Viktor Mayer-Schönberger "Man könnte Daten rosten lassen"

Mensch und Internet passen nicht zusammen, sagt der Wissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger. Er will dem Netz deshalb das Vergessen beibringen. Kann das gelingen?

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Viktor Mayer-Schönberger Quelle: Lukas Beck für WirtschaftsWoche

Stacy Snyder wollte Lehrerin werden. Die Amerikanerin hatte die Seminare abgeschlossen, Probestunden absolviert und passable Noten. Doch der Traum platzte: Der Dekan ihrer Hochschule teilte ihr mit, dass sie wegen ihres Verhaltens keine Lehrbefugnis erhalten werde. Ein Foto auf der Netz-Plattform Myspace zeigte sie mit Piratentüchern und einem Plastikbecher in der Hand. „Drunken Pirate“ nannte sie das Bild.

Das Foto, so urteilte die Uni-Verwaltung, ermutige Schüler zum Trinken. Ans Löschen des unliebsamen Souvenirs war indes nicht zu denken: Die Seite war längst von Suchmaschinen erfasst, archiviert und Snyders wilde Nacht für die Ewigkeit festgehalten. Solche Beispiele gibt es Tausende. Für den Internet-Wissenschaftler Viktor Mayer-Schönberger ist jedes Einzelne ein Beleg dafür, dass Mensch und Internet nicht zusammenpassen: Der Mensch vergisst, das Internet nicht. Er fordert daher ein Verfallsdatum für Daten.

WirtschaftsWoche: Herr Mayer-Schönberger, seit jeher versuchen Menschen, ihr Gedächtnis zu verbessern. Nun haben wir mit den digitalen Medien die Chance, unbegrenzt Wissen zu sammeln. Wieso sollten wir ausgerechnet das Vergessen neu lernen? 

Mayer-Schönberger: Über Jahrhunderte haben Menschen versucht, sich wichtige Dinge zu merken, auch mit Hilfsmitteln wie Bildern oder Tagebüchern. Das Erinnern hat sich dabei zu einer Kulturtechnik entwickelt. Doch das Erinnern war stets mit Aufwand verbunden: Tagebücher mussten geschrieben, Videokassetten gekauft und Filme entwickelt werden.

Vergessen war billiger.

Genau. Doch dieses Verhältnis kehrt sich um: Kameras, PCs oder Mail-Postfächer können riesige Datenmengen zu geringen Kosten lagern. So ist das Erinnern zur Norm geworden. Es geschieht bei vielen Geräten und Programmen automatisch. Vergessen erfordert – wenn es überhaupt möglich ist – aktives Löschen. Das kostet Zeit und gelingt vielfach nicht einmal.

In der Debatte um die Reform des Datenschutzes fordert Bundesinnenminister Thomas de Maizière Internet-Dienstleister auf, sich selbstständig auf datenschutzfreundliche Regelungen zu einigen, wonach Nutzer persönliche Daten löschen lassen können.

Das ist ein erster Schritt. Aber er geht nicht weit genug. Denn es herrscht regelrecht Goldgräberstimmung: Speichern ist billig. Daher horten die Anbieter Daten, die sie kriegen können. Facebook etwa sammelt massenhaft Informationen, ohne genau zu wissen, was man damit anfangen kann.

Keiner ist verpflichtet, sich bei Facebook zu öffnen.

Gut, dann nehmen Sie die DNA-Datenbanken von Ländern wie Großbritannien und den USA: Wenn Sie dort Opfer eines Verbrechens werden, wird oft eine DNA-Probe genommen, um Ihre Spuren am Tatort herauszufiltern. Diese Informationen werden aber nie gelöscht. Damit bleiben Sie ein Leben lang verdächtig. Denn bei jeder Abfrage der Datenbank werden Ihre Daten verglichen.

Ähnlich verhält es sich mit der Vorratsdatenspeicherung, für die Verbindungsdaten normaler Kunden gespeichert werden. Wir brauchen daher ein vom Nutzer festgelegtes Verfallsdatum für Daten.

Für welche Daten? 

Für alle.

Facebook Quelle: Getty Images

Wie soll das Verfallsdatum aussehen? 

Immer wenn Sie einen Text, ein Bild oder ein Video speichern, werden Sie gebeten, neben dem Dateinamen auch ein Ablaufdatum anzugeben. Dieses Verfallsdatum wird als sogenannte Meta-Information mit der Datei gespeichert...

...ähnlich wie bei Fotos der Ort der Aufnahme in der Datei gespeichert werden.

Den Rest übernimmt der Computer: Er verwaltet Ablaufdaten und tilgt Dateien, deren Zeit abgelaufen ist. Das ist bei Filmen aus Online-Videotheken heute schon üblich.

Was passiert, wenn eine Datei eine zu kurze Lebenszeit bekommen hat? 

Es wäre kein großer Aufwand, eine Funktion zu integrieren, die den Besitzer rechtzeitig vor dem Verfall von Dateien informiert. Letztlich ist das nichts anderes, als den Kühlschrank nach abgelaufenen Lebensmitteln zu durchsuchen.

Vielen dürfte das schon Arbeit genug sein.

Ein kurzes Nachdenken, ein oder zwei Klicks – länger darf es nicht dauern, das Verfallsdatum einzustellen. Sonst wird die Idee nicht akzeptiert. Dabei könnte die Software mögliche Verfallsdaten zur Auswahl vorschlagen, beispielsweise 4 Wochen, 48 Monate oder 400 Jahre. Das würde sicherstellen, dass wir uns immer wieder mit der Tatsache auseinandersetzen, dass eine Information möglicherweise für immer im Netz zu finden ist.

Sie wollen also erzieherisch tätig werden.

Wenn Sie so wollen, ja. Übrigens gibt es solche Ansätze, den Verlust der Vergesslichkeit zu überwinden, längst.

Zum Beispiel? 

Bei Drop.io etwa, einer Netz-Plattform zum Tauschen von Fotos oder Dokumenten, können Kunden angeben, wie lange die Daten online bleiben sollen. Mit dem Programm Tigertext wiederum können Smartphones wie iPhone und Blackberry Nachrichten verschicken, die nach einiger Zeit verschwinden – im Gegensatz zur SMS. Evizone wiederum bietet Ähnliches für Unternehmen an.

Alles keine Top-Namen. Google und Amazon dagegen leben davon, möglichst viel über ihre Kunden zu wissen.

Ich hoffe, dass die Kunden mit ihren Füßen abstimmen und Angebote nutzen, die das digitale Vergessen erlauben. Aus Gesprächen weiß ich, dass eine solche Funktion sehr wohl Thema bei großen Suchmaschinen ist. Es mag allerdings sein, dass ein gesetzlicher Rahmen für ein Haltbarkeitsdatum notwendig ist.

Wie sollte sich Google ändern? 

Der Suchkonzern könnte zwei Buttons anbieten: „Suche und erinnere “ sowie „Suche und vergiss “. Wettbewerber Ask.com bietet etwas Ähnliches schon. Nutzer hätten dann die Kontrolle über intime Informationen: Beispielsweise können sie geheim halten, dass sie nächtelang zum Thema Depression recherchiert haben. Auch Autoren von Web-Seiten sollten Google sagen können, wie lange ihre Inhalte im Internet über Suchmaschinen zu finden sein sollen.

Mitunter sind auch E-Mails ein Problem, die zu lange am falschen Ort bleiben.

Programme wie Outlook von Microsoft oder Mail von Apple könnten mit einer Zusatzfunktion ausgestattet werden, die abgelaufene Mails aussortiert. Voraussetzung ist aber, dass alle Programme und Internet-Portale einen Standard unterstützen, der das ermöglicht.

Google Street View Quelle: dapd

Und genau deshalb wäre der technische Aufwand immens: Es müssten nicht nur Standards geschaffen werden, sondern auch Instanzen, die kontrollieren, dass die Daten tatsächlich gelöscht werden.

Verglichen mit der umstrittenen Vorratsdatenspeicherung ist der Aufwand gering. Und die Nachfrage nach solchen Techniken wird zunehmen. Gerade entsteht ein neues Problem, das noch niemand so recht überblicken kann, mit RFID-Chips...

...Funketiketten, die Gegenstände vernetzen, beispielsweise Hemden, deren Preis ein Lesegerät im Bekleidungsgeschäft automatisch erfassen kann, ohne das Hemd aus dem Wagen zu nehmen.

Hier gibt es eine heftige Debatte darüber, wie lange die Chips aktiv bleiben sollen. Die Sorge: Die Bewegungen von Menschen lassen sich detailgenau verfolgen.

Auf der anderen Seite kann es auch nützlich sein, Privatsphäre aufzugeben: Je besser Google uns kennt, desto genauer die Suchergebnisse.

Theoretisch stimmt das. Praktisch aber wirkt sich die personalisierte Suche bei Google und Bing auf die Suchergebnisse kaum aus. Das haben wir vor einigen Monaten wissenschaftlich mit Kollegen in Harvard untersucht.

Dennoch ist ein Verfallsdatum ein recht harter Schnitt.

Man könnte die Daten auch rosten lassen. Das Konzept klingt zunächst verrückt, ist aber eine gute Ergänzung: Gespeicherte Informationen würden dabei mit den Jahren immer ungenauer. So könnten etwa die GPS-Ortungsinformationen, die in vielen Fotos hinterlegt sind, zu Beginn die genaue Position enthalten, später nur noch den Stadtteil und am Ende nur mehr den Ort.

Sollte Ihr Verfallsdatum ein Erfolg werden, werden Historiker Sie eines Tages hassen.

Ich denke nicht. Es geht nicht darum, dass wir alle Daten löschen. Wer sich bewusst dafür entscheidet, kann man auch weiterhin Bilder und Texte für die Ewigkeit sichern. Früher haben wir auch nicht jeden Werbezettel aufbewahrt.

Und wieso war es früher besser? 

Denken Sie einmal an den Schuhkarton mit Fotos, den viele auf dem Dachboden lagern. Wenn man die Bilder ansehen will, nimmt man ein Glas Wein und öffnet den Karton. Man unternimmt bewusst eine Reise in die Vergangenheit. Im digitalen Zeitalter können Sie jederzeit auf die Vergangenheit stoßen, selbst wenn Sie es nicht wollen.

Stellen Sie sich vor, Sie suchen nach der Mail eines Freundes, um sich zum Kaffee zu verabreden. Dabei stoßen Sie zufällig auf eine alte Mail, in der Sie einen Streit mit ihm hatten. Durch diesen Fund kommt eine alte, irrelevant gewordene Information in Ihre Erinnerung zurück, die Ihre Entscheidungen in der Gegenwart beeinflusst.

Das passiert aber nicht alle Tage.

Stimmt. Aber Psychologen haben schon vor Jahren gezeigt, dass Menschen, die nicht vergessen können, Probleme haben, zu entscheiden. Sie fühlen sich erinnert an alle Fehlentscheidungen aus der Vergangenheit und werden so in der Gegenwart handlungsunfähig.

Fast hätte ich es vergessen: Verhalten Sie sich im Netz wegen der Gefahren abstinent – und schweigen? 

Nein. Ich nutze Facebook sehr intensiv. Allerdings ausschließlich beruflich. Privates von mir finden Sie dort nicht.

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