Gesundheits-Apps sind der neue Hype in der Medizinwelt. Gerade noch luden Fitnessarmbänder, Schrittzähler und Schlafsensoren zur kollektiven digitalen Selbstvermessung. Nun gehen Smartphone- und Softwareentwickler mit Diabetes, Herzbeschwerden oder Aids auch Leiden an, die bei falscher Behandlung potenziell tödlich sind. Die fruchtbaren Tage blendet eine App der Frau von Welt auf ihrem Smartphone ebenfalls ein. Und an der Genanalyse per Handy arbeiten Forscher bereits.
Doch leisten die 100 000 Medizin-Apps, die geschätzt weltweit auf dem Markt sind, was sie versprechen? Stimmen die Messungen etwa des Blutzuckerspiegels oder der Herzfrequenz per Handy? Werten die Digi-Docs die Werte korrekt aus, und geben sie die richtigen Empfehlungen an die Patienten? Oder verfolgen die Programme ganz andere Ziele und werben verdeckt für Produkte etwa von Pharmakonzernen?
Was fehlt, ist Orientierung. Es existieren keine verbindlichen Standards, keine Art TÜV für die digitalen Heiler. Dabei ist es eigentlich ja eine äußerst vernünftige Idee, wenn kranke Menschen Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen und – gemeinsam mit Ärzten – per Handys, Apps und Sensoren die Therapie unterstützen.
Die Nachfrage ist zweifelsohne da: Bis Ende des Jahres werden Smartphone-Nutzer weltweit drei Milliarden Apps aus den virtuellen Verkaufstheken von Apple, Google, Microsoft und Co. heruntergeladen haben, ein Plus um 35 Prozent gegenüber dem Vorjahr, ergibt eine aktuelle Studie des Berliner Marktforschungsunternehmens research2guidance.
Besonders viele dieser Programme richten sich gegen Volksleiden wie Übergewicht und Bluthochdruck, aber auch gegen Massenkrankheiten wie Krebs und Diabetes – alles eben, wo die Anbieter ein besonders hohes Marktpotenzial erwarten. Deren Zahl ist zuletzt auf unübersichtliche 45 000 angewachsen.
Dementsprechend überwältigend ist das Angebot digitaler Helfer. Es gliedert sich in Apps, die vor allem informieren – etwa über Krankheiten und deren Therapien. Sie geben zudem Tipps zur passenden Ernährung und Lebensführung, vermitteln Kontakte zu Selbsthilfegruppen.
Anschauliche Grafiken für Sex und Sport
Aber längst geht die Technik darüber hinaus: Ein großes Feld sind elektronische Tagebücher. Mit ihnen erfassen Menschen fast alles digital: Blutdruck, Gewicht, Blutzuckerspiegel, Körpertemperatur, Mahlzeiten, sportliche Aktivitäten, Sex, Stress oder Schmerzen. Die Rechenprogramme der Apps stellen die Daten anschaulich in Grafiken dar und erkennen Zusammenhänge. So lassen sich Ursachen für Schmerzen herausfinden oder vor einem drohenden Herzinfarkt warnen. Zudem erinnern die digitalen Heiler Patienten daran, Medikamente einzunehmen oder Gymnastikübungen zu machen.
Andere Apps sind per Bluetooth mit Sensoren verbunden, die Blutzucker oder Gewicht messen. Manche senden diese Daten dann zu einem Telemedizinzentrum, das sie checkt. Ebenfalls gängig sind digitale Krankenakten, in der die Menschen ihre Untersuchungsberichte, Röntgenbilder oder Verordnungen hinterlegen. Schwangere sammeln so per Handy-App Ultraschallbilder und Herztonmessungen ihres noch ungeborenen Kindes.
