Kriminalität Wie Big Data den Kampf gegen Terror unterstützt

Software wird immer besser darin, Kriminalität vorherzusagen. Lässt sich so auch der Terror stoppen? Wie Fahnder digitale Spuren nutzen, um Terroristen zu finden – und was eine Pizza-Lieferung damit zu tun hat.

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Digitaler Kampf gegen den Terror. Quelle: Hassân Al Mohtasib für WirtschaftsWoche

Polizisten und Geheimdienstler aus ganz Europa haben ihn gejagt: Salah Abdeslam, den letzten flüchtigen Terrorverdächtigen der Pariser Anschläge vom November 2015 mit 130 Toten. Am Ende war es wohl ein geradezu banales Detail, das am 18. März zu seiner Festnahme in Brüssel führte: Eine ungewöhnlich große Pizzalieferung in eine konspirative Wohnung habe die Fahnder stutzig gemacht, zitiert das Brüsseler Onlinemagazin „Politico.eu“ Sicherheitsbeamte.

In dem von einer einzelnen Frau bewohnten Apartment hielten sich offensichtlich zahlreiche Personen auf. Potenziell Hochgefährliche aus Sicht der Sicherheitsbehörden, denn im Haus lebte auch ein Freund von Abdeslam, polizeibekannt dafür, Straftätern Unterschlupf zu gewähren. Es ist kurz nach halb vier freitagnachmittags, als die Sicherheitskräfte die Wohnung stürmen – und Abdeslam festsetzen.

Erfolgreich waren die Ermittler in dieser enorm aufwendigen Fahndung wohl auch, weil ihnen in bisher kaum gekanntem Maß digitale Analysen Indizien lieferten. Sie hatten Tausende Telefonate, Handybewegungsprofile, Onlinestatusmeldungen, Chat-Protokolle, Log-Dateien auf App-Servern, Personenprofile in sozialen Netzen und weitere elektronische Quellen ausgewertet. Kommissar Computer, das zeigt nicht nur die erfolgreiche Jagd auf Abdeslam, ist aus moderner Polizeiarbeit nicht mehr wegzudenken.

Große Terroranschläge in Europa

Software sagt Verbrechen vorher

Die Elektronenhirne unterstützen die Ermittler dabei, Bewegungsdaten zu analysieren, digitale Kommunikation auszuwerten oder verborgene Beziehungen zwischen Verdächtigen zu enthüllen. Mittlerweile hilft Software den Behörden sogar, Straftaten zu verhindern, bevor sie überhaupt geschehen.

Predictive Policing – vorausschauende Polizeiarbeit – heißt der Trend, der auf den ersten Blick verblüffend an Steven Spielbergs Science-Fiction-Thriller „Minority Report“ mit Tom Cruise in der Hauptrolle erinnert. Darin können drei Menschen, die „Precogs“, Morde voraussagen. Dank ihrer Visionen ermittelt und verhaftet die Polizei künftige Täter, bevor sie die Tat begangen haben.

Polizeibehörden in den USA aber auch in Europa und Deutschland nutzen bereits entsprechende Prognosesoftware, um etwa Einbrüche zu verhindern, ehe sie passieren. Müsste dann, so drängt sich die Frage auf, Kommissar Computer nicht auch Anschläge wie zuletzt in Brüssel mit 32 Toten einigermaßen verlässlich vorhersagen können?

