Egal, ob vor dem Kölner Dom, im New Yorker Central Park oder an der Oper von Sydney: Überall laufen in diesen Tagen Menschen umher, rufen „Oh“ und „Ah“, richten ihre Handys auf Wesen, die niemand außer ihnen sieht, und haben unglaublichen Spaß. Der Grund erschließt sich beim Blick auf die Telefone: Auf deren Display tummeln sich plötzlich bunte Figuren, die durch die Bilder der echten Umgebung wuseln – Pokémon, virtuelle Comic-Monster, die die Spieler durch eifriges Tippen auf ihre Bildschirme fangen wollen.
Es ist ein globaler Hype ungekannten Ausmaßes. Nur gut zwei Wochen nach dem Start in den USA Anfang Juli hat die Monsterjagd Pokémon Go bereits Millionen Anhänger weltweit; das Spiel hat mehr aktive Nutzer als der Nachrichtendienst Twitter oder die Dating-App Tinder. Seine Fans verbringen mehr Zeit mit ihm als mit Facebook.
In welchem Land auch immer die Jagd auf die naiv-bunten Kobolde startet, dominiert sie die App-Charts. Der Kurs des Unterhaltungsriesen Nintendo stieg nach dem Start der Monster-App rasant an – dabei ist der japanische Konzern beim Rechtebesitzer Pokémon Company und dem Spieleentwickler Niantic nur Minderheitseigner. Erst als das Nintendo-Management selbst die Erwartungen dämpfte und verkündete, dass Pokémon Go nur "begrenzten Einfluss" auf den Gewinn haben werde, brach der Höhenflug ab und der Aktienkurs ein.
„Pokémon Go“: Kleine Kampf-Monster erobern die Welt
Es ist das erste Mal, dass man „Pokémon“ auf dem Smartphone spielen kann. Der japanische Spiele-Anbieter Nintendo brachte die beliebten Figuren bisher nur in Games für die hauseigenen Konsolen heraus. Inzwischen jedoch wechseln immer mehr Spieler auf Smartphones und Nintendo konnte diesen Trend nicht mehr ignorieren.
„Pokémon“ ist eine Wortbildung aus „Pocket Monster“ - Taschenmonster. Zum ersten Mal tauchten sie 1996 in einem Spiel in Japan auf. Die „Pokémon“ sind darauf versessen, gegeneinander zu kämpfen. Der Spieler fängt sie als „Pokémon-Trainer“ mit Hilfe weiß-roter Bälle ein und bildet sie aus. Im „Pokémon“-Universum gibt es mehr als 700 Figuren. Die beliebteste dürfte „Pikachu“ sein - ein kleines gelbes Monster mit einem Schwanz in der Form eines Blitzes. Neben den Videospielen blüht ein gewaltiges Geschäft mit Sammelkarten und allen möglichen anderen Fanartikeln von Plüschfiguren bis Brotdosen.
Im Grunde geht es auch hier darum, „Pokémon“ zu fangen und dann gegeneinander antreten zu lassen. Der Clou ist jedoch die Standort-Erkennung (GPS) auf dem Smartphone. Die „Pokémon“ verstecken sich an verschiedenen Orten - und ein Spieler sieht sie nur, wenn er in der Nähe ist. Dann werden die Figuren auf dem Display des Telefons in die echte Umgebung eingeblendet („Augmented Reality“). In den USA, Neuseeland und Australien sammelten sich schon große Menschenmengen an Orten mit populären „Pokémon“ an. Die kleinen Monster reagieren auf die virtuelle Umgebung: So tauchen Wasser-Pokémon besonders häufig in der Nähe von Flüssen oder Seen auf.
Es wurde gemeinsam entwickelt von der Nintendo-Beteiligung Pokémon Company und der ehemaligen Google-Tochter Niantic Labs. Letztere hatte unter dem Dach des Internet-Konzerns das ebenfalls auf Ortungsdaten basierte Spiel „Ingress“ programmiert. In ihm kämpfen zwei Lager um virtuelle Portale, die an verschiedenen Orten platziert wurden.
Der Gaming-Coup ist weit mehr als ein ökonomischer Erfolg. Quasi huckepack macht er eine Technologie zum Massenphänomen, die sich – obwohl längst marktreif – bisher beim breiten Publikum nicht durchsetzen konnte: Augmented Reality (AR), zu Deutsch „erweiterte Realität“, die Verschmelzung realer Räume mit computergenerierten Welten. „Das Spiel ist ein Lehrstück, wie sich eine etablierte Marke innovative Technik zunutze machen kann“, sagt Harald Summa, Geschäftsführer beim Eco-Verband der Internetwirtschaft in Köln.
Vor allem aber ist der Siegeszug der digitalen Kobolde ein Musterbeispiel, wie sich Innovationen am Markt etablieren lassen. Letztlich sind es fünf Faktoren, die dem Produkt zum Durchbruch verholfen haben. Zum Pokémon-Prinzip verdichtet, sind sie zugleich ein universelles Innovationswerkzeug, auch für Unternehmen anderer Branchen: Wer die Regeln beherzigt oder ignoriert, entscheidet damit zugleich, ob seine Produkte ein Welthit werden – oder ein Megaflop.