Drei wichtige Fragen
Solange diese Digi-Docs vor allem Informationen zusammentragen und aufbereiten, können sie relativ wenig Schaden anrichten. Aber wenn sie bei ernsten Leiden Ratschläge erteilen, müssen die medizinischen Grundlagen für die Empfehlungen stimmen. Um sich im verwirrenden Angebot zurechtzufinden, helfen drei Fragen:
Diese Hightech-Geräte nutzen deutsche Hobbysportler
Hightech-Geräte werden beim Sport immer beliebter. Bitkom hat 1014 Deutsche ab 14 Jahren befragt, welche Geräte sie zum Sport nutzen. Das Ergebnis: Vier Prozent nutzen ein herkömmliches Handy.
Actionkameras wie sie etwa GoPro herstellt, sorgen vor allem bei Profisportlern für spektakuläre Aufnahmen. Doch auch bei Hobbysportlern erfreuen sie sich zunehmender Beliebtheit. Immerhin sieben Prozent der Befragten nutzen sie.
Musik beim Joggen zu hören, ist seit dem Walkman eine willkommene Ablenkung. 13 Prozent der Befragten nutzen dafür heute einen mp3-Player.
Wie effektiv ist mein Training wirklich? Schritt- und Kalorienzähler geben Aufschluss darüber. Genutzt werden sie von 17 Prozent der Befragten.
Um zielgerichtet trainieren zu können, greifen Sportler auf Pulsmessgeräte zurück. In Deutschland macht das jeder Dritte.
Des Deutschen Lieblingsbegleiter ist ein Alleskönner: Das Smartphone. 37 Prozent gaben an, es beim Sport zu benutzen.
1. Wie gut ist das medizinische Konzept?
Manches auf den ersten Blick einleuchtend klingende Angebot kann schlimmstenfalls lebensgefährlich sein, etwa wenn eine App Krebs aufspüren will – und dann Tumore übersieht. Was eine Forschergruppe aus Pittsburgh 2013 herausfand. Sie hatte Apps analysiert, die mit der Handykamera erkennen soll, ob sich hinter einer verdächtigen Stelle auf der Haut ein bösartiger Tumor verbirgt. Doch drei der vier untersuchten Anwendungen lieferten inakzeptable Ergebnisse. In über 30 Prozent der Fälle gaben sie Entwarnung, obwohl es sich um Krebs handelte. „Vertraut ein Patient auf so eine App und sucht erst mit Verspätung ärztliche Hilfe, kann das die Chancen auf Heilung deutlich verringern“, warnt Urs-Vito Albrecht, stellvertretender Direktor des Peter L. Reichertz Instituts für Medizinische Informatik in Hannover.
„Die Idee scheint ja sinnvoll“, sagt Albrecht. Fast alle Smartphones haben eine hochauflösende Kamera. Doch je nach Beleuchtung und Handhabung des Handys lassen sich die Bilder mal besser, mal schlechter auswerten.
Immerhin gibt es im Netz einige Anleitungen für einen Qualitäts-Check. Eine der wenigen Webseiten, die Apps testet, ist das von Ursula Kramer initiierte Portal HealthOn. Die Bloggerin finanziert das Angebot allein, um frei zu sein vom Einfluss Dritter, macht aber so auch auf ihre Kommunikationsagentur Sanawork aufmerksam. Die Datenbank führt knapp 400 getestete Medi-Apps.
Sie hat unter anderem deutschsprachige Diabetes-Apps analysiert und dabei wenig Zielgruppenorientiertes entdeckt: Obwohl gerade Zuckerkranke wegen ihres Alters und ihrer Erkrankung häufig schlecht sehen, arbeiten einige der Apps mit kleinen, schwer lesbaren Schriften, wie etwa das Diabetes-Tagebuch von Menarini, einem Hersteller von Blutzucker-Messgeräten. Mit dessen sonst passablem Programm dokumentieren Patienten, was sie gegessen haben und ihren Blutzuckerspiegel.
Dabei könnten Apps wichtige Dienste leisten, um Wissenslücken zu schließen oder zu motivieren, meint Kramer, wozu Ärzten oft die Zeit fehlt. Die Anwendungen könnten etwa nach einer Diagnose Diabetes klarmachen, warum der Betroffene daran nicht sterben werde. Diese Ängste beschäftigten die Menschen. Und die Apps können Diabetiker anspornen, Ernährung oder Verhalten anzupassen, wenn die Blutzuckerwerte zu hoch sind, indem sie Menüvorschläge machen oder zum Joggen motivieren.
