Biotechnologie Die nächste Revolution kommt aus dem Labor

Wir stehen am Anfang des Superbiozeitalters: Forscher schalten die Evolution aus und starten eine neue industrielle Revolution. Bald gibt es Plastik ohne Öl und Schuhe aus Spiderman-Garn.

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Biotechnologie: Neue industrielle Revolution mit Hilfe der Lehren der synthetischen Biologie. Quelle: Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein

An der Drydock Avenue im alten Werftenviertel im Bostoner Hafen geschehen in diesen Sommertagen Dinge, die das Leben auf der Erde für immer verändern könnten. Ein selbstfahrendes Auto rollt über die Straße, aber das ist nur eine Randerscheinung. Die größere Innovation trägt sich fünf Stockwerke höher zu, in der Loftetage einer einstigen Werft. Hier, zwischen brandneuen Laborgeräten, Computern und Brutschränken, schreibt der Biologe Tom Knight die Schöpfung um.

Ginkgo Bioworks heißt das Start-up, das Knight, langjähriger Topforscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT), mit mehreren seiner Doktoranden gegründet hat. Kollegen nennen ihn den Gottvater der synthetischen Biologie, der Lehre vom künstlich erschaffenen Leben. Und mit seinem langen weißen Bart sieht Knight, wenn er durch sein Hightechlabor schreitet, auch tatsächlich aus wie der Herrgott höchstpersönlich.

Um Knight herum stehen Dutzende Maschinen, die Pipetten bedienen, Reagenzgläser schütteln und Gene sequenzieren. Stück für Stück setzt sein Team damit Tausende von DNA-Strängen zusammen, ein gigantisches Puzzlespiel. Dann schleusen die Biologen das Erbgut in Miniorganismen ein, in Bakterien oder Hefezellen. Bei 30 Grad Wärme vermehren sich die Einzeller, bis sie ein Reagenzglas füllen.

Tom Knight Quelle: Ginkgo Jason Grow

Und wieder ist ein neues Labor-Lebewesen fertig, diesmal eine Pilzzelle, die die Gene einer Pfirsichpflanze beherbergt. Nun kann die Zelle Obstaromen für Eistee oder Joghurt fabrizieren.

Knights Mannschaft erschafft gerade 40 solcher Designermikroben. Sie nimmt ihre DNA-Stränge auseinander, setzt sie neu zusammen, misst aus, probiert herum. Bis sie die ideale Wirtfabrik gefunden hat, die so viel bestes Pfirsicharoma wie möglich herstellt. „Wir machen Biologie programmierbar“, sagt Knight.

Knight ist Vorreiter einer Biotechbewegung, die die gesamte Wirtschaft umkrempeln will: Der Hefepilz in seinem Labor, den er zur kleinen Aromafabrik umprogrammiert hat, ist nur der Anfang einer sich anbahnenden industriellen Umwälzung. Seit die Biotechies die Kosten für den Umbau des DNA-Codes immer weiter senken, übernehmen sie Schritt für Schritt die Kontrolle über die Natur.

Mit atemberaubenden Folgen. Die Produktion in Industrie und Landwirtschaft dürfte bald ganz anderen Regeln folgen. Dank der von den Biorevoluzzern ausgetüftelten Methoden müssen wir künftig keine Tiere mehr töten, weil Fleisch in Nährlösungen gezüchtet wird. Wir benötigen kein Erdöl mehr, weil wir Plastik brauen. Wir ersparen uns LED-Lampen, weil wir Bakterien zum Glühen bringen. In Zukunft habe jedes Unternehmen einen Chief Biology Officer im Vorstand, prophezeit John Cumbers, Gründer des Biotechnetzwerks SynBioBeta: „In 20 Jahren ist Biologie das Kerngeschäft der meisten Unternehmen.“ Investoren sind von der Idee fasziniert. Sie steckten 2016 eine Milliarde Dollar in Start-ups, die an synthetischer Biologie arbeiten.

Bis 2020 wird der Markt laut Allied Market Research auf knapp 40 Milliarden Dollar wachsen.

Das alles lag in weiter Ferne, als Ginkgo-Gründer Knight Ende der Achtzigerjahre begann, sich für Biologie zu interessieren. „Es dauerte einen ganzen Nachmittag, ein einziges Molekül DNA auszutauschen“, erinnert er sich. Knight war damals Computerwissenschaftler, meinte aber, dass DNA schon bald die wichtigere Programmiersprache werden würde – und gründete ein Forschungslabor für synthetische Biologie.

