Noch vor wenigen Monaten quetschten sie sich mit ihren Mitarbeitern in winzige Ein-Zimmer-Büros in den Hinterhöfen der Millionenmetropole. Wer dagegen heute in São Paulo die erfolgreichsten Startups Brasiliens besucht, muss sich auf lange Fahrstuhlfahrten in den besten Businesslagen einstellen: Unternehmen wie der Rabattanbieter Groupon oder der Online-Klamottenhändler Dafiti belegen hier mit ihren Firmenzentralen gleich mehrere der obersten Stockwerke von Hochhäusern – jeder von ihnen mit 800 Mitarbeitern, die meisten Mitte 20 und mit ihrer Standard-Kluft aus T-Shirt, Sneakers und Chinos nicht minder lässig gekleidet als ihre Pendants im Silicon Valley oder Berlin-Mitte.
Brasiliens Internet-Boom
Bei Groupon herrscht gerade kreatives Chaos: In einer improvisierten Cafeteria führen Personaler Einstellungsgespräche, direkt daneben verhandeln Einkäufer mit Zulieferern, weiter hinten pauken Mitarbeiter die neue Software. Und mittendrin empfängt der Vorstandschef seinen Gast. Florian Otto, ein 31 Jahre junger Deutscher und zweifach promovierter Mediziner, der zuvor bei McKinsey in Brasilien gearbeitet hat, strahlt: „Wachstum ist wie eine Droge.“ Innerhalb weniger Wochen hat er Groupon trotz des geringeren Pro-Kopf-Einkommens der Brasilianer zum wichtigsten Standort des Rabattanbieters weltweit gemacht. Otto, inzwischen selbst Startup-Finanzier und beteiligt an einem halben Dutzend Unternehmen, schwärmt: „Brasiliens Internet-Boom steht noch ganz am Anfang.“
Mit seiner Euphorie steht Otto an der Spitze eines neuen Trends. Vor allem Geldgeber aus Europa und dem Silicon Valley wie etwa der Ex-Facebook-Finanzier Accel Partners schwören auf das lateinamerikanische Schwellenland. Mit von der Partie sind auch die deutschen Brüder Marc, Oliver und Alexander Samwer, die seit mehr als zehn Jahren in Europa vor allem Klon-Versionen erfolgreicher US-Online-Unternehmen hochziehen. Das Geschäftsprinzip kopieren sie jetzt in Brasilien.
E-Commerce setzt sich durch
Dabei schielen die drei Deutschen vor allem auf den Internet-Handel, der in Brasilien derzeit bereits ein Umsatzvolumen von 20 Milliarden Dollar ausmacht und jährlich um rund 40 Prozent wächst, wie der Internet-Dienst eMarketer feststellt. Schnelle Internet-Verbindungen sowie sichere Zahlsysteme machten das 190-Millionen-Volk in kürzester Zeit zu begeisterten Internet-Shoppern. „Vor zwei Jahren hat hier kaum jemand über E-Commerce geredet“, sagt der Deutsch-Brasilianer Philipp Povel. „Derzeit verändert es das Einkaufsverhalten der Brasilianer radikal.“
Suche nach der Exit-Story
Povel ist einer der vier Partner, der das Online-Modehaus Dafiti nach dem Vorbild von Zalando in Europa zur Nummer eins in Brasilien machen will. Zalando verkauft online Bekleidung und gehört zu zehn Prozent dem deutschen Einzelhandelskonzern Tengelmann. Nach gut einem Jahr online erwirtschaftet Dafiti nach Schätzungen des Wirtschaftsmagazins „Exame“ bereits einen Umsatz von 170 Millionen Euro. Umgerechnet 20 Millionen Euro Startkapital bekamen Povel und seine drei Partner von Rocket Internet aus Berlin.
Nischen ohne Konkurrenz
Dahinter stehen die Brüder Samwer. Sie gründeten nach den Anfangserfolgen von Dafiti im Oktober 2011 eine Niederlassung von Rocket Internet in Brasilien und wollen dort 100 Millionen Euro investieren. Sechs Startups haben sie schon zum Laufen gebracht, insgesamt 30 sollen es dieses Jahr werden. „Es gibt noch viele Nischen in Brasilien ohne Konkurrenz, wo sich Millionen umsetzen lassen“, sagt Wilson Cimino, Gründer von Rocket Internet in Brasilien.
Die Gründer aus Deutschland bringen ihre Erfahrung mit: Povel hat zuvor zusammen mit seinem Geschäftspartner Malte Huffmann, 29, das Internet-Unternehmen MyBrands, ein Online-Designer-Outlet, das Markentextilien im Internet anbot, hochgezogen und Mitte 2010 an den Konkurrenten Zalando verkauft, ehe er sich nach Brasilien aufmachte.
Auch seine drei Partner sind Newcomer in Brasilien – und an ihren Akzenten im Portugiesischen deutlich auszumachen: Die Deutschen Huffmann und Malte Horeyseck, 30, sowie der Franzose Thibaud Lecuyer, 31, haben erst im vergangenen Jahr Portugiesisch gelernt. Daneben haben sie sich in das komplizierte Businessumfeld Brasiliens mit seiner wuchernden Bürokratie, seinem komplizierten Steuersystem und speziellen Arbeitsgesetzen eingearbeitet. So müssen Vertreter nach einem Jahr automatisch fest angestellt oder einmal bezahlte Boni immer bezahlt werden.
Das ist erst der Anfang
Sie alle haben einen gigantischen Markt mit 190 Millionen Konsumenten im Visier – potenzielle Kunden mit weit höherem Pro-Kopf-Einkommen als etwa Inder oder Chinesen, zudem extrem konsumfreudig und wenig verschuldet. Daher zählt die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas zu den wichtigsten Märkten für Konsumartikel weltweit – von Avon bis Nestlé. Und der Handel übers Internet steht noch ganz am Anfang.
Erfolg der digitalen Unternehmensgründer
Obwohl sonst in Brasilien ausländische Vorstände in lokalen Unternehmen eher die Ausnahme sind, ist das in der Startup-Szene anders. Zwar sind brasilianische Online-Dienste wie Rabattanbieter Peixe Urbano, Discount-Sucher Buscapé oder der Venture-Capital-Fund Monashees auch international beachtete Akteure. „Doch viele brasilianische Unternehmer und Finanziers sind mit dem Potenzial des Internets noch wenig vertraut“, sagt Groupon-Statthalter Otto. „Das ändert sich jetzt mit dem Erfolg der digitalen Unternehmensgründer.“ Und die sind motiviert. Skype-Gründer Niklas Zennström etwa, der selber in einen brasilianischen Online-Shop für Babyartikel investiert hat, sagt: „Wir haben zu viel Zeit in China verbracht, ohne einen Fuß auf den Boden zu bekommen. In Brasilien ist das anders.“
Gerade haben Redpoint und eVentures, zwei führende Venture-Capital-Fonds aus dem Silicon Valley, verkündet, sie wollten gemeinsam einen Investmentfonds nur für Brasilien auflegen, um sich hier langfristig zu engagieren: „Wir wollen unsere Investitionen zwischen fünf und sieben Jahre halten“, sagt eVentures-Gründer Mathias Schilling. „Es können auch mehr als zehn Jahre werden.“ Als attraktive Branchen neben E-Commerce gelten Mobilfunk, Medien und Cloud Computing, sagt Schilling.
Skepsis bei den Investoren
Stürzen sich vornehmlich Ausländer ins Online-Getümmel, zögert die brasilianische Business- und Finanzelite noch gegenüber dem Online-Handel. Das liegt auch daran, dass bisher keines der neuen Unternehmen den Börsengang gewagt hat. „Noch fehlen erfolgreiche Exit-Storys der Investoren“, sagt der Startup-Experte Fernando de la Riva vom Beratungsunternehmen Concrete Solutions, der allerdings ein halbes Dutzend Börsengänge der Newcomer in den kommenden Monaten erwartet. Die Zurückhaltung der Investoren könnte auch an den bisher enttäuschenden Erfahrungen des größten börsengeführten Unternehmens der Branche liegen: B2W ist der vom Einzelhändler Lojas Americanas in Brasilien kontrollierte E-Commerce-Gigant Lateinamerikas mit einem Umsatz von 2,3 Milliarden Dollar.
2011 schloss B2W mit einem Kursverlust von 70 Prozent als schlechteste Aktie in São Paulo ab. Nach dem gerade gemeldeten fünften Quartalsverlust in Folge haben alle Investmentbanken ihre Empfehlungen für den Internet-Anbieter zurückgezogen. Kein Analyst erwartet, dass B2W schnell seine Marge verbessern wird. Und das liegt vor allem an der wachsenden Konkurrenz der neuen E-Commerce-Anbieter, den Jungs aus den einstigen Hinterhof-Butzen.