Wie Big Data Ihr Leben verändert
Dicht an dicht: Wenn die Autos auf der Straße stehen, lässt sich das mit moderner Technologie leicht nachvollziehen. Zum einen gibt es Sensoren am Straßenrand, zum anderen liefern die Autos und die Smartphones der Insassen inzwischen Informationen über den Verkehrsfluss. Diese Daten lassen sich in Echtzeit auswerten und mit Erfahrungswerten abgleichen – so wird klar, wo gerade ungewöhnlich viel los ist und beispielsweise eine Umleitung Sinn ergeben würde. Ein Pilotprojekt dazu lief in der Rhein-Main-Region, allerdings nur mit rund 120 Autos. Langfristig ist sogar das vollautomatische Autofahren denkbar – der Computer übernimmt das Steuer. Eines ist aber klar: Alle Big-Data-Technologien helfen nichts, wenn zu viele Autos auf zu kleinen Straßen unterwegs sind. Quelle: dpa
Fundgrube für Forscher: Google Books ist nicht nur eine riesige digitale Bibliothek. Die abertausenden eingescannten Texte lassen sich auch bestens analysieren. So kann nachvollzogen werden, welche Namen und Begriffe in welchen Epochen besonders häufig verwendet wurden – ein Einblick in die Denkweise der Menschen. Der Internet-Konzern nutzt den Fundus außerdem, um seinen Übersetzungsdienst Translate zu verbessern. Quelle: dpa Picture-Alliance
Schnupfen, Kopfschmerz, Müdigkeit: Das sind die typischen Symptome der Grippe. Aber wann erreicht die Krankheit eine Region? Bislang konnte man das erst feststellen, wenn es zu spät war. Der Internet-Riese Google hat ein Werkzeug entwickelt, mit dem sich Grippewellen voraussagen lassen: Flu Trends. Bei der Entwicklung hielten die Datenspezialisten nicht nach bestimmten Suchbegriffen Ausschau, sondern nach Korrelationen. Wonach also suchten die Menschen in einer Region, in der sich das Virus ausbreitete? Sie filterten 45 Begriffe heraus, die auf eine unmittelbar anrollende Grippewelle hindeuten – ohne dass irgendein Arzt Proben sammeln müsste. Quelle: dpa Picture-Alliance
Aufwärts oder abwärts? Die Millionen von Kurznachrichten, die jeden Tag über Twitter in die Welt gezwitschert werden, können Aufschluss über die Entwicklung der Börsen geben. Denn aus den 140 Zeichen kurzen Texten lassen sich Stimmungen ablesen – das hat ein Experiment des renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) gezeigt. Je intensiver die Emotionen, desto stärker die Ausschläge. Marktreife Investitionsmodelle, die auf Tweets setzen, gibt es indes noch nicht. Quelle: dpa
Lotterie am Himmel: Die Preise von Flugtickets lassen sich für Laien kaum nachvollziehen. Auch eine frühe Buchung garantiert kein günstiges Ticket, weil die Fluggesellschaften ständig an der Schraube drehen. Das wollte sich der Informatiker Oren Etzioni nicht gefallen lassen: Er sammelte mit seiner Firma Farecast Millionen von Preisdaten, um künftige Preisbewegungen zu prognostizieren. 2008 kaufte Microsoft das Start-up, die Funktion ist jetzt in die Suchmaschine Bing integriert. Quelle: dpa Picture-Alliance
Jeder Meter kostet Zeit und Geld. Daher wollen Logistikunternehmen ihre Fahrer auf kürzestem Wege zum Kunden lotsen. Der weltgrößte Lieferdienst UPS führt dafür in einem neuen Navigationssystem Daten von Kunden, Fahrern und Transportern zusammen. „Wir nutzen Big Data, um schlauer zu fahren“, sagte der IT-Chef David Barnes der Nachrichtenagentur Bloomberg. Im Hintergrund läuft ein komplexes mathematisches Modell, das auch die von den Kunden gewünschten Lieferzeiten berücksichtigt. Quelle: dpa Picture-Alliance
Es waren nicht nur gute Wünsche, die US-Präsident Barack Obama 2012 zur Wiederwahl verhalfen: Das Wahlkampf-Team des Demokraten wertete Informationen über die Wähler aus, um gerade Unentschlossene zu überzeugen. Dabei griffen die Helfer auch auf Daten aus Registern und Sozialen Netzwerke zurück. So ließen sich die Bürger gezielt ansprechen. Quelle: dpa

Forschung liefert kaum Ergebnisse

„Das ist derzeit eine der am intensivsten diskutierten Fragen in der Sicherheitsszene“, sagt Thomas Feltes, Leiter des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. In die Forschung fließe jede Menge Geld und noch viel mehr Gehirnschmalz. „Nur leider bisher ohne erkennbare Ergebnisse.“ Was nicht an der Unfähigkeit der Ermittler liegt – sondern mit der Besonderheit terroristischer Anschläge zu tun hat.

