Videospiele Champagner im Rechnerraum

Niemand bildet die Realität in Computerspielen präziser nach als Sony-Bestseller-Entwickler Kazunori Yamauchi.

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Simulator Yamauchi Quelle: Robert Gilhooly für WirtschaftsWoche

Realität und virtuelle Welt schieben sich bei Kazunori Yamauchi mitunter dicht aneinander. Ungezählte Male hat der 44-jährige Spieledesigner das 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring gewonnen. Allerdings nur an der Spielekonsole, in der virtuellen Wirklichkeit der von ihm entwickelten Rennsimulation Gran Turismo 5.

Ende Juni aber siegte der Schöpfer des weltbekannten Rennspiels endlich auch in der Realität: Mit einem Nissan-GT-R-Sportwagen raste Yamauchi nach 24 Stunden als Führender in dieser Fahrzeugklasse über die Ziellinie des Traditionskurses in der Eifel. Yamauchi stand mit seinem vierköpfigen deutsch-japanischen Team erstmals ganz oben auf dem echten Podium. „Das Rennen war dramatisch, danke für die Glückwünsche“, twitterte der Chef der zum Sony-Konzern gehörenden Spieleschmiede Polyphony danach in die Welt.

Perfektes digitales Abbild

Mit dem Sieg erfüllte sich für Yamauchi ein Traum. Schließlich kannte er die Strecke schon lange besser als viele Rennfahrer: Von der Fahrphysik der Boliden bis zur Neigung der Straßen hat er sie in Gran Turismo exakt nachgebildet. Bilder und Fahrverhalten sind so realistisch, dass selbst Spitzenrennfahrer mit dem Spiel trainieren. Formel-1-Doppelweltmeister Sebastian Vettel etwa nutzt das Programm, um sich auf neue Rennstrecken vorzubereiten. Erst vor wenigen Tagen ist eine nochmals verbesserte Fassung der fünften Gran-Turismo-Version erschienen. Mit ihr wirkt selbst der Bummel durch die Team-Lounges oder die Boxengasse echt.

Gran Turismo ist eines der erfolgreichsten Computerspiele aller Zeiten. Seit 1997 wurden rund 64 Millionen Exemplare verkauft – gut sieben Millionen allein in den vergangenen zwölf Monaten. Vor allem aber steht die aufwendige Simulation für den tief greifenden Umbruch der Branche. Zwei Spielvarianten setzen sich durch. In sozialen Netzwerken wie Facebook finden Millionen Kurzzeit-Gamer Gefallen an simpel gestrickten und grafisch einfach gehaltenen Spielen wie Farmville oder Mafia Wars. Ihnen gegenüber stehen die Kassenschlager der Spieleszene. Sie werden aufwendig produziert wie Kinofilme. Und Yamauchi ist einer der angesehensten Regisseure dieses exklusiven Genres.

Liebe zu schnellen Autos

Steuerkonsole Gran Turismo Quelle: Robert Gilhooly für WirtschaftsWoche

Megaseller wie seine Gran-Turismo-Simulation sind komplexe, durchkomponierte Werke, die die Realität immer genauer abbilden. Umgerechnet 60 Millionen Dollar hat die Entwicklung von Gran Turismo 5 verschlungen. Das entspricht dem Budget vieler Hollywood-Streifen. Fünf Jahre lang feilten 150 Polyphony-Entwickler und -Ingenieure in Tokio an der jüngsten Auflage der Rennsimulation. Getrieben vom fast schon fanatischen Drang Yamauchis, eine perfekte digitale Kopie der Rennsportwelt zu erschaffen. Dass er dabei Kompromisse eingehen musste, schmerzt den Star-Regisseur: „Bei der Planung habe ich Hunderte Ideen, aber verwirklichen können wir leider nur einen Bruchteil.“

Das perfekte virtuelle Autorennen zu schaffen ist das Projekt seines Lebens. Schon die Arbeit an der ersten Version von Gran Turismo für Sonys Playstation dauerte fünf Jahre. Anregungen holte sich Yamauchi damals bei illegalen Rennen auf Tokioter Autobahnen. „Wir rasten nach Mitternacht die 80 Kilometer zum Berg Fuji und zurück“, erinnert sich der 44-Jährige, der am liebsten Jeans und T-Shirt trägt.

Das gefährliche Hobby hat er eingestellt. Schnelle Autos liebt er weiterhin. Neben einem Mercedes SL 55 AMG fährt er unter anderem einen Porsche 911 GT3. Geld hat Yamauchi genug, seit Sony sein GT-Entwicklungsteam 1998 kaufte und ihn zum Vizepräsident der Spielesparte ernannte.

Der Mann mit dem jungenhaften Kurzhaarschnitt akzeptiert keine Schludrigkeiten. Ganz wie Hollywoods berüchtigte Regiegrößen lässt er sein Team so lange antreten, bis jedes Detail stimmt, jeder Kameraschwenk sitzt und jeder Lichteffekt auf den Karossen an exakt der richtigen Stelle aufblitzt. Seine Mitarbeiter bewundern diese Akribie. Und sie akzeptieren seine Rolle als unumschränkter Herrscher. „Er entscheidet alles“, sagt einer.