1. Der Kunde will spielen
Erfolgreich wird nur, was Freude macht. Die Pokémon-Entwickler nutzen den Spaßfaktor musterhaft aus. Die niedlichen Comic-Figuren setzen auf die Wirkung des Kindchenschemas beim Spieler. Die Aufgabe, die Pixelhelden mit einem Ball abzuwerfen, überträgt das Prinzip beliebter Sportarten wie Völker- oder Brennball in die erweiterte Realität.
Wie wichtig es ist, den Spieltrieb seiner Kunden anzusprechen, hat auch Tesla-Chef Elon Musk erkannt. Wer sich ins Elektroauto Model S setzt, blickt auf das riesige Touch-Display. „Im Cockpit fühlt man sich wie im Raumschiff“, verspricht Musk und appelliert an den Spieler am Steuer.
Tesla hat eine Idee perfektioniert, die Konkurrent BMW schon vor 15 Jahren zu realisieren versuchte: Statt das Auto über unzählige Knöpfe und Schalter zu steuern, lassen sich die Funktionen an einer zentralen Stelle bedienen. BMWs iDrive genannter Universalschalter aber begeisterte mit seiner Flut von Optionen nur die Ingenieure. Die Kundschaft dagegen schäumte ob der umständlichen Bedienung.
Beim Model S dagegen bedient sich das Riesendisplay wie ein Smartphone. Zudem findet der Fahrer dort reichlich augenzwinkernd betitelte Optionen. Der – selbstironisch „Insane“ genannte – Fahrmodus etwa aktiviert die „irrsinnige“ Beschleunigung. Dann katapultiert sich der Stromer in 3,3 Sekunden von 0 auf 100 Kilometer pro Stunde. Für 11 100 Euro Aufpreis gibt es den „Ludicrous“-Modus. Dank „Aberwitz“-Erweiterung gelingt der Sprint in 3,0 Sekunden.
Fahrspaß pur und sicher ein Schlüssel zum Erfolg. Während BMW 2015 vom 7er in den USA nur knapp 9300 Exemplare absetzte, verkaufte Musk gut 25 200 Model S.
2. Konkurrenz belebt das Geschäft
Das gilt nicht bloß beim Sport: Wettbewerbselemente halten die Nutzer bei der Stange. Schon zu Zeiten von Gameboy und Spielkarten setzten die Vorgängerversionen von Pokémon massiv auf das Sammel- und Konkurrenzprinzip. Wer fängt die stärksten, bändigt die meisten Monster? Und wessen Charaktere sammeln im Wettstreit mit den Kreaturen anderer Spieler die meisten Punkte? Genau das haben die Entwickler auch in die neue AR-Variante des Spiels übertragen. Das sorgt für Dynamik und vermittelt wegen der Vielzahl der in der realen Welt platzierten Kreaturen jede Menge Erfolgserlebnisse.
Dieser Wettbewerbsgedanke, auf Englisch „Gamification“ genannt, wirkt weit über die Spielewelt hinaus, gilt längst für alle Branchen. Gamification sei heute „eine der treibenden Kräfte im globalen Innovationswettlauf“, sagt Phil McKinney, lange Jahre Technologiechef bei Hewlett-Packard (HP).
Das wohl erfolgreichste Beispiel für den Einsatz dieses Prinzips sind die smarten Fitnesstracker, von Armbändern wie Jawbone und Fitbit bis hin zu Smartwatches. Gesund sein will jeder, doch seinen Lebenswandel im Blick zu behalten, um gesund zu leben, das war vielen lange zu viel. Jetzt aber verwandeln Fitness-Apps und Selbstvermessungsgadgets das Zählen von Schritten oder Puls in einen Konkurrenzkampf mit Kollegen oder Freunden. Für die Hersteller der Technik ist das ein Riesengeschäft: Laut dem US-Marktforscher Gartner setzten sie 2015 weltweit mit dem Verkauf von gut 230 Millionen elektronischen Armbändern und Uhren fast 29 Milliarden Dollar um.
3. Der Kunde liebt Vertrautes
Die bunten Taschenmonster haben seit Mitte der Neunzigerjahre mehrere Kindergenerationen geprägt. Was Wunder, dass Nintendo beim neuen, in die erweiterte Realität übertragenen Spiel erfolgreich an die Emotionen und Kindheitserinnerungen von Millionen potenzieller Nutzer andocken kann.
Mit den gleichen Mechanismen emotionaler Bindungen und Vertrautheit gelang auch Polaroid und Fujifilm die fulminante Wiedergeburt eines vermeintlich überholten Produkts: der Sofortbilder.
Obwohl genauso vom Umbruch der Fotowelt betroffen wie Analogfilme, erleben Polaroidkameras und -filme ein solches Comeback, dass die Hersteller nicht bloß mit der Fertigung der teuren Bilderkartuschen nicht mehr nachkommen. Alleine die Sofortbildkamera instax von Fujifilm verkaufte sich dank Retroeffekt 2015 weltweit 4,3 Millionen Mal. Polaroid schaffte selbst zu besten analogen Zeiten nur vier Millionen.
