Die Schlacht um kluge Maschinen scheint geschlagen, nimmt man die Ausgaben zum Maßstab. Laut der Analysten von Crisp Research steckten große amerikanische Internetkonzerne wie Facebook, Amazon oder Apple allein im Jahr 2015 rund zehn Milliarden Dollar in das neue Hype-Thema der Tech-Szene: die Künstliche Intelligenz (KI). Wer will da mithalten?
Geld ist nicht alles, halten die Pioniere der deutschen KI-Szene selbstbewusst dagegen. Und rollen das Feld im Stillen auf. Mit ausgefeilten Konzepten, zuverlässigen Systemen und ganz frischen Ideen. Ob etabliert oder neu: Sie haben vielversprechende Märkte für ihre Produkte gefunden. Mit welchen Qualitäten die Innovatoren von der Saar bis zur Spree punkten:
Arago
Hans-Christian Boos, den alle Mitarbeiter kurz Chris nennen, vibriert förmlich vor Energie. Das spürt man sofort, die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus. Medienvertreter empfängt der Gründer und Kopf des Frankfurter IT-Hauses Arago am liebsten in einem Restaurant am Flughafen – bevor er wieder einmal zum zweiten Firmensitz in New York City abhebt. Hindernisse konnten den 43-Jährigen mit den schlohweißen Locken noch nie von seinem Ziel abbringen. Auch nicht, dass seine hellblauen Augen extrem schlecht sehen. Boos bringt Maschinen bei, schnell vom Menschen zu lernen und ihm unproduktive Routineaufgaben abzunehmen. Kunden wie die Schweizer Großbank UBS oder der US-Dienstleister CompuCom etwa automatisieren mit der intelligenten Plattform Hiro IT-Prozesse wie Software-Updates und Datensicherung.
Jüngst hat Boos mit dem Stahlhändler Klöckner einen ersten deutschen Großauftraggeber gefunden. Gemeinsam wollen sie eine Art digitales Handelsportal für Stahl aufbauen, das Geschäfte aus Basis zuverlässiger Preis- und Mengenprognosen abwickelt. Boos beschäftigt rund 120 Mitarbeiter und setzt nach eigenen Angaben, da wird er dann doch einmal wortkarg, einen dreistelligen Millionenbetrag um.
Ava
Was ihr Ziel angeht, messen sich Aleksandar Stojanovic und sein Kompagnon Sascha Knopp mit den Tech-Giganten aus dem Silicon Valley. „Wir wollten 2014 nicht einfach ein weiteres Start-up in die Welt setzen“, sagt Stojanovic. „Unser Anspruch ist es, die Gesellschaft mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz besser zu machen.“ In ihrem Fall heißt das: sicherer. Die Gründer zielen mit ihrer Datenanalyse-Plattform gleich aufs internationale Publikum. Sie soll zum Beispiel vorhersagen können, wie gefährlich es sein kann, nachts in einer fremden Stadt ein bestimmtes Viertel aufzusuchen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dort überfallen oder belästigt zu werden? Aber auch vor anderen Gefahren soll die Software warnen. Schädigt dreckige Luft die Gesundheit? Gibt es dort Erdbeben, Terrorismus oder akute Seuchen?
Aus Millionen Informationen, aufgestöbert im Internet, in Datenbanken oder in sozialen Medien wie Facebook, erstellt die Software für Unternehmen wie Privatpersonen ein aktuelles Lagebild. Individuelle Risikoabschätzung für jedermann. Das gibt es bisher nicht. Mit Londons Sicherheitsbehörden wollen die Berliner ihr smartes Prognosesystem dieses Jahr erstmals im großen Stil unter realen Bedingungen testen.
Simulationstechnologien des menschlichen Verstands
Blue Yonder
In den Kopf der Kunden schauen, ihre Kaufabsichten vorhersehen und abschätzen können, zu welchem Preis Jeans, Räucherlachs, Bohrmaschine oder Wok am besten weggehen – welcher Händler würde das nicht gerne tun? Der lernende Softwarealgorithmus des Karlsruher Elementarphysikers Michael Feindt und seines Geschäftsführers Uwe Weiss hat es bei solchen Prognosen zu beachtlicher Meisterschaft gebracht. Ihr Unternehmen Blue Yonder verspricht seinen Kunden, sie könnten ihre Gewinne mit der Analyse endloser verkaufsrelevanter Zahlenkolonnen um mehr als fünf Prozent steigern. Große Ketten wie Kaufland, die Drogeriekette dm, Bauhaus, Real oder der Versandhändler Otto hat das angelockt. Die Hamburger sind zudem einer der größten Investoren des Big-Data-Pioniers, der 2008 an den Start ging und heute mehr als 150 Spezialisten beschäftigt.