Die erfolgreichsten Wearable-Hersteller
Der Markt für Wearables wird zunehmend größer. Doch wer dominiert den Markt? Ein Ranking nach Absatz und Marktanteil.
Absatz ingesamt im 2. Quartal 2015 (in Mio.): 18,1
* Im Vergleich Q2 2014 zu Q2 2015; Quelle: IDC Worldwide Quarterly Wearable Device Tracker (27. August 2015)
Andere
Absatz Q2 2015 (in Mio.): 5,7
Absatzzuwachs* (in Mio.): +3,1
Marktanteil Q2 2015 (in Prozent): 31,5
Veränderung des Marktanteils* (in Prozent): -14,9
Samsung
Absatz Q2 2015 (in Mio.): 0,6
Absatzzuwachs* (in Mio.): -0,2
Marktanteil Q2 2015 (in Prozent): 3,3
Veränderung des Marktanteils* (in Prozent): -11,0
Garmin
Absatz Q2 2015 (in Mio.): 0,7
Absatzzuwachs* (in Mio.): +0,2
Marktanteil Q2 2015 (in Prozent): 3,9
Veränderung des Marktanteils* (in Prozent): -5,0
Xiaomi
Absatz Q2 2015 (in Mio.): 3,1
Absatzzuwachs* (in Mio.): +3,1
Marktanteil Q2 2015 (in Prozent): 17,1
Veränderung des Marktanteils* (in Prozent): +17,1
Apple
Absatz Q2 2015 (in Mio.): 3,6
Absatzzuwachs* (in Mio.): +3,6
Marktanteil Q2 2015 (in Prozent): 19,9
Veränderung des Marktanteils* (in Prozent): +19,6
Fitbit
Absatz Q2 2015 (in Mio.): 4,4
Absatzzuwachs* (in Mio.): +2,7
Marktanteil Q2 2015 (in Prozent): 24,3
Veränderung des Marktanteils* (in Prozent): -6,1
2. Wer ist der Anbieter?
Viele Angebote wirken auf den ersten Blick seriös. Doch wer mit welchen Interessen hinter ihnen steckt, ist oft schwer zu erkennen. Bei den von Kramer 2014 untersuchten Diabetes-Apps in Googles Play-Store fehlte bei drei Vierteln ein Impressum. Ebenso gab es oft keine Infos zur Finanzierung der kostenlosen Apps. Nur vier Prozent gaben die Quellen und Autoren preis, auf die sich ihre Methodik oder Ratschläge beziehen.
Nachfragen sei Pflicht, rät daher der Berliner Jurist und Mediziner Christian Dierks, weil viele App-Entwickler nun einmal Softwarespezialisten, medizinisch aber Laien seien. Er empfiehlt transparente Angebote wie die Herzüberwachungs-App Smartheart des israelischen Anbieters SHL Telemedicine. Die sei „datensicher, leistungsstark, vom Patienten einsehbar“, schwärmt er. Sie überwacht mit einem tragbaren EKG-Gerät die Herzfunktion. Nicht nur Algorithmen werten die Daten aus, sondern rund um die Uhr auch Fachärzte, die kontrollieren, ob das Herz aus dem Takt gerät.
Auch Testerin Kramer wünscht sich: „Die Anbieter sollten möglichst unabhängig sein – oder ihre Interessen wenigstens offen kommunizieren.“ Wo etwa Pharmaunternehmen Apps finanzieren, sollte der Nutzer das zumindest wissen.
Apps zur Behandlung
Wenn dagegen eine Techniker Krankenkasse (TK) Apps anbietet, will sie sich damit sicher bei ihren Mitgliedern als moderner Anbieter präsentieren. Aber ihr ist auch das Interesse zu unterstellen, den Nutzern helfen zu wollen – schließlich kosten gesunde Versicherte weniger. So gibt es etwa von der TK die Allergie-App Husteblume, die Pollenwarndienst und Tagebuch verbindet. Andere erklären die Diagnosen, die der behandelnde Arzt nur als Ziffernschlüssel notiert.