4. Der Kunde hört auf Freunde
Der Pokémon-Virus im sozialen Umfeld breitet sich derart rasch aus, dass, wer mitreden will, das Spiel selbst ausprobieren muss. Ab einer kritischen Größe führt das zu einem quasi lawinenartigen Anwachsen der Nutzerzahlen. Im Fall des AR-Spiels setzte der Netzwerkeffekt schon nach wenigen Tagen ein. Das soziale Netzwerk Facebook etwa hatte für eine ähnliche Marktdurchdringung noch mehrere Jahre benötigt.
„Pokemon GO“ - wie die neue Super-App funktioniert
Doch der Effekt zieht nicht bloß bei digitalen Angeboten. Auch dem Wuppertaler Mittelständler Vorwerk gelang es so, seinen Küchenautomaten Thermomix mit einer Kombi aus Community-Gedanken, funktionaler Finesse und prominenten Fürsprechern zum Trendutensil zu machen. Auch bei wenig küchenaffinen Zeitgenossen, die sich zuvor weder für KitchenAid- noch für Bosch- oder Kenwood-Geräte interessiert hatten. Allein die jüngste, 1200 Euro teure Gerätegeneration, die den Austausch von Rezepten über eine Internetplattform ermöglicht, verkaufte sich in weniger als einem Jahr weltweit eine Million Mal.
5. Der Kunde mag es einfach
Pokémon Go erklärt sich von selbst. Selbst wer das Spiel nur als nervendes Kinderhobby kannte, kann sofort mitmachen. Wie von Geisterhand tauchen die Figuren im Display auf. Mit einem Fingerstreich lenkt der Spieler den Pokéball, der die Pixelmonster fängt. Mögliche Mitspieler erscheinen im Umgebungsbild, sobald sie sich nähern.
Das hätte besser auch Google beherzigt. Der Konzern stellte 2009 den Dienst Wave vor, der E-Mails ablösen sollte. Nur überfrachteten die Entwickler das Messaging-Tool mit Funktionen, und Wave floppte. WhatsApp-Gründer Jan Koum wählte den umgekehrten Weg. Bei seiner Handy-App übertrug er die Chatfunktion der PC-Messenger-Programme auf mobile Geräte. Kombiniert mit der Möglichkeit, Komplexes durch wenige, witzige Icons und Emoticons auszudrücken. Damit ist WhatsApp heute tatsächlich für weltweit mehr als eine Milliarde Menschen der unverzichtbare Nachfolger der E-Mail.
Was Innovationen erfolgreich macht
Je unterhaltsamer Produkte sind, desto beliebter sind sie.
Sich mit anderen zu vergleichen motiviert, Angebote immer wieder zu nutzen.
Neue Angebote vertrauter Marken setzen sich leichter durch.
Empfehlungen von Freunden überzeugen eher als Werbung.
Was sich dem Nutzer intuitiv erschließt, setzt sich bei knappen Zeitbudgets durch.
Die Gunst des rechten Augenblicks
Bei all dem aber ist sowohl der Erfolg von WhatsApp als auch jener von Pokémon Go auch einer Größe geschuldet, die sich von Produktstrategen kaum planen, wohl aber erkennen lässt: dem perfekten Zeitpunkt.
Beide Apps boomen auch, weil Smartphones heute Allgemeingut sind und Datenflatrates fürs mobile Internet Standard. Die so beliebte digitale Hatz nämlich ist im Grunde bloß die Neuauflage einer alten Spielidee namens Ingress. John Hanke, Chef der früheren Google-Tochter Niantic, hatte das Spiel 2012 erstmals publiziert. Die virtuelle Schnitzeljagd aber blieb ein Nischenphänomen – auch wegen der damals noch drastisch höheren Kosten fürs mobile Internet.
Nicht anders ist es mit den Datenbrillen, die wie kein anderes Gadget für Augmented Reality stehen. Vor vier Jahren stellte Google Glass vor, seinen Computer auf der Nase. Doch schon 2015 war damit Schluss: Der Akku hielt nicht lange, die Bedienung hakte, und die Öffentlichkeit akzeptierte die Brille mit ihrer augenfälligen Kameralinse nicht.
„Der kritische Punkt ist erreicht, wenn AR-Displays auf die Größe normaler Brillen oder gar Kontaktlinsen schrumpfen“, sagt Klaas Kersting, Chef des deutschen Spielestudios Flaregames. Genau daran arbeitet etwa der deutsche Optikspezialist Zeiss. Eine AR-Brille, der niemand mehr ihre Fähigkeiten ansieht. Gelingt es den Zeiss-Entwicklern, ihre Idee serienreif zu bekommen, erfüllte sich nicht nur der Traum von Millionen Pokémon-Fans, überall unauffällig auf Monsterjagd gehen zu können.
„Dann“, sagt Kersing, „hat die Technik das Potenzial, die Welt zu verändern.“