Amundsen am Südpol Tödlicher Tanz um den Pol

Er stahl sich mit einer Lüge aus der Heimat – und kehrte als strahlender Polarheld zurück: Vor 100 Jahren stand Roald Amundsen als erster Mensch am Südpol – Krönung eines Wettlaufs, den andere mit dem Leben bezahlten.

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Die Sieger: Roald Amundsen (l.) und seine Männer stehen auf dem Südpol. Auf ihrem Zelt weht die norwegische Flagge. Quelle: dapd

Düsseldorf „Erlaube mir mitzuteilen, Fram auf dem Weg Antarktis - Amundsen.“ Als Kapitän Robert Falcon Scott am 12. Oktober 1910 dieses Telegramm in Händen hält, hat sein Expeditionsschiff, die „Terra Nova“, gerade Melbourne erreicht. Als erster Mensch will Scott zum Südpol vorstoßen – eine Aufgabe, an der er sechs Jahre zuvor noch gescheitert war. Diesmal rückt er dem letzten weißen Flecken auf der Weltkarte mit modernster Technik zu Leibe: Im Bauch der „Terra Nova“ liegen drei Motorschlitten bereit, eigens entwickelt für den gnadenlos langen Weg durch das ewige Eis. Ein ganz besonderer Trumpf im Kampf gegen eine mörderische Natur, so hofft der Kapitän.

Doch an jenem 12. Oktober muss Scott realisieren, dass er nicht nur gegen die Naturgewalten kämpfen wird. An Bord der „Fram“, dem besten Polarschiff seiner Zeit, segelt einer, der weiß, wie man eine Eiswüste überwindet, um ein einzigartiges Ziel zu erreichen: Norwegens Nationalheld Roald Amundsen.

Als erster Mensch hat Amundsen die legendäre Nordwestpassage durchfahren, an Bord einer kleinen Schaluppe, mit der er zwei Winter eingeschlossen im Eis des Polarmeeres übersteht. Amundsen nutzte diese Zeit, um von den Inuit vor Ort zu lernen. Als das Eismeer ihn schließlich frei gab, hatte Amundsen nicht nur eine sagenumwobene Wasserstraße durchfahren. Wie kein anderer Polarforscher seiner Zeit wusste er nun um die Techniken, die für das Überleben im Eis unverzichtbar sind. Und er war entschlossen, dieses Wissen anzuwenden, um sich den letzten noch verbliebenen Lorbeer der Polarforschung zu sichern: den Südpol.

Lieber ein lebender Esel als ein toter Löwe

Seit der Amerikaner Robert Edwin Peary sich 1909 zum Sieger im Wettlauf um den Nordpol erklärt hatte – auch wenn er nach heutiger Einschätzung den Pol tatsächlich wohl nie erreichte – , blieb dem Ehrgeiz der Entdecker nur noch dieser südlichste Punkt des Globus als Ziel übrig. Fast wäre auch dieser Rekord schon früher gefallen: Am 9. Januar 1909 stand der britische Polarforscher Ernest Shackleton mit vier Begleitern nur noch 180 Kilometer vom Südpol entfernt.  Doch extreme Witterungsbedingungen und schwindende Vorräte zwangen die Expedition zur Umkehr. „Ich denke, dir ist ein lebendiger Esel lieber als ein toter Löwe“, so Shackleton nach der Rückkehr zu seiner Frau Emily.

Bei der Suche nach einem geeigneten Platz für sein Basislager hatte Shackleton seinerzeit auch die Bucht der Wale am antarktischen Ross-Scheilfeis erkundet – und verworfen. Für ihn war es undenkbar, ein Camp auf Schelfeis statt auf festem Boden zu errichten. Scott folgt seinem Landmann in dieser Einschätzung und errichtet sein Lager nach Eintreffen in der Antarktis auf einem felsigen Kap der Ross-Insel.