Alles nahm seinen Anfang bei den einzelligen Hefepilzen, an denen Knight noch heute in seiner Bostoner Fabrik herumexperimentiert. Biologen lieben die Mikroben, weil sie menschlichen Zellen ähneln, sich im Labor aber viel schneller vermehren. Sie wachsen in billigen Nährmedien, und die Fermentation mit Hefe ist gut erprobt: Seit 5000 Jahren nutzen Menschen sie, um mit ihrer Hilfe Bier zu brauen oder Brot zu backen.

Abermillionen Proteine, die wie Roboter am Fließband arbeiten

Um zu verstehen, warum nach dem Prinzip auch Plexiglas gefertigt und Pestizide gebraut werden können, stellt man sich am besten vor, auf die Größe eines Proteins zu schrumpfen und in eine Hefezelle zu schlüpfen: Dann triebe man als Winzling durch eine riesenhafte Kugel, zwei Kilometer groß. Darin: Abermillionen Proteine, die wie Roboter am Fließband arbeiten.

Welche Roboter in der Zelle aktiv sind, bestimmt ein Band, das sich durchs Zentrum der Kugel windet: die DNA. Sie besteht aus den Buchstaben A, T, G und C – den Molekülen Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin. Das Prinzip, nach dem diese Buchstaben Informationen verschlüsseln, ist in allen Zellen gleich. Darum fügen sich Pfirsichgene auch in Hefezellen ein und gedeihen darin prächtig – man muss den Code nur entsprechend umprogrammieren.

Tom Knight hat dieses Spiel perfektioniert. „Wir mischen hier DNA-Stränge, 200 Buchstaben lang, mit einem Enzym“, sagt er und zeigt auf einen Automaten, der mit einer Pipette Flüssigkeit in Hunderte kleine Plastiknäpfe tröpfelt. Das Enzym, der Biokatalysator, baue daraus längere Ketten, bis ganze Gene entstünden. Die Maschine könne das viel schneller, billiger und präziser als jeder Mensch.

Es ist nicht das erste Mal, dass Genforscher die Biotechrevolution ausrufen. Viele Start-ups wurden schon in den Neunzigern gegründet, viele verschwanden wieder. Inzwischen sind die Kosten der Gensequenzierung aber derart gesunken (siehe Grafik), dass wieder der Duft des Aufbruchs durch die Labore weht.

Genforscher wie Craig Venter, der schon bei der ersten Welle mit dabei war, prophezeien gar, dass sich bald fast jedes Material synthetisch herstellen lässt – für ein paar Cent oder Dollar pro Kilogramm und auf einem Tausendstel der Fläche, die derzeit Industrie- und Fertigungsanlagen einnehmen. Für ein Kilogramm Rosenöl etwa ernten Bauern eineinhalb Millionen Rosenblüten. Ginkgo Bioworks baut für den französischen Parfümhersteller Robertet Hefezellen, die das Gleiche in einem Tank erledigen, der mitten in der Stadt stehen kann.

Eine neue Wirtschaft wächst so in den Laboren heran, schnell, klein, effizient und grün. Das New Yorker Start-up Ecovative züchtet Bioverpackungen aus Pilzen für Toyota, Dell und IBM. Biomason aus den USA verhärtet mit Bakterien Sand zu Backsteinen, ohne Energie für Backöfen zu verbrauchen. Das britische Start-up Skipping Rocks Lab ersetzt Plastikflaschen durch wassergefüllte Blasen aus Algen, die man essen kann.

Andere wollen per Biotech Tiere aus der Nahrungskette vom Homo sapiens befreien: Das Start-up Finless Foods aus San Francisco möchte Fischzellen in Tanks zu Filets heranzüchten. Konkurrenten arbeiten an tierfreien Steaks, an Milch, Gelatine und Leder. Farmen belegen derzeit 40 Prozent der irdischen Landmasse. Die Lebensmittel aus dem Nährtank könnten der Natur wieder Raum schenken, auch der CO2-Ausstoß der Landwirtschaft ginge massiv zurück.

Sogar das Ölzeitalter könnte beendet werden. Wie, das lässt sich in Herzogenaurach bei Adidas bestaunen. In einem Paar Turnschuhe stecken im Durchschnitt sechs Liter Öl. Ein neuer Schuh des Sportartikelherstellers, noch ein Prototyp, kommt ohne einen Tropfen aus. Denn er besteht aus synthetischer Spinnenseide. Das Material ist, wie Spiderman-Fans wissen, reißfest und leicht. Allerdings konnten es bis vor Kurzem nur Spinnen produzieren.