Cargonexx
Warum immer nur anderen die großen Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz nahe bringen, dachte sich Rolf Dieter Lafrenz, Chef der auf Medien spezialisierten Beratung Schickler in Hamburg? Mit seinem Geschäftsführungskollegen Andreas Karanas gründete er Ende 2015 die digitale Frachtbörse Cargonexx. Sie soll Spediteure und Fuhrunternehmen durch geschickte Preisgestaltung und Tourenplanung so perfekt zueinander bringen, dass nicht länger ein Drittel aller Lkw leer herumkurven. Motto: Bessere Auslastung, weniger verstopfte Straßen.
Spediteure melden auf Cargonexx einen Auftrag an; Cargonexx kalkuliert dafür in Sekundenschnelle einen Preis, abhängig von Faktoren wie Tageszeit, Wetter, Baustellen, Ferienterminen und Streckenverlauf. „Kein Mensch könnte all das überblicken“, sagt Lafrenz. Erhalten die Hamburger den Zuschlag, bieten sie Transporteuren die Fuhre mit einem Abschlag an und garantieren die Abwicklung. Sie selbst verdienen an der Differenz. Schon mehr als 1000 Fuhrunternehmen und fünf führende Spediteure machen mit. Bereits in zwei Jahren peilt das Start-up einen Umsatz von mehr als 400 Millionen Euro an.
Empolis
Das Kaiserslauterner Unternehmen, ein Kind des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI), ist ein Urgestein der deutschen KI-Szene. Seit 1986, als noch kaum jemand über die Simulationstechnologie zum menschlichen Verstand sprach, wertet die Software der Pfälzer alle verfügbaren Informationen und Erfahrungen zu einem Problem aus und leitet daraus Empfehlungen ab. Dem Arzt verrät sie die beste Behandlung, dem Industriebetrieb, wann ein Kugellager in einer Werkzeugmaschine ausgetauscht werden muss, bevor diese ausfällt.
Geschäftsführer Stefan Wess hat eine klare Vision: „Menschen sollen keine falschen Entscheidungen mehr treffen müssen.“ Die Softwareschmiede beschäftigt 200 Mitarbeiter, setzte zuletzt 20 Millionen Euro im Jahr mit Kunden wie ABB, Airbus, Porsche, Siemens und Vodafone um und fasst auch in den USA zunehmend Fuß. Dort sind die Pfälzer etwa mit dem Gabelstaplerhersteller Crown und dem Automobilzulieferer Tweddle ins Geschäft gekommen.
„Wir schließen Spione aus“
Micropsi Industries
Tumbe Roboter, die immer nur das abspulen, was ihnen einprogrammiert wurde, sind von gestern. Davon ist jedenfalls das achtköpfige Entwicklerteam des Berliner Start-ups Micropsi um die Gründer Ronnie Vuine und Joscha Bach überzeugt. Ihre Software soll den Maschinen künftig ermöglichen, wie der Mensch aus Erfahrungen Schlüsse zu ziehen und sich auf veränderte Umstände einzustellen. Darüber führen sie zum Beispiel mit den Roboterherstellern Kuka und ABB Gespräche. „Wir Menschen sind schließlich auch logische Maschinen“, findet Vuine. „Wenn etwas gut funktioniert, machen wir es wieder.“
Eine andere Zielgruppe sind Maschinenbauer. Deren Anlagen sammeln heue mittels vernetzter Sensoren sekündlich millionenfach Daten und die lernenden Algorithmen der Berliner sollen darin Muster erkennen, die Ausfälle ankündigen oder Hinweise geben, wie der Ausstoß der Maschinen gesteigert, ihr Energieverbrauch zugleich minimiert werden kann. Die Berliner stehen noch am Anfang ihrer Karriere. Mit einer Anschubfinanzierung von 800.000 Euro wollen sie durchstarten.
Semvox
Die Saarbrücker um CEO und Mitgründer Norbert Pfleger, 2008 ebenfalls aus dem DFKI hervorgegangen, sind auf sprachgesteuerte virtuelle Assistenzsysteme spezialisiert. Der einfache Befehl: „Erwärme das Haus auf 23 Grad Celsius, wenn ich nach Hause komme“, ersetzt zum Beispiel die heutige komplexe Programmierung einer Heizungssteuerung. Sagt ein Geschäftsreisender dem Assistenten, er würde morgen gerne abends in Berlin französisch Essen gehen, schlägt der ihm ein Restaurant vor, reserviert den Tisch und lädt Freunde ein. Unternehmen können die schlaue Software bitten, alle Kunden mit einem Umsatz von mehr als 20.000 Euro heraus zu suchen, Servicetechniker fragen, wie ein Gerät zu reparieren ist und welche Ersatzteile sie dafür mitnehmen müssen.
