Delirium vermeiden Wenn das Gehirn aus dem Gleichgewicht gerät

Plötzlich total verwirrt, die Orientierung ist weg - Ärzte sprechen dann häufig von Delir. Im Krankenhausalltag tritt diese Störung vor allem nach Operationen auf. Intensivstationen beugen dem mit neuen Methoden vor.

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Das Syndrom „Delir“. Quelle: Fotolia

Gerade hat der Patient noch gesagt, dass alles in Ordnung sei. Fünf Minuten später liegt er apathisch im Bett, spricht nicht mehr, ist verwirrt. Bei Pfleger Christoph Schubert läuten dann alle Alarmglocken. Er testet den Patienten auf das Syndrom „Delir“. Diese Störung des Gehirns tritt in Kliniken oft nach Operationen auf. Nach aktuellen Studien sind bis zu rund 80 Prozent der älteren Patienten auf Intensivstationen betroffen. An der Berliner Charité schauen Ärzte, Schwestern und Pfleger deshalb ganz genau hin.

Pfleger Schubert arbeitet an der Charité-Klinik für Anästhesiologie. Dort beschäftigen sich Ärzte und Pfleger besonders intensiv mit Delir. Nicht jeder Patient wird dabei apathisch. Manche schlügen auch um sich, berichtet Schubert.

Delir oder auch Delirium ist ein akuter Verwirrtheitszustand. Wird die Störung nicht erkannt, kann das bei Patienten zu dauerhaften Schäden führen. Betroffene können sich schlechter konzentrieren, kein Buch mehr lesen. „Manche trauen sich auch gar nicht mehr aus dem Haus, weil sie die Orientierung verloren haben“, sagt Claudia Spies, Chefärztin der anästhesiologischen Klinik. Ohne Behandlung könne das Delir schwere Komplikationen im Herz-Kreislauf-System und bei der Atmung nach sich ziehen - und bis zum Tod führen. „Mit jedem unentdeckten Tag steigt die Sterblichkeit“, erläutert die Ärztin.

Was ist ein Delirium?

Mit dem Beginn jeder Schicht testen Pfleger Schubert und seine Kollegen deshalb ihre Patienten. Dazu nutzen sie den sogenannten Cam-ICU-Test, eine Methode zum Erkennen der Verwirrtheit auf der Intensivstation. Sobald die Patienten wach sind, müssen sie nach der Hand des Pflegers greifen. Schubert buchstabiert dann das Wort Ananasbaum oder ein anderes Wort mit vielen A. Bei jedem A muss der Patient seine Hand drücken. Zwar sind Fehler erlaubt, dennoch merkt Schubert meist dann schon, dass etwas nicht stimmt.

Delirium durch Entzündungen

Bei Delir spielen Entzündungen im Körper eine Rolle. Wie sie ausgelöst wurden, bleibt oft unklar. Fachjournale nennen psychischen Stress, große Operationen oder Schlafentzug als mögliche Ursachen. Oft trinken