Die Biotechfirma Amsilk aus Planegg bei München hat nun Kolibakterien Gene eingepflanzt, mit denen sie aus Pflanzenresten das Supermaterial generieren. Es entsteht ein weißes Pulver, aus dem sich Textilien herstellen lassen, die kompostierbar sind. Mit den Biofasern, heißt es bei Adidas, erschließe der Konzern „ein ganz neues Feld der Innovationen“. Nun seien beide Unternehmen in Gesprächen über nächste Schritte. Denn Adidas wolle so schnell wie möglich Schuhe aus komplett biologisch abbaubaren Materialien auf den Markt bringen.

Biotech und Infotech werden eins

Amsilk arbeitet daran, die Spinnenseideproduktion zu skalieren und so die Kosten zu senken, um irgendwann den begehrten Stoff profitabel herzustellen. Die Chancen stehen gut. Denn nicht nur die Kosten für die Sequenzierung fallen. Die DNA, die Programmiersprache des Lebens, verbindet sich nun auch mit schnellen Computern und künstlicher Intelligenz: Biotech und Infotech werden eins.

Forscher der Harvard-Universität haben das erst vergangene Woche in einem unglaublich klingenden Experiment veranschaulicht. Sie übersetzten ein digitales Video von einem galoppierenden Pferd Bit für Bit in die Sprache der DNA. Nach der Sequenz aus Nullen und Einsen bauten sie eine Kombination aus den vier Genbuchstaben A, T, G und C zusammen und schleusten sie in ein Bakterium ein, wo die Kunst-DNA Teil des Lebewesens wurde. Später lasen sie mit einem Sequenziergerät die DNA aus und übersetzten sie zurück in die Sprache der Einsen und Nullen. Auf dem Monitor erschien wieder das Pferdevideo.

Auf einer solchen biologischen Festplatte können atemberaubend viele Informationen gespeichert werden: Ein Gramm DNA fasst 215 Petabytes, so viel wie ein 645 Kilometer hoher Turm aus CDs. Und sie hält Tausende von Jahren. Sogar Microsoft baut darum schon an einem Speicher aus DNA.

Den größten Nutzen wird die Verschmelzung von IT und Biotech aber bringen, wenn Forscher Zellen in Fabriken verwandeln, deren Funktionen sich umbauen lassen, je nach Bedarf. MIT-Forscher Knight entwickelte dazu vor 15 Jahren BioBricks – Genbauteile, die in Zellen bestimmte Abläufe aktivieren wie Schalter in einem Elektronikbaukasten für Kinder. Etwa genetische Verstärker, die bei bestimmten Bedingungen die Produktion eines Moleküls ankurbeln.

Im Studentenwettbewerb Igem benutzen Teams aus aller Welt jedes Jahr diese Legosteine des Lebens, um neue Biomaschinen zu entwickeln: Bakterien etwa, die leuchten und die das Start-up Glowee bald für futuristische Beleuchtungen von Häusern einsetzen will; Detektivzellen, die sich verfärben, wenn sie Arsen im Wasser entdecken; molekulare Schalter, die Krebszellen ausknocken. Oder Algen, die Öl herstellen.

Für Letztere interessiert sich ganz besonders der Ölkonzern ExxonMobil. 600 Millionen Dollar will er in Craig Venters Start-up Synthetic Genomics investieren, um Treibstoff aus Designeralgen zu pressen. Zahlreiche derartige Versuche gingen in den letzten 15 Jahren zwar schief, die Start-ups pleite. Aber im Juni meldete Synthetic Genomics, dass die Forscher die Ölernte aus Algen mehr als verdoppelten. Damit sind die Kalifornier der Marktreife deutlich näher gekommen.

Venters Team machte sich eine Technik zunutze, die die Welt der Biologie seit 2012 im Sturm erobert hat: Crispr-Cas9. Mit ihr ist es kinderleicht, einzelne Buchstaben oder ganze Gene in der DNA zu schneiden, Erbgut zu edieren wie einen Film. Entstanden ist sie unter anderem in den Laboren von George Church an der Harvard University in Cambridge. Hier, an Dutzenden Tischen und Regalen voller Reagenzgläser, Zentrifugen und Chemikalien, unternehmen Molekularbiologen die kühnsten Experimente.

Darauf deutet schon ein surreales Porträt von Church hin, das in seinem Sekretariat hängt. Es zeigt einen Mann mit braunem Zauselbart, zerwuschelter Frisur und – Stoßzähnen im Gesicht. Church will das Mammut auferstehen lassen wie die Forscher in „Jurassic Park“ die Dinosaurier. Dazu möchte er Gene aus Mammutmumien in Elefanten einbauen. Über Generationen sollen so aus Elefanten Zotteltiere werden. Auch zahllose wertvolle Nutzpflanzen, hofft er, ließen sich wieder zum Leben erwecken.