Um stets zu Diensten zu sein, braucht das System keine dauernde Verbindung zum Internet, sondern kann auf eine private Datencloud zurückgreifen. „Wir schließen Spione aus“, betont Semvox-Kommunikationschef Michael Bruss. Diese Fähigkeit weckt in Zeiten ausufernder Hackerangriffe die Neugier vieler Branchen. So sind die Saarländer zuversichtlich, ihren Umsatz, derzeit noch einstellig, in den kommenden zwei Jahren verdoppeln zu können. Ebenso die Belegschaft von heute 50 hochqualifizierten Fachkräften.
Spectrm
Mit Nachrichten online wahllos überschwemmt zu werden, ging Spectrm-Mitgründer Max Koziolek auf die Nerven. Also tüftelte er mit Freunden ein System aus, das jedem Nutzer Nachrichten per Messengerdienst ganz nach deren Gusto zustellen soll – aufs Smartphone, Tablet oder den Schreibtisch-PC. Dabei soll die Software den Informationsstrom selbstständig immer besser auf die Wünsche der Abonnenten anpassen und sogar einfache Fragen beantworten können, wie die, welcher Spieler in der laufenden Saison die meisten Tore für den Lieblingsverein geschossen hat.
Das Konzept schlug Wellen bis ins ferne Silicon Valley und katapultierte die Berliner zum Facebook-Partner. In Deutschland nehmen etwa die "Bild"-Zeitung, die "FAZ" oder das Technologiemagazin "t3n" ihre Dienste in Anspruch. „Personalisierung ist ein wichtiger Punkt, der uns umtreibt“, sagt Koziolek. Mit einer Start-Finanzierung von 1,5 Millionen Dollar im Rücken, ist der Grundstein gesetzt.
Nachbauten des menschlichen Gehirns
Twenty Billion Neurons
Unter Mühen haben Programmierer Bilderkennungsprogrammen zum Beispiel beigebracht, eine Flasche zu identifizieren. „Doch sie haben keine Ahnung, was passiert, wenn sie auf den Boden fällt“, ätzt Twenty Billion Neurons Mitgründer Christian Thurau. Diese Dummheit wollen er und seine Mitstreiter des Start-ups aus Berlin-Kreuzberg, darunter mit Roland Memisevic einer der führenden Deep-Learning-Forscher weltweit, den Systemen austreiben.
Als Erste. Ihre neuronalen Netze, eine Art Nachbau des menschlichen Gehirns im Computer, sollen Maschinen befähigen, die Welt so wahrzunehmen und darauf zu reagieren wie der Mensch. Bevor Computer das nicht beherrschten, betont Thurau, sei es unverantwortlich, ihnen das Lenkrad eines Autos zu überlassen. Ausgestattet mit 2,5 Millionen Euro Startkapital arbeiten die Innovatoren hart daran, noch dieses Jahr erste Prototypen zu testen.
Valuescope
Schriften auszulegen hat Siegfried Lautenbacher schon während seines Studiums der katholischen Theologie bei den Jesuiten gelernt. Heute bringt der Geschäftsführer der Beck et al. Services, einem international agierenden IT-Service-Unternehmen, einer KI-getriebenen Software bei, Abertausende elektronisch gespeicherte Akten, Schriftstücke und Informationen für zuverlässige Vorhersagen zu durchforsten. Dafür hat er in München Valuescope gegründet, in der derzeit zehn Spezialisten über die besten Lösungen grübeln.
„Wir nehmen uns die schwierigsten Brocken vor“, sagt Lautenbacher ganz unbescheiden. Mit dem Kölner Versicherer VOV lotet er zum Beispiel anhand zurückliegender Fälle aus, ob sich Verfahren zur Managerhaftung, die sich zumeist wegen ihrer Komplexität über Jahre hinziehen, nicht schneller abwickeln lassen – zum Vorteil aller Beteiligten. Ist das System erst einmal ausgereift, kann sich Lautenbacher viele Anwendungen vorstellen: Banken könnten beispielsweise nachforschen, ob jemand Schwarzgeld bei ihnen einzuzahlen versucht, Assekuranzen könnten Betrügern auf die Spur kommen. Etwa wenn jemand auf Ebay wertvolle Uhren zum Kauf anbietet und zugleich seiner Versicherung den Verlust von Uhren meldet.