Medizinprodukt Tinnitracks
Die Idee der Tinnitracks-Therapie ist es, dass Betroffene täglich eine gewisse Zeit tontechnisch bearbeitete Musik hören, die auf ihre eigene Tinnitusfrequenz abgestimmt ist, um so mit der Zeit den Tinnitus leiser werden zu lassen. Die Idee basiert auf dem Ergebnis entsprechender Studien an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Bislang war das Programm nur als Paket mit Jahreslizenz erhältlich. Kostenpunkt: 539 Euro. Die neuentwickelte Tinnitracks-App bietet Sonormed seit April im Monatsabo für 19 Euro an. Als Behandlungsdauer werden in der Regel sechs bis zwölf Monate empfohlen.
Fachärzte wie etwa Prof. Dr. Birgit Mazurek von der Berliner Charité oder Prof. Dr. Gerhard Hesse von der Deutschen Tinnitus-Liga bezweifeln den Erfolg der Tinnitracks-Therapie. Kernpunkt der Kritik: Wie viele Medizinprodukte gegen Tinnitus fehlen großangelegte Studien, um den Erfolg der Therapie zu belegen.
Selbst an die Behandlung von Krankheiten wagt sich die TK mit der gerade gestarteten App Tinnitracks: Sie hilft Menschen mit Tinnitus, das nervtötende Piepen im Ohr auszublenden. Zuerst ermittelt der Arzt die Tonfrequenz des Martertons. Dann filtert die App sie aus der Lieblingsmusik des Patienten heraus, der er via Handy lauscht. Der Trick: Das regelmäßige Hören gefilterter Musik beruhigt die Nervenzellen und lindert die Tinnitus-Qual.
3. Was passiert mit den Daten?
Weitere Tücken lauern bei der Datensicherheit, wenn intime Infos durchs Datennetz gejagt und bei App-Anbietern ausgewertet werden, sagt Informatiker Albrecht: „Die Entwickler müssen Sorge tragen, dass die Daten verschlüsselt sind.“ Fragwürdig sei, wenn ein Digi-Doc Daten für Werbezwecke sammelt, ohne darüber zu informieren. Gerade einmal vier Prozent der von Kramer untersuchten Diabetes-Apps verfügten aber über eine Datenschutzerklärung.
Der praktische Rat von Karen Walkenhorst, zuständig für Versorgungsinnovation der TK, lautet daher: „Stutzig werden sollte jeder, wenn eine Blutdruck-App den Familienstand oder das Einkommen wissen will.“ Und der Medizinjurist Dierks empfiehlt: „Immer wenn eine App nichts kostet, sollten Sie sich fragen, ob Sie eigentlich der Kunde – oder die Ware sind.“
Wer im App-Dschungel übrigens auf Hilfe der Politiker hofft, wird lange warten müssen. Zwar hat der Bundestag nach fast 20 Jahren Debatte über Telemedizin und elektronische Gesundheitskarte nun endlich ein E-Health-Gesetz beschlossen. Doch das regelt nur den sicheren Austausch von Patientendaten innerhalb des klassischen Gesundheitssystems. Der freie digitale Markt bleibt weiter völlig unreguliert. Die Patienten würden alleingelassen, schimpft Markus Müschenich, Vorstandsmitglied des Bundesverbands Internetmedizin: „Die Vorlagen stammen wohl noch aus einer Zeit, als es keine Smartphones gab.“
Wo Sie die besten Tipps zu Medizin-Apps finden
Tests: Die umfangreichste deutsche Datenbank bietet die Plattform HealthOn
Fragenkataloge: Um sich selbst über Nutzen und Risiken von Apps klar zu werden, können Interessierte die Fragebögen von HealthOn sowie der Techniker Krankenkasse nutzen.
Checklisten: Welche Angaben App-Produzenten liefern sollten, haben das Aktionsforum Gesundheitsinformationssysteme sowie das Peter L. Reichertz Institut zusammengestellt.