Und heute – fürchten Sie 23andMe?
Nein, ich habe mich inzwischen sogar mit dem Gedanken anfreunden können, dass dieser Spielball einiger sehr reicher Menschen das Feld der Genomforschung und auch die Versorgung mit medizinischen Daten für alle tatsächlich voran bringen wird. Denn dieses – auch wegen seiner Gründer – weltweit so populäre Unternehmen, regt Diskussionen an, die dringend notwendig sind. Zum Beispiel über die Frage, wer die Deutungshoheit über medizinisch relevante Daten hat. 23andMe, als völlig medizinfremder Anbieter, hat einfach mal losgelegt, ohne jede Zulassung durch die US-Gesundheitsbehörde FDA. Die ließ das Unternehmen jahrelang gewähren und untersagte erst im November 2013 die Interpretation der körperbezogenen Test-Daten. Bei uns in Deutschland ist das so geregelt: Einen Gentest darf ein Unternehmen zwar durchführen. Das Ergebnis zu interpretieren und einen im medizinischen Alltag nutzbaren Befund erstellen ist im Verständnis der ärztlichen Berufsordnung eine Behandlung. Und behandeln dürfen nur ein Arzt oder eine Ärztin. Ob damit die beste Qualität tatsächlich immer sichergestellt ist, möchte ich bezweifeln.
Machen Sie sich und Ihren Berufsstand damit nicht überflüssig?
Das ist die unausgesprochene Furcht und der erste Reflex meines Berufstandes. Wenn ich versuche, über diesen Reflex hinaus die Situation rational zu betrachten, muss ich mir als Ärztin allerdings eingestehen, dass ich unmöglich alle aktuellen Ergebnisse und Neuigkeiten aus der Genomforschung oder anderer Bereiche der Medizin im Kopf haben kann. Bei der schieren Menge der Daten, mit der wir Humangenetiker arbeiten, sind uns natürlich IT-gestützte Aufbereitungen und Auslieferungen von Informationen haushoch überlegen. Warum sollte also ein Unternehmen, das Genomdaten logistisch perfekt prozessiert, nicht genauso gut oder sogar viel besser in der Lage sein, solche Informationen zu liefern, wie ein niedergelassener Hausarzt, der vielleicht schon lange den Anschluss an die aktuelle Forschung verloren hat. Aber das rüttelt an unserem traditionellen Selbstverständnis und dem Allwissenheitsanspruch als Halbgötter in Weiß. Und es weckt natürlich existenzielle Ängste bei vielen Medizinern. Die Folge davon sind ordentliche Abwehrreaktionen gegenüber allem, was mit der Verbreitung von ärztlichem Spezialwissen via Internet und Apps zu tun hat. Dabei bieten diese neuen Instrumente uns Ärzten die Chance, dass wir uns auf unsere eigentliche Kernkompetenz besinnen können: als Menschen andere Menschen unterstützend in schwierigen Situationen zu begleiten. Das können wir hoffentlich besser als Internet-Anbieter, deren Dienste wir nützen könnten, wenn denn die Qualität stimmt.
Ein Macht- und Verteilungskampf also?
Ja, absolut. Noch sind das kleine Nadelstiche, die auf das klassische System einwirken. Aber es werden immer mehr davon. Zusammen mit vielen anderen medizinischen Trends, die auf der Nutzung von jederzeit und überall verfügbaren Daten beruht, braut sich hier gerade ein Aufstand gegen die Dinosaurier-Kultur unseres Medizinbetriebs zusammen. Und das ist sehr gut so.