Der Lebensversicherer Fukoku ersetzt bis Ende März 34 Mitarbeiter durch die künstliche Intelligenz des IBM Watson Explorers. Die schlaue Software durchforstet ab dann alle Unterlagen zur Krankengeschichte von Patienten wie Arztberichte und Rechnungen. Dann prüfen die Algorithmen, welche Ausgaben von den Klauseln der individuellen Versicherungspolice gedeckt sind. Anschließend kalkuliert die Software die Auszahlungssumme an den Versicherungsnehmer. Auf diese Weise will Fukoku die Produktivität der Regulierungsabteilung um 30 Prozent steigern und die Kosten senken.
Künstliche Intelligenz in Aktion
„White Collar“-Jobs sind keine Sperrzone mehr für Roboter. Bei der US-Anwaltsfirma Baker & Hostetler arbeitet der digitale Kollege Ross. Er kann mit Hilfe von Datenbanken eigenständig Schlüsse ziehen und Beziehungen herstellen. So liefert er seinen menschlichen Kollegen die nötigen Unterlagen und eine Einschätzung der Relevanz für die bei ihm in Auftrag gegebenen Fälle.
Das Londoner Unternehmen IntelligentX lässt Bier nach einer Rezeptur einer künstlichen Intelligenz brauen. Das Ganze funktioniert mit Hilfe einer App. Wer ein AI-Bier probiert hat, kann dort sein Feedback abgeben. Auf Basis der darüber gesammelten Daten und maschinellem Lernen wird die Rezeptur für das Bier verändert.
Das Berliner Start-up Parlamind arbeitet an einer Software, die bald schon Kundenanfragen beantworten soll. Nachrichten werden dabei automatisch gelesen, erkannt, gruppiert und kategorisiert.
Das Self-Service-Center ist heute schon gar nicht mehr aus der Bankfiliale wegzudenken. Der Trend geht noch viel weiter. Softwares wie etwa das Finanzhandel-Analyseprogramm mit dem Namen Kensho sollen Prognosen zufolge in den nächsten zehn Jahren etliche Angestellte ersetzen.
In japanischen Läden besteht durchaus die Chance auf Pepper zu treffen. Der weiße kleine Roboter begrüßt dort Kunden, und beantwortet Fragen oder nimmt Beschwerden entgegen. In den japanischen Filialen von Nescafé berät Pepper auch schon bei der Kaffeewahl.
Dabei wird es nicht bleiben: Nach jüngsten Berechnungen des Forschungsinstituts Mitsubishi werden solche künstlichen Intelligenzen (KI) und richtige Roboter bis 2030 die Arbeitsplätze von 7,4 Millionen Japanern übernehmen, davon 1,5 Millionen im produzierenden Gewerbe und 720.000 in den Buchhaltungen der Unternehmen.
Was wie ein Schreckensszenario klingt, soll jedoch für Japan nach dem Willen der Regierung ein Segen sein. Denn die japanische Bevölkerung schrumpft so rasch, dass schon heute überall Arbeitskräfte händeringend gesucht werden. Darauf ist der Einsatz von künstlicher Intelligenz eine passende Antwort. Durch die neue Technik würden bis 2030 fünf Millionen neue Jobs geschaffen, schätzen die Mitsubishi-Forscher. Die netto freigesetzten 2,4 Millionen Arbeitskräfte landen jedoch nicht auf der Straße, sondern könnten in den Service-Sektoren der Wirtschaft unterkommen. Dort herrscht bereits heute starker Mangel an Arbeitskräften.
Fukoku ist nicht das einzige Assekuranz-Unternehmen, das auf KI setzt: Nippon Life benutzt ein KI-Programm, um bestmögliche Versicherungsangebote für ihre Kunden zu entwickeln und zu analysieren. Die Software berücksichtigt dabei alle 40 Millionen bereits abgeschlossenen Verträge. Der Versicherer Dai-ichi Life setzt ebenfalls den Watson Explorer bei der Bearbeitung von Auszahlungen ein. Die japanische Postversicherung will ab März das gleiche System testen.
Dass sich diese Programme rechnen, zeigt das Beispiel von Fukoku: Die Entwicklung und Installation der künstlichen Intelligenz kostet 200 Millionen Yen (1,6 Millionen Euro). Danach fallen laufende Kosten von 15 Millionen Yen (123.000 Euro) jährlich an. Die freigesetzten 34 Mitarbeiter kosten jährlich 140 Millionen Yen (1,1 Millionen Euro). Daher hätte sich die KI nach sechzehn Monaten rentiert - vorausgesetzt, der Watson Explorer arbeitet wirklich genauso gut wie ein menschlicher Sachbearbeiter.
Schneller schlau: So lernen Maschinen das Denken
Mit Kameras, Mikrofonen und Sensoren erkunden die Maschinen ihre Umwelt. Sie speichern Bilder, Töne, Sprache, Lichtverhältnisse, Wetterbedingungen, erkennen Menschen und hören Anweisungen. Alles Voraussetzungen, um etwa ein Auto autonom zu steuern.