Bisher helfen Computersysteme wie SPSS von IBM oder Predictive Crime Analytics von Hitachi Data Systems vor allem bei überschaubarer Kriminalität. Polizeichefs von US-Großstädten wie etwa Memphis lassen sich teils seit Jahren von Prognoseprogrammen errechnen, in welchen Straßenzügen in den nächsten Stunden konkret Einbruchs- und Bandenkriminalität, Drogenhandel oder Gruppenschlägereien drohen. Dort schicken sie Einsatzteams präventiv auf Streife.

Wohnungseinbrüche sind leichter zu berechnen als Terroranschläge

„In der Tat liefern die Systeme bei solchen Kriminalitätsarten recht verlässliche Prognosen akut gefährdeter Quartiere“, bestätigt auch der Bochumer Kriminologe Feltes. Grundlage der Berechnungen sei eine Vielzahl ortsbezogener Daten, deren Verknüpfung mit Informationen über frühere Verbrechen und das Wissen um sich wiederholende kriminelle Handlungsmuster.

Inzwischen setzen auch Europas Polizeibehörden auf die Prognosekraft der Rechner. Wohl nicht ganz zufällig heißt die vom Institut für musterbasierte Prognosetechnik (IFMPT) in Oberhausen entwickelte Analysesoftware „Precobs“. Das steht für Pre Crime Observation System und beschreibt eine Kernerkenntnis klassischer Kriminalistik: „Speziell bei Wohnungseinbrüchen belegen internationale Studien, dass es in Vierteln, in denen eingebrochen wurde, oft kurz darauf im direkten Umfeld erneut zu Einbrüchen kommt“, sagt der Soziologe Thomas Schweer, Gründer des IFMPT.

Welche Potenziale und Herausforderungen Big Data birgt
Big Data optimiert die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, Produktideen und Dienstleistungen Quelle: Fotolia
Big Data schafft Abhilfe bei noch nicht ausreichenden datenbasierten Analysemethoden Quelle: Fotolia
Big Data verbessert die Steuerung operativer Prozesse und optimiert strategische Entscheidungen Quelle: Fotolia
Die größte Herausforderungen liegen im Datenschutz und in der Datensicherheit Quelle: dpa
Das größte Potential liegt in der Mobilität und Industrie Quelle: dpa
Die größten Herausforderungen liegen im Gesundheitsbereich Quelle: dpa/dpaweb
Big-Data-Investitionen fließen vor allem in die Aus- und Weiterbildung des Personals Quelle: dpa/dpaweb

Dieser Trend ist offenbar so robust, dass die Polizeibehörden in München und Nürnberg Precobs bereits nutzen, genauso wie Kollegen in einigen Schweizer Kantonen. Stuttgart und Karlsruhe erproben das System. In Köln und Duisburg testet die Polizei Prognosen auf Basis der IBM-Analysesoftware.

Bei Terrorismus gelten rationale Prämissen nicht

Wenn also Datenanalyse Polizeistreifen recht zielsicher vorab in kriminalitätsgefährdete Viertel führt. Wenn das elektronische Puzzlespiel Fahnder besser denn je auf die Spur Terrorverdächtiger bringt. Warum hat all die digitale Prognostik bei den Brüsseler Anschlägen so dramatisch versagt?

Weil die statistischen Methoden, die bei Massenvergehen wie Einbrüchen ermöglichen, Handlungsmuster zu erkennen, „bei Terrorismus, erst recht fundamentalistischem, nicht greifen“, so Precobs-Entwickler Schweer. Die Prämissen rationalen Handelns, das etwa Serientäter bei Diebstählen leite, würden bei Selbstmordattentätern nicht gelten. Zudem sei die Zahl von Terrortaten für eine Datenanalyse „Gott sei Dank viel zu gering“, so der Soziologe.

