative aus Großbritannien, die seit wenigen Monaten für die Belange von Atheisten kämpft. Hervorgegangen war die Atheist Bus Campaign aus einem kontrovers diskutierten Blogbeitrag auf der Seite des britischen "Guardian". Die Organisatoren wollten ihren Slogan, „es gibt wahrscheinlich keinen Gott. Also hör auf, Dich zu sorgen und genieße Dein Leben", auf öffentlichen Verkehrsmitteln platzieren.

550 Britische Pfund wollte die Organisation dafür einsammeln. Schon nach wenigen Stunden war das Ziel erreicht. Und nach einigen Wochen hatte die Kampagne 152.000 Pfund zusammen. Ein Riesenerfolg, der ohne das Internet nicht möglich gewesen wäre. Auf Plattformen wie Twitter und Facebook wurde die Idee binnen Stunden um die ganze Welt getragen.

Solche Aktionen wird es in den nächsten Jahren noch viel häufiger geben. Denn die meisten Plattformen stehen, vor allem in Europa, noch am Anfang. Und immer mehr Politiker, Unternehmer und Spin-Doktoren werden versuchen, diese Dynamik für ihre Ideen zu nutzen.

3. Twitter wird zu einem Massenphänomen

Für die Verbreitung von Internet-Kampagnen wird Twitter immer wichtiger. In den USA ist der Kurznachrichtendienst bereits Maintream, Sportclubs haben einen Account, Prominente, Politiker und immer mehr Unternehmen. Kein Wunder, dass das neue Instrument auf der re:publica zu den wichtigsten Gesprächsthemen gehörte. Twitter ist hier für die meisten irgendwas zwischen einem Selbstmarketing-Tool und einer Möglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben.

Zu den Höhepunkten der Veranstaltung gehörte übrigens die Twitter-Lesung. Die Organisatoren haben dafür vor der Veranstaltung besonders lustige, geistreiche und platte „Tweets" ausgewählt. Tweets sind die Twitter-Meldungen, die niemals länger sind als 140 Zeichen. Vorgelesen wurden sie dann von prominenten Twitterern wie Sascha Lobo und Twitter-Kritikern wie Stefan Niggemeier, der durch das Bildblog bekannt wurde.

Doch wer kam, merkte schnell, dass es eine große Kunst ist, Gefühlszustände oder Gedanken auf 140 Zeichen zuzuspitzen: Zum Teil vulgär, zum Teil feinsinnig und immer wieder wahnsinnig komisch.

4. Der Wahlkampf wird von Social Media beeinflusst

Berliner als Werbegeschenk auf Quelle: dpa

Seit dem Wahlkampf von Barack Obama schaut die politische Welt auf das Web 2.0.

Nachdem die meisten Politiker inzwischen eine Webseite haben, die mehr oder weniger gut gepflegt wird, und immer mehr Politiker auch bloggen oder bloggen lassen, legen sie auch zunehmend Profile bei Twitter, Facebook und Co. an.

Auch das wurde in Berlin diskutiert. Und vielleicht hätten sich noch mehr Politiker oder deren Medienberater blicken lassen sollen: Denn bei der re:publica sitzen die Menschen, die das Web 2.0 gestalten. Leute wie Markus Beckedahl von Netzpolitik.org (siehe Video-Interview), Sascha Lobo, einer der bekanntesten Twitterer des Landes und Stefan Niggemeier, Medien-Top-Blogger (Bildblog). Und so wurden die Möglichkeiten des Web 2.0 für die Politik weitgehend ohne Politiker diskutiert - bisher jedoch mit eher mäßigem Erfolg.

Beckedahl, der sich regelmäßig mit der modernen Informationsgesellschaft sowie der Politik im Netz beschäftigt, sprach über die diversen Anstrengungen der Deutschen Parteien, den erfolgreichen Online-Wahlkampf Obamas bei der kommenden Bundestagswahl auf die eine oder andere Art zu kopieren.

Dennoch erwartet er für die kommende Wahl, dass „jeder halbwegs motivierte Kandidat ein Profil bei Facebook haben, vielleicht twittern und ab und zu bei Youtube ins Internet sprechen" wird, sagt Beckedahl. Schon jetzt gibt es Politiker wie Volker Beck, der parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, die sich seiner Meinung nach im Internet überzeugend präsentieren, aber auch eher peinliche Politiker-Tweets (Einträge auf Twitter) über Zahnarztbesuche oder Aktivitäten am Würstchenstand.

5. Social Media wird zum Wirtschaftsfaktor

Die Professionalisierung von Weblogs nimmt zu, auch das war ein wichtiges Thema auf der re:publica. Zahlreiche Vertreter der Szene waren hier, die längst ein mehr oder weniger profitables Weblog schreiben. Darunter auch Kai Müller von Stylespion.de, der seinen Job aufgab, um hauptberuflich über Innenarchitektur und Design zu bloggen. Aber auch immer mehr Unternehmen lassen sich beraten, wie sie die neuen Kanäle für sich nutzen können. So wird selbst in großen deutschen Konzernen inzwischen über den Einsatz von Twitter diskutiert.

6. Die Internetkultur verändert auch Konferenzen

Die re:publica unterscheidet sich grundlegend von Messen. Hier werden nicht die Referenten eingeflogen, die kurz reden und dann wieder verschwinden. Die re:publica ist Kommunikation. Nach jedem Vortrag gibt es mehr oder weniger ausführliche Diskussionsrunden, die meisten Referenten sind vor und nach den Vorträgen hier und stehen für Gespräche zur Verfügung.

Bei manchen Veranstaltungen konnten die Besucher sogar auf einer Twitter-Wand das Geschehen auf der Bühne per Twitter kommentieren. Mehr Interaktivität und Kommunikation geht kaum.

Manchmal war es auch zuviel. Bei vielen Vorträgen hatte man das Gefühl, dass nur noch eine Minderheit im Publikum noch wirklich zuhört. Alle anderen tippen auf ihren Laptops, iPhones, Mini-PCs und Blackberrys herum, viele haben mehrere Geräte gleichzeitig auf dem Schoß und füttern damit zahlreiche Kommunikationskanäle zugleich. Aber das ist kein Problem. Wer vor lauter Bloggen und Twittern nicht zugehört hat, kann die Veranstaltung hinterher noch einmal im Internet ansehen make.tv/republica2009.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%