175 Jahre Fotografie Vom „Spiegel mit Gedächtnis“ zum Selfie

Die Fotografie sollte 1839 ein Geschenk für alle Menschen sein. Der französische Staat wollte mit dem vom Erfinder abgekauften Patent kein Geld verdienen. Ist die Vision Wirklichkeit geworden?

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Belichtungszeit acht Stunden: Das wohl erste bis heute erhaltene Foto zeigt den Blick aus einem Zimmer in Le Gras. Aufgenommen wurde es von Joseph Nicéphore Niépce 1826/1827. Er arbeitete zusammen mit Louis-Jacques-Mandé Daguerre. Niépce verstarb 1833, Daguerre stellte das Verfahren am 19. August 1839 der Öffentlichkeit vor. Quelle: Wikipedia / OTRS

Hannover/Essen Die Geburtsstunde der Fotografie war ein gesellschaftliches Ereignis: Am 19. August 1839 wurde die Erfindung in der Pariser Akademie der Wissenschaften mit allen technischen Details vorgestellt und feierlich als Geschenk der Menschheit übergeben. Der französische Staat hatte dem Erfinder Louis Jacques Mandé Daguerre die Rechte an dem Verfahren abgekauft und gab es zur kostenlosen Nutzung für alle frei. Die oft geschmähte und sogar totgesagte Fotografie hat seitdem in ihrer 175-jährigen Geschichte einen beispiellosen Siegeszug um die Welt angetreten.

Der Photoindustrie-Verband will zur Feier des Jubiläums einen riesigen Bilderglobus entstehen lassen, zu dem jeder Fotos beisteuern kann. Im September soll die Weltkugel auf der Fachmesse Photokina in Köln präsentiert werden. Darüber hinaus nehmen zahlreiche Museen und Galerien den Jahrestag zum Anlass für Sonderausstellungen. Sie blicken nicht nur zurück, sondern spiegeln auch die Gegenwart.

„Mitte der 1990er Jahre wusste man, dass die Fotografie anders wird. Jetzt ist dieser große Umbruch gekommen vor allem mit den sozialen Netzwerken und den sogenannten Foto-Communitys. Wie heute Bilder zirkulieren, ist ein Quantensprung“, sagt Florian Ebner, Leiter der fotografischen Sammlung des Museums Folkwang in Essen.

Der 44-Jährige wird den Deutschen Pavillon der Biennale von Venedig im kommenden Jahr gestalten. Zum ersten Mal fiel damit die Wahl auf einen Fotokunst-Experten, was einiges über die Bedeutung der Fotografie als Kunstgattung aussagt.

Für Ebner ist die Stärke der Fotografie, dass sie so viele Gesichter und Sprachen hat. „Sie hat etwas zu tun mit dem Journalistischen, mit dem Privaten, mit dem Amateurhaften, aber auch mit Luxus und schöner Illusion.“

Schon vor 175 Jahren fingen die Menschen sofort Feuer für den „Spiegel mit Gedächtnis“, wie die Daguerreotypie-Kamera auch genannt wurde. In der zeitgenössischen Presse war ironisch von „Daguerreotypomanie“ die Rede.

Fotoateliers entstanden in beinahe jeder Großstadt. Abgelichtet wurden zunächst Bauwerke, Denkmäler, Kunstschätze und bald auch prominente Persönlichkeiten.

Das Frankfurter Städel Museum zeigt noch bis zum 5. Oktober unter dem Titel „Lichtbilder“ Fotografien aus der eigenen Sammlung von den Anfängen bis 1960. In dem Museum gab es laut einer Anzeige im Frankfurter „Intelligenz Blatt“ bereits 1845 eine Fotoausstellung - so weit bekannt, die früheste weltweit.

Zur anerkannten Kunstform mauserte sich die Fotografie allerdings erst in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, weil Künstler wie Gerhard Richter oder Sigmar Polke anfingen, sich mit ihr zu beschäftigen.

In den USA dokumentierten die Vertreter der Land Art ihre Werke mit Fotos, auch in der Konzeptkunst spielte die Fotografie eine große Rolle.

Von Beginn an versuchten auch Laien besonders auf Reisen ihre Erlebnisse in Bildern zu bannen. Schon 1893 tagte die Gesellschaft zur Förderung der Amateur-Photographie in Hamburg.

Wolfgang Kemp, Herausgeber einer mehr als 1000-seitigen „Theorie der Fotografie“, beobachtet derzeit eine Revolution beim privaten Bildermachen. „Der soziale Gebrauch hat sich völlig geändert“, sagt der an der Uni Lüneburg lehrende Kunsthistoriker.

„Früher wurden nur die herausragenden Momente für das Album, für die Erinnerung fotografiert. Heute dient das Foto meist der momentanen Mitteilung. Es wird sofort weitergeleitet, verbraucht und verschwindet.“

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