Die Zahl der Anschläge in Westeuropa ist heute niedriger als noch vor 30 Jahren

In der Tat. Trotz der – gerade nach Paris und Brüssel – gefühlt hohen terroristischen Bedrohung, ist das Risiko extrem gering, hierzulande Opfer eines Anschlags zu werden. Nur gut 200 Taten mit terroristischem Hintergrund – und vier Toten – ereigneten sich 2014 in ganz Westeuropa (siehe Grafik). Die Zahl der Verkehrstoten in der EU lag im gleichen Jahr bei knapp 25.700. Einschließlich der Anschläge von Paris und Brüssel summiert sich die Zahl der Terroropfer seit 2014 EU-weit auf rund 195.

Analysten brauchen Big Data

Die Informationen über die wenigen Täter lassen kaum statistisch verwertbare Rückschlüsse zu. „Predictive Policing braucht Big Data“, sagt Ludwig Schierghofer, Leiter der Abteilung Staatsschutz und Terrorismusbekämpfung beim Bayrischen Landeskriminalamt. „Doch was wir bei der Terroranalytik haben, ist bestenfalls Very Little Data.“

Nicht einmal in den USA sieht das besser aus, die seit den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 in enormem Umfang potenziell kriminalitätsrelevante Daten erfassen. „Es ist nicht so, dass sie einfach Millionen von Daten sammeln, und der Computer spuckt dann die Terrorverdächtigen aus“, sagt John Hollywood. Der Politologe arbeitet für die Rand Corporation, den legendären US-Thinktank, der Sicherheitsbehörden berät. „Wer das verspricht, weckt falsche Hoffnungen“, meint er. Zu autark und diskret würden Terrorzellen heute arbeiten.

Die Gegner des Islamischen Staates

Zudem haben es die Fahnder mit ganz verschiedenen Tätergruppen zu tun: Sie reichen von sogenannten Gefährdern, bekannt für ihren politisch oder pseudoreligiös terroristischen Hintergrund, die sich hoch konspirativ verhalten; über bekannte Straftäter, etwa aus der Rauschgiftkriminalität, aber ohne erkennbaren Bezug zur Terrorszene; bis hin zu unauffälligen, radikalisierten Tätern wie die Attentäter vom 11. September 2001, die in Hamburg studierten, ohne Verdacht zu erregen.

Menschenansammlungen sind stark gefährdet

Statt also Terroranschläge vorhersagen zu wollen, versuchen Forscher wie Hollywood, Denkmuster der Attentäter per Datenanalyse zu entschlüsseln. Etwa indem er die zahlreichen Anschläge in Israel auswertet.

Ein Ergebnis: Terroristen schlagen oft zu, wenn ihre Ideologie unter Druck gerät; wie aktuell beim „IS“ in Syrien und im Irak. Und Attentäter kopieren zumindest dort erfolgreiche Anschläge. Daher rät Hollywood, den Brüsseler Flughafen besonders gut zu schützen.

Eine Erkenntnis, für die der bayrische LKA-Experte Schierghofer „aber keine Software benötigt hätte“. Es sei bekanntermaßen Ziel islamistischer Attentäter, „möglichst viele Tote und Verletzte zu produzieren“. Orte mit Menschenansammlungen seien also per se stärker gefährdet. Statt auf präventive Analytik zu setzen, will er eher die Beziehungen zwischen bekannten Tätern umfassend analysieren. Und das durchaus mit massiven Computereinsatz, etwa um auszuwerten, wie Verdächtige ihre Kreditkarten genutzt haben oder was der Speicher von Navis aus Autos verrät, die sie gemietet haben. „Nach einem Anschlag ist vor einem Anschlag“, sagt Schierghofer. Je genauer die Fahnder auch grenzüberschreitend ermittelten, wer Unterstützer, wer Mittäter, wer Sympathisant sei, „desto eher können wir die nächsten Pläne vereiteln“.

Entscheidend dabei sei, dass Fahndungsdaten von einem Land ins andere, von einer Behörde zur anderen gelangten. Genau daran aber hapere es. „Terror kennt in Europa keine Grenzen mehr, also darf auch die Bekämpfung des Terrors keine mehr haben.“

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