Auf dem Weg zum Cyborg Warum sich Menschen selbst optimieren

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Bionische Beine und digitale Nerven

Fünf Jahre später sitzt Barnes in einem Labor am Georgia Institute of Technology und kann sein Glück kaum fassen. An seinem rechten Armstumpf ist eine künstliche Hand befestigt, eine Prothese, und Barnes tut, was er seit seinem Unfall nie mehr für möglich gehalten hatte: Er spielt Klavier.

Moderne Armprothesen, wie Barnes eine trägt, sind Wunderwerke der Technik: Sie spüren mit Elektroden, die auf der Haut des Armstumpfes aufliegen, elektrische Signale auf. Signale, die entstehen, wenn sich die übrig gebliebenen Muskeln bewegen. Diese feinen Aktionen des Körpers setzen die Prothesen in Motorbewegungen um, etwa um eine künstliche Hand zu schließen.

Bisher war die Technik nicht fein genug, um einzelne Finger zu kontrollieren. Doch die Forscher am Georgia Tech kamen auf eine originelle Idee: Sie setzen ein Ultraschallgerät, wie es bei Schwangeren eingesetzt wird, an dem Armstumpf auf, um ein Bild der Muskeln zu erhalten. Mithilfe von Algorithmen werten sie die Bilder aus – und erkennen, welche Finger Barnes bewegen möchte.

Noch spielt Barnes auf dem Klavier einen Ton langsam nach dem anderen. Aber Jahr für Jahr werden Prothesen immer besser, davon sind die Wissenschaftler überzeugt. Die Snowboarderin Amy Purdy etwa raste auf ihren beiden Beinprothesen bei den Paralympics die Hänge herab und tanzte sich bei der Fernsehshow Dancing of the Stars auf den zweiten Platz. Und am Massachusetts Institute of Technology baut der Forscher Hugh Herr, der selbst bei einem Kletterunfall beide Unterschenkel verloren hat, künstliche Beine, mit denen er tanzen, Fahrrad fahren und sogar wieder klettern kann. Drei Computer und zwölf Sensoren berechnen feinste Bewegungen, halten das Bein im Gleichgewicht – und sorgen dafür, dass Herr so geschmeidig läuft wie mit echten Füßen.

Nun will Herr 100 Millionen Dollar Forschungsgelder einsammeln, um Maschinen noch viel tiefer mit dem Körper zu verschmelzen. Jede Art von Behinderung, prophezeite er kürzlich auf einer Techkonferenz in Las Vegas, werde sich in diesem Jahrhundert mit Technologien beheben lassen. Dazu will Herr ein künstliches Nervensystem entwickeln, mit digitalen Sensoren, Nervenbahnen aus Kunststoffen und Chips, die Befehle an die Muskeln senden. Gelähmte sollen eines Tages damit wieder gehen können.

Kombiniert mit Exoskeletten, einer Art Stützkorsett, könnten sie vielleicht sogar schneller laufen und größere Gewichte heben als jeder normale Mensch, glaubt Herr. Er selbst ist das beste Beispiel für Cyborg-Superkräfte: Mit seinen künstlichen Beinen kletterte er schon vor einer Weile seinen Kumpanen an der Steilwand davon. „Sie waren ziemlich sauer“, scherzt er, „und haben mir gedroht, sich auch die Beine amputieren zu lassen.“ Es klingt absurd, aber für Sportler könnten künstliche Beine bald verlockender sein als die eigenen.

In seinen Dreißigerjahren erhielt Larry Hester eine erschütternde Diagnose: Er litt an Retinitis pigmentosa, einer Erbkrankheit, die die lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut zerstört. Viele Jahre später, Hester ist 66 und ergraut, nimmt er nervös auf einem Stuhl in einem Labor des Duke Eye Center in North Carolina Platz. Er lässt sich eine Spezialbrille aufsetzen, seine Frau Jerry schaut aufgeregt zu. Ein Forscher in weißem Kittel aktiviert eine Software. „Oh mein Gott“, sagt Hester und grinst: Erstmals seit 33 Jahren kann er Jerry wieder sehen.

Maschinen übernehmen längst menschliche Jobs. Sind sie schon besser als wir? Reporter Andreas Menn ging der Frage nach – im Duell mit den besten Robotern der Welt. Erzählt in unserer Multimedia-Story.

Das Video von dem Moment geht bald um die Welt. Hester ist einer der ersten Menschen, der ein bionisches Auge des US-Unternehmens Second Sight nutzt. Seine Brille hat eine Kamera im Bügel, vergleichbar mit den Kameras, die in Smartphones eingebaut werden. Deren Bilder werden von einem Computer an Hesters Gürtel in Signale verwandelt, die ein Sender an der Brille per Funk in Hesters Auge beamt. Dort ist ein Chip implantiert, der die Funksignale in elektrische Pulse umwandelt, die wiederum die Nervenzellen in der Netzhaut aktivieren. Dadurch kann Hester wieder graue Schemen erkennen. Er kann eine Tür von einer Wand unterscheiden, einen Zebrastreifen sehen oder die Form eines Gesichts.

Mit dem bionischen Auge, das inzwischen 250 Menschen nutzen, ist Second Sight Pionier bei der Entwicklung künstlicher Sinnesorgane. Im Labor ist das Unternehmen schon einen Schritt weiter: Die nächste Version seines elektronischen Auges soll sich direkt mit dem Gehirn verbinden. Dazu wollen die Forscher Blinden Elektroden direkt auf den visuellen Kortex implantieren – jenen Teil des Gehirns, der die Informationen des Sehnervs verarbeitet. Das würde auch Patienten helfen, deren Sehnerv zerstört ist. Und vielleicht wird der künstliche Sehsinn dank der direkten Anbindung ans Hirn sogar noch besser als per Netzhautchip.

Möglich erscheint das überhaupt nur, weil sich das Gehirn als erstaunlich flexibel herausgestellt hat. Es ist hervorragend darin, in neuen Signalen Muster zu erkennen – ob sie nun von einem natürlichen Auge stammen oder von einem Computerchip. Darum wäre es auch denkbar, Menschen etwa mit einer Infrarotkamera zu verbinden, sodass sie im Dunkeln sehen könnten.

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