Neuronale Netze, eine Art Nachbau des menschlichen Gehirns, analysieren und bewerten die Informationen. Sie greifen dabei auf einen internen Wissensspeicher zurück, der Milliarden Daten enthält, etwa über Personen, Orte, Produkte, und der immer weiter aufgefüllt wird. Die Software ist darauf trainiert, selbstständig Muster und Zusammenhänge bis hin zu subtilsten Merkmalen zu erkennen und so der Welt um sie herum einen Sinn zuzuordnen. Der Autopilot eines selbstfahrenden Autos würde aus dem Auftauchen lauter gelber Streifen und orangefarbener Hütchen zum Beispiel schließen, dass der Wagen sich einer Baustelle nähert.
Ist das System zu einer abschließenden Bewertung gekommen, leitet es daraus Handlungen, Entscheidungen und Empfehlungen ab – es bremst etwa das Auto ab. Beim sogenannten Deep Learning, der fortschrittlichsten Anwendung künstlicher Intelligenz, fließen die Erfahrungen aus den eigenen Reaktionen zurück ins System. Es lernt zum Beispiel, dass es zu abrupt gebremst hat und wird dies beim nächsten Mal anpassen.
Dass die Kosten sich so schnell amortisieren, hängt allerdings mit einer japanischen Besonderheit zusammen. Festangestellte Mitarbeiter sind durch Betriebsrenten, Boni und andere Beihilfen teuer und nur nach einer hohen Abfindung kündbar. Aber fast 40 Prozent aller Jobs sind mit Zeitarbeitern besetzt. Diese "Irregulären" werden zu mehr als der Hälfte auf Stundenbasis bezahlt und verdienen im Schnitt 36 Prozent weniger als die Festangestellten.
Außerdem kosten sie die Firmen deutlich niedrigere Sozialabgaben. Solche Zeitarbeiter arbeiten in der Regel ohne eigene Verantwortung zu. Alle 34 entlassenen Fukoku-Mitarbeiter fallen in diese Kategorie. Daher dürften in Zukunft solche Arbeitsplätze zuerst automatisiert werden.
Japan ist ein Sonderfall
Trotzdem wird die Zahl der Arbeitslosen in Japan deswegen nicht nach oben schnellen. Denn in vielen Service-Branchen sind Arbeitskräfte so knapp wie noch nie. In Japan herrscht bei einer Arbeitslosenrate von 3,1 Prozent de facto Vollbeschäftigung - und dies trotz einer seit Jahren steigenden Zahl von Erwerbstätigen.
Auf 100 Arbeitssuchende kamen zuletzt 141 Stellenangebote. Darunter sind viele Tätigkeiten im Einzelhandel, in Restaurants, auf dem Bau und in der Altenpflege. Solche Arbeiten werden oft in Teilzeit und mit begrenzter Vertragszeit vergeben, weil Firmen und Geschäfte die Festanstellung scheuen. In diesen Bereichen könnten die freigesetzten Zeitarbeiter aus den Versicherungsfirmen ohne großen Verdienstrückgang schnell unterkommen.
Noch ein zweiter Faktor macht Japan zum Sonderfall. In Nippon ist es nämlich die wichtigste Aufgabe eines Unternehmens, Arbeitsplätze zu schaffen und bis an die Grenze des Möglichen zu erhalten. Der Gewinn und die Dividende spielen traditionell eine untergeordnete Rolle.
Auch wenn es für festangestellte Mitarbeiter gerade keine "richtige" Arbeit gibt, werden sie trotzdem beschäftigt - und sei es auf scheinbar sinnlose Weise. Oft sieht man Menschen, die Schilder mit Informationen hochhalten (zur Veranstaltung XYZ nach rechts gehen) oder überflüssige Durchsagen mit dem Megafon machen (Die Rolltreppe ist kaputt, bitte die Treppe nehmen). Darüber kann man sich lustig machen. Aber das schont den Sozialstaat und die Allgemeinheit.
Unter den vielen offenen Stellen finden sich auch Jobs, die es in Deutschland gar nicht gibt: Etwa Parkplatzwächter für Supermärkte und Einkaufsmeilen. Diese Jobs sind dem japanischen Service-Gedanken geschuldet, dass der Kunde schon auf dem Parkplatz das Gefühl bekommen soll, umsorgt zu sein. Oder die Einweiser vor größeren Baustellen, die den Verkehr regeln. Diese Jobs sind eine Folge der engen Straßen und der vielen Menschen, die das An- und Abfahren von Lieferfahrzeugen erschweren.
Für solche Aufgaben wird man auch in Zukunft keine künstliche Intelligenz einsetzen. Japan scheint damit ein gutes Umfeld zu haben, um die kommende Automatisierung ohne soziale Aufstände zu verkraften.
In dieses Bild passt die Nachricht, dass es selbst einem speziellen KI-Programm nicht gelungen ist, die Aufnahmeprüfung der Universität Tokio zu bestehen. Die Forscher haben ihr Projekt vor wenigen Wochen aufgegeben. "KI ist nicht besonders gut bei Prüfungsfragen, die ein Verständnis über ein breites Spektrum voraussetzen", gestand Professor Noriko Arai vom Nationalen Informatik-Institut.