Als Brexit-Wahlkämpfer kürzlich eine Website mit Wahlversprechen löschten, zeigten Sie auf Twitter einen Weg, wie man die Inhalte weiterhin findet. Seit Jahren plädieren Sie für ein öffentliches Internetarchiv. Warum ist das so entscheidend?
Löschen ist ein politischer Akt. Wenn Menschen versuchen, Dinge aus der Infosphäre zu entfernen, versuchen sie, unser Gedächtnis zu verändern. Wir dürfen das nicht zulassen. Geschichte ist entscheidend, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was richtig und falsch lief und welche Fehler gemacht wurden. Deshalb müssen wir die Infosphäre schützen. Wir brauchen daher dringend Initiativen, die alles protokollieren, was online abläuft.
Klingt grauenhaft. Alles sichtbar, für immer.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich spreche ausschließlich über öffentliche Informationen: Medieninhalte, Politikeraussagen, Wahlkämpfe. Dinge, die die Menschen bewusst sichtbar gemacht haben. Es geht darum, Geschichte zu protokollieren. Wir sollten jederzeit die Möglichkeit haben, in der Infosphäre zurückzugehen, um nachzusehen, was jemand tatsächlich gesagt hat. Ich meine damit keine privaten Informationen und Inhalte.
Dennoch könnte das unser Verhalten verändern. Wer traut sich heute noch, laut zu singen, wenn das Gegenüber ein Smartphone zückt? Niemand will peinlicher YouTube-Star sein.
Ja, wir sehen eine Veränderung des Gefühls für Privatheit. Wir haben als Gesellschaft stets neue Antworten auf die Frage, was öffentlich ist, was nicht und für wen. Für meine Großmutter war Küssen in der Öffentlichkeit undenkbar. Für meine Eltern schon okay. Und heute sind viele Menschen diesbezüglich völlig freizügig und gleichzeitig total sensibel und zurückhaltend, wenn es um ihre persönlichen Interessen geht. Es bedeutet nicht das Ende der Privatsphäre, es bedeutet eine andere Privatsphäre.
Doch in der Infosphäre sind die Folgen von Sichtbarkeit dauerhafter.
Das ist eben ein kultureller Wandel. Die Gesellschaft wird das von alleine lernen, so wie wir gelernt haben, sicher über Straßen zu kommen. Die jetzige Generation wird der nächsten beibringen, wie man in diesem Mix aus Online- und Offlinerealität am besten unterwegs ist.
Sie gehören zum Google-Expertenrat zum sogenannten Recht auf Vergessenwerden. Kollidiert Googles Größe nicht mit Ihrem Ansatz, die Macht großer Konzerne im Netz einzudämmen?
Ja, aber der Konzern ist nicht das einzige Gebilde, das zu viel Macht konzentriert. Ich denke auch an Amazon, Apple und Facebook. Sie haben das Machtvakuum gefüllt, das die Politik versäumt hat. Als das Internet etwas signifikant Alltägliches wurde, begriff die politische Klasse nicht, dass diese digitale Revolution mehr ist als ein sozialer Wandel. Nun ist diese Infosphäre in der Hand weniger privater Konzerne. Sie beeinflussen gleichzeitig, was in der analogen Welt passiert. Die erste Erscheinung des türkischen Präsidenten Erdoğan nach dem gescheiterten Putschversuch war in der FaceTime-App auf einem Apple iPhone. Ich bin besorgt, dass diejenigen, die Kontrolle über entscheidende Fragen haben, die Antworten und letztlich die Realität gestalten.