Crispr-Cas9 zur Genveränderung

Churchs Bürotür geht auf, der hochgewachsene Forscher kommt heraus und murmelt eine freundliche Begrüßung in seinen Bart. Die nächste Dreiviertelstunde läuft der 70-Jährige, den das Magazin „Time“ dieses Jahr zu einem der 100 wichtigsten Menschen kürte, im Sekretariat hin und her und redet. Auf den Beinen zu bleiben ist sein Kniff, um nicht plötzlich einzuschlafen. Church hat Narkolepsie. Das weiß jeder, der seine Webseite liest, weil Church sein Genom analysiert und alle Befunde veröffentlicht hat.

Ginge es nach ihm, sollten wir nicht nur mit Hefe und Aromen, Bakterien und Seide experimentieren, sondern mit der Menschheit. Alle sollten wie er über ihre Gene Bescheid wissen. Und die Chance haben, sie mit Crispr-Cas9 zu verändern, um gesund zu werden. „Es ist nahezu ein Verbrechen, dass Menschen heute keinen besseren Zugang zu genetischer Beratung haben, die ihnen Schmerzen ersparen könnte“, sagt er.

Church erzählt von Gentherapien, die Krebs besiegen oder Menschen vor allen Erregern der Welt schützen. Von Versuchen mit Schweinen, die er genetisch umbaut, damit ihre Organe dem Menschen als Ersatzteile dienen: „Nächstes Jahr starten wir präklinische Studien.“ Die ersten Organtransplantationen in Menschen sollen in ein paar Jahren folgen. Auch Erbkrankheiten wie die Muskelschwäche will Church besiegen, mit ein paar Injektionen voller Korrekturgene.

George Church Quelle: Harvard University Stephanie Mitchell

Church sagt, er nehme ethische Bedenken ernst. Aber er nehme es nicht hin, wenn Menschen Gentechnik grundsätzlich ablehnten. Wo liege die Grenze zwischen Therapie und narzisstischer Selbstoptimierung? „Wenn Sie muskulöser werden wollen – ist es mein Recht, Sie daran zu hindern?“, fragt Church. „Arnold Schwarzenegger hat eine ganze Karriere darauf aufgebaut.“

Church hat das Genome Project-Write mit gegründet, das die synthetische Biologie auf die Spitze treiben will. Hatte das Human Genome Project einst zum Ziel, das menschliche Genom komplett auszulesen, so soll GP-Write es bis zum Jahr 2026 künstlich schreiben. Die Forscher hoffen, auf dem Weg dahin vielen Rätseln in den Zellfabriken auf die Spur zu kommen – und die Kosten für die Gensynthese weiter zu verringern.

Bald soll es sogar gelingen, „DNA-Daten von Mikroben per E-Mail zu verschicken“, sagt Andrew Hessel, einer der GP-Write-Gründer, „und die Zelle woanders nachzubauen“. In einem Krankenhaus in Afrika könnten Mediziner heilende Mikroben herstellen, die in Laboren in Harvard entwickelt wurden. Es wäre, als könnte man Leben beamen.

Es ist eine mächtige Technologie, und wer den Schlüssel zu ihr hält, entscheidet bald über Leben und Tod. Eine Bioethikkommission in den USA empfiehlt bereits, Selbstmordgene in Designerlebewesen einzubauen, damit sie sich nicht außerhalb des Labors vermehren. Kürzlich bauten Forscher der Universität von Alberta gar das lebensgefährliche Pockenvirus nach, das als ausgestorben gilt, um gefährliche Erreger besser zu verstehen. Was, wenn Terroristen auf gleiche Art Biowaffen bauen? Das FBI gibt seinen Fahndern schon Grundkurse in Gentechnik.

Vier Milliarden Jahre war die Evolution die treibende Kraft für die Entwicklung des Lebens. Nun ist es der schaffende Mensch. Wenn eine einzige Zelle einen Wal hervorbringe, fragt Forscher Church, warum könne dann aus einem Samen nicht auch ein Haus wachsen? Das Start-up Ecovative, das die Verpackungen aus Pilzen züchtet, arbeitet mit der Forschungsbehörde Darpa des US-Verteidigungsministeriums schon an etwas Ähnlichem.

Ist ein Soldat verwundet, so der Plan, lassen Helfer an Ort und Stelle ein Ärztezelt wachsen: Sie gießen Wasser auf ein Biomaterial – und es entfaltet sich wie eine Blüte zu einem Schutzraum aus lebenden Zellen.

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