Es ist kein Zufall, dass Yamauchis ganze Leidenschaft den Rennspielen gehört. Schon als Kleinkind interessierte er sich für alles, was vier Räder hat, erzählen seine Eltern. Als Schüler erkannte er jedes Automodell auf den ersten Blick. Kaum kamen vor rund 30 Jahren die ersten Computer auf den Markt, entwickelte Yamauchi mit „Motor Toon“ sein erstes Rennspiel. Die Autos bestanden damals aus wenigen Pixeln.

Spiel mit der Realität

Mit den heutigen Spielen hat dieser Vorläufer nichts mehr gemein. Die gewaltigen Fortschritte in der Computertechnologie ermöglichen einst unvorstellbare virtuelle Rennerlebnisse. Die Autos rasen durch dreidimensionale Abbildungen bekannter Rennstrecken, der Spieler kann dabei wechselnde Perspektiven einnehmen. Damit die Simulationen echt wirken, schickt Yamauchi seine Teams manchmal Monate zu den Rennstrecken. Allein um den Nürburgring elektronisch nachbauen zu können, schossen die Spieledesigner 100 000 hochaufgelöste Fotos – von der Zuschauertribüne, den Reifenstapeln, ja sogar von den Fan-Graffiti auf dem Asphalt.

Mehr noch: Damit Spiel und Realität wirklich verschmelzen können, haben die Programmierer selbst den Neigungswinkel der Kurven und Geraden vermessen. So kann die Software sogar nachstellen, wie das Wasser nach einem Schauer abläuft. Genauso akribisch dokumentieren die Softwareingenieure das Innere der mehr als 1000 im Spiel verfügbaren Fahrzeugtypen – vom Formel-1-Boliden bis zum VW-Kübelwagen. Auch Fahrzeuge mit Hybridmotor und sogar Elektroautos von Mitsubishi und Tesla gehören zur Modellpalette. Inklusive der Originalgeräusche, die diese Autos machen.

Entgegenkommen der Autokonzerne

Modellautos Quelle: Robert Gilhooly für WirtschaftsWoche

Die Spieler können zwischen 70 Rennkursen wählen, die komplette NASCAR-Rennserie oder Rallyes fahren. Sie können sich selbst Gokart-Pisten konfigurieren oder die Teststrecke der beliebten BBC-Autosendung „Top Gear“ ausprobieren. Haben sie einen passenden Monitor und eine 3-D-Brille, wird die Raserei über die Rennstrecken sogar zum räumlichen Erlebnis. Yamauchi persönlich hält den Kontakt zu den großen Automobilbauern und wählt die interessanten Modelle aus. „Deutschland besuche ich am häufigsten.“ Er spricht dort mit Daimler, BMW, Audi und VW. Sofern es sein Terminkalender erlaubt, gönnt er sich ein paar schnelle Kilometer auf deutschen Autobahnen, wo kein generelles Tempolimit den Spaß an hohen Geschwindigkeiten bremst.

Die Wertschätzung ist gegenseitig. Denn die Autokonzerne wissen, dass die Präsenz ihrer Fahrzeuge in Yamauchis Rennwelten verkaufsförderlich ist. Das Entgegenkommen ist groß. Daimler etwa überließ ihm die streng geheimen Konstruktionsunterlagen des Supersportwagen AMG SLS, damit die Softwerker den digitalen Doppelgänger möglichst perfekt nachbauen konnten. Yamauchi spornen solche Zugeständnisse an, seine Rennspiele immer noch perfekter zu gestalten.

Umgekehrt definieren die Konzerne mitunter die Grenzen des Realismus: Bis vor Kurzem knüpften sie die Lizenz zum Nachbau ihrer Fahrzeuge daran, dass diese selbst übelste Crashs ohne Schramme überstehen. „Viele Hersteller wollten nicht, dass man ihre Autos zu Schrott fahren kann“, erläutert Yamauchi. Jetzt haben sie vor seiner Hartnäckigkeit kapituliert: In der jüngsten Version ist das von vielen Spielern ersehnte Schadensmodell eingebaut.

Vernetzte virtuelle Rennwelt

Doch das soll es noch nicht gewesen sein. Als Nächstes will Yamauchi für Spieler im Internet eine eigene virtuelle Welt mit Fahrern, Teams, Klubs und Herstellern schaffen. Weil er über das Netz direkt mit den Nutzern kommunizieren kann, erhofft er sich viele Anregungen für die Weiterentwicklung der Rennspiele.

Dass dies noch häufiger Nachtarbeit bedeutet, sieht Yamauchi gelassen. Die neuen Büros im zentralen Tokioter Stadtteil Koto sind dafür bestens ausgestattet. Sie verfügen über Küche, Duschen und Betten. Nachtschichten ist Yamauchis Team gewohnt. „Wenn wir kurz vor der Veröffentlichung eines neuen Download-Pakets stehen, arbeiten viele durch“, berichtet ein Programmierer. Damit das leibliche Wohl nicht zu kurz kommt, hat Yamauchi in den kühlen Rechnerräumen Dutzende Kisten Champagner und Rotwein eingelagert.

Und sollte die Erde in Tokio wieder einmal beben, kann die Arbeit künftig dennoch weitergehen. Dazu hat Yamauchi ein Drittel seiner Kollegen im 1000 Kilometer entfernten Fukuoka einquartiert. Nicht einmal im Katastrophenfall will der Spiele-Regisseur die Kontrolle über seine virtuellen Welten an die Realität verlieren.

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