Amundsen ist weniger besorgt um die Stabilität des Eises. „Auf der gleichen Eisbarriere, wo Shackleton Gott dafür dankte, nicht an Land gegangen zu sein, haben wir unser Haus aufgeschlagen“, notiert er im Januar 1911 in sein Tagebuch. Damit liegt „Framheim“, wie die Norweger ihr Lager nennen, rund 150 Kilometer näher zum Südpol als Scotts Basis. Schon vor dem ersten Schritt über das Eis hat sich Amundsen einen gewaltigen Vorsprung gesichert.


Zum Erfolg verdammt

Der Norweger ist zum Erfolg verdammt, hat er seine Fahrt zum Südpol doch unter höchst dubiosen Umständen angetreten. Seine Geldgeber, seinen wissenschaftlichen Förderer Fridtjof Nansen, sogar den norwegischen König und das Parlament täuschte Amundsen über das Ziel seiner Expedition: Zum Nordpol wolle er reisen, wo es zwar keinen Entdeckerruhm mehr zu ernten gab, dafür aber umso mehr wissenschaftliche Arbeit wartete.

Vor allem Nansen, der selbst mit einer Reise zum Südpol liebäugelte, musste sich getroffen fühlen, als ihn Amundsen per Brief beichtete, schon ein Jahr vor Abfahrt der „Fram“ den Südpol als eigentliches Ziel ins Auge gefasst zu haben. „Urteilen Sie nicht zu hart über mich. Ich habe den einzigen Weg beschritten, der mir offen stand. Jetzt müssen die Dinge ihren Lauf nehmen.“ Als Nansen diese Zeilen liest, ist Amundsen mit der „Fram“ längst auf dem Weg in die Antarktis.

Mit dem Südpol im Gepäck wird niemand nach der Rückkehr peinliche Fragen stellen, das weiß Amundsen. Entsprechend motiviert geht er zu Werke. „Unser Ziel ist einzig und allein, zum Pol zu gelangen. Dafür muss alles andere zurückstehen“, notiert er ins Expeditionstagebuch.

Anfang Februar beginnen die Norweger damit, Depots entlang der Route zum Pol anzulegen. Die Männer kommen gut voran, ihre Schlittenhunde sind froh, nach der langen Seereise wieder laufen zu können. Als die Sonne am 21. April für die langen Monate der Polarnacht untergeht, sind mehr als 12 Tonnen Nahrung und Brennstoff entlang der ersten 400 Kilometer verteilt. „Morgen feiern wir das Ende der Herbstarbeit, und wir können wirklich mit gutem Gewissen feiern“, so Amundsen. Für den Rest der rund 1400 Kilometer langen Strecke vertraut er auf seine grönländischen Schlittenhunde, als Zugtiere – und Nahrung.

„Schlitten ziehen bricht einem das Kreuz“

Auch Scott trifft seine Vorbereitungen, doch die Arbeiten stehen unter keinem guten Stern. Schon beim Ausladen bricht einer der Motorschlitten durchs Eis und versinkt im Meer. Auch die beiden anderen sind keine große Hilfe, die Technik erweist sich in der extremen Kälte als anfällig, zudem fehlt es an Ersatzteilen und kundigen Mechanikern.

Die Briten haben nur wenige Hunde dabei, zudem einige Ponys, die dem Polarklima allerdings kaum gewachsen sind. Oft müssen die Männer ihre Schlitten selbst ziehen, was an den Kräften zehrt und die Stimmung drückt. „Schlitten ziehen bricht einem das Kreuz. Es ist die schlimmste Arbeit, die ich je getan habe“, notiert Henry Bowers in seinem Tagebuch. Er wird später an der Seite von Scott den Tod finden.

Einen Monat benötigen Scotts Männer, um in die Nähe des 80. Breitengrades zu kommen, wo sie ihr größtes Depot anlegen. Amundsens Hundeschlitten haben für eine ähnlich weite Strecke kaum fünf Tage gebraucht. Scotts Ein-Tonnen-Depot liegt nicht ganz so weit südlich wie geplant, was sich später als verhängnisvoll erweisen wird – sind es doch genau jene Kilometer, die Scott und seinen Begleitern auf dem Rückweg vom Pol zur Rettung fehlen werden.


Fataler Fehlstart

Bei allen Problemen versucht Scott hartnäckig, die Konkurrenz in der Bucht der Wale zu ignorieren. „Ich habe mich schon sehr früh entschlossen, mich so zu verhalten, als existiere Amundsen nicht. Jeder Versuch, mich auf ein Rennen einzulassen, hätte meine Planung zerstört“, notiert er.

Ein Angebot der Norweger zur Zusammenarbeit, ausgesprochen bei einer Begegnung beider Schiffe kurz nach Eintreffen in der Antarktis, hat die britische Seite ausgeschlagen. Niemand dürfte darüber so erleichtert gewesen sein wie Amundsen selbst, der von der Überlegenheit der eigenen Planung und Ausrüstung überzeugt ist: „Die Engländer haben der Welt erzählt, dass Skier und Hunde in diesen Regionen wertlos, Anzüge aus Fell Unfug sind. Wir werden ja sehen.“

Zum Ende des antarktischen Winters gerät Amundsens Zuversicht allerdings ins Wanken. Sind Scotts Motorschlitten den Hunden vielleicht doch überlegen? Viel zu früh, schon Anfang September  treibt der Norweger seine Männer zum Aufbruch. Die Fahrt gerät zum Fiasko: Bei Temperaturen von minus 50 Grad Celsius muss die Expedition nach wenigen Tagen umkehren. Eine Niederlage für Amundsen, der zudem noch Kritik einstecken muss, weil er bei der Rückfahrt nicht auf einen schwächeren Expeditionsteilnehmer gewartet hat. Ein quälend langer Monat vergeht, ehe Amundsen am 20. Oktober den zweiten Angriff auf den Pol wagen kann.

Für Scott ist selbst dieser Termin noch zu früh, er kommt erst am 1. November los. Seine Karawane aus Motorschlitten, Ponys und Hunden setzt sich eher unkoordiniert in Bewegung: Die Hunde sind zu schnell, die Ponys zu langsam, die Motorschlitten geben bald den Geist auf. Die meiste Arbeit müssen die Männer selbst verrichten, wieder schmerzt der Rücken im Zuggeschirr. Heftige Schneestürme erschweren das Vordingen zusätzlich. „Es ist mehr Pech, als wir verdient haben“, notiert Scott. „Solche Verhältnisse konnte niemand voraussehen und es war unmöglich, sich darauf vorzubereiten.“

„Kann es etwas Verrückteres geben?“

Unterdessen haben die Norweger das antarktische Hochplateau erreicht, die „Rollbahn“ zum Pol. Amundsen triumphiert: „Wir haben uns durch Sturm und Schneetreiben gekämpft, nun liegt das Plateau im Sonnenschein vor uns. Der Weg zum Pol ist frei – ach, wären wir doch bald da.“ Dass der Weg bis dahin auch für die Norweger keine Spazierfahrt war, belegt ein anderer Eintrag: „Hanssen, Wisting und ich sehen furchterregend aus. Wir haben durch den Sturm Frostbeulen im Gesicht bekommen. Entzündungen, Schmerzen und Schorf über der ganzen linken Seite.“ Auch die Hunde – soweit noch nicht verspeist – leiden, Kälte und Hunger machen sie unberechenbar: „Die Hunde werden gefährlich, weil sie Hunger haben. Wir sehen in ihnen inzwischen Feinde.“

Doch die fragile Zweckgemeinschaft hält: Am 14. Dezember erreichen Hunde und Männer das ersehnte Ziel. Amundsen fährt vorweg und ist so tatsächlich der erste Mensch am Südpol. Ein Triumph, den er später in sehr eigener Weise kommentieren sollte: „Ich kann nicht sagen, dass ich am Ziel meines Lebens stand. Das Gebiet um den Nordpol hatte mich seit meiner Kindheit gereizt, jetzt stand ich am Südpol. Kann es etwas Verrückteres geben?“ Drei Tage erholen sich die Norweger am Ort dieser Verrücktheit, dann geht es zurück Richtung Framheim.


"Mir graut vor dem Rückweg"

Scott ist zu diesem Zeitpunkt noch rund 500 Kilometer vom Pol entfernt. Am 3. Januar trifft er eine weitere unheilvolle Entscheidung: Statt mit drei wie ursprünglich geplant will er die letzte Etappe nun mit vier Gefährten bewältigen –den Rest der Mannschaft schickt er zurück. Ein Mann mehr, für den die allzu knappen Vorräte an Nahrung und Brennstoff reichen müssen. Doch noch immer hofft Scott, schneller zu sein als die Norweger. Und er feiert seiner eigenen kleinen Triumph: „Rekord“, notiert er am 9. Januar, als er Shackletons südlichsten Punkt passiert. Zumindest den Landsmann hat er hinter sich gelassen.

Umso größer der Schock, als die erschöpften Männer am 18. Januar den Pol erreichen – und die norwegische Flagge im Wind flattern sehen: „Der Pol, ja, aber unter ganz anderen Umständen als erwartet. Es war ein furchtbarer Tag.“ In einem Zelt findet Scott eine Nachricht von Amundsen, der ihn bittet, einen beigefügten Brief an den norwegischen König weiterzuleiten. Der Norweger hat damit Vorsorge getroffen, falls er den Rückweg nach Framheim nicht überlebt, doch er degradiert den geschlagenen Rivalen zum Briefträger, wie es ein Mitglied der Scott-Expedition später auf den Punkt bringen wird. Bittere Ironie: Es ist dieser Brief, gefunden bei Scotts Leiche, der alle Zweifel zerstreut, ob Amundsen tatsächlich den Pol erreicht hat.

„Mir graut vor dem Rückweg.“ Scotts Furcht ist nur allzu begründet. Die geschlagenen Männer müssen sich mit knappen Vorräten durch immer schlechteres Wetter kämpfen. Der nahende antarktische Winter kündigt sich durch heftige Stürme und extreme Temperaturen an. Nun rächt sich der späte Aufbruch aus dem Basislager. Als Amundsen am 26. Januar Framheim erreicht, liegen noch hunderte Kilometer vor Scott und seinen Männern, die immer schwächer werden.

„Es geht alles jämmerlich schief“

Mitte Februar beginnt das Sterben. Edgar Evans, der sich schon auf dem Hinweg eine schwere Schnittverletzung zugezogen hatte, erliegt als erster den Strapazen. „Es geht alles jämmerlich schief“, notiert Scott – und treibt die Überlebenden weiter. In der Nacht zum 18. März – Amundsen hat an Bord der „Fram“ längst die Zivilisation erreicht – verlässt Lawrence Oates das Zelt. Alle wissen, es ist ein freiwilliger Gang in den Tod, niemand hält ihn auf.

Ein letztes Mal machen sich Scott und seine beiden letzten Begleiter auf den Weg. Doch der Schneesturm ist zu stark, auch die erhoffte Hilfsexpedition aus dem Basislager kommt ihnen nicht entgegen. 20 Kilometer vom rettenden Depot entfernt, müssen sich die Männer vor der Gewalt des Sturms erneut ins Zelt flüchten. Sie wissen um ihr Ende. „Wir werden wie Gentlemen sterben“, notiert Scott. „Die Ursachen des Desasters liegen nicht in fehlerhafter Organisation. Wir wären durchgekommen ohne die Erkrankung von Oates und den Brennstoffmangel in unseren Depots.“

Scotts letzter Tagebucheintrag datiert vom 29. März: „Unaufhörlicher Sturm aus Südwest. Jeden Tag waren wir bereit, zu unserem Depot zu marschieren, doch vor dem Zelt ist alles Schneegestöber. Wir können jetzt nicht mehr auf Besserung hoffen. Der Tod kann nicht mehr fern sein. Sorgt um Gottes willen für unsere Leute!“ Acht Monate später werden die Leichen von Robert Falcon Scott, Edward Wilson und Henry Bowers in ihrem Zelt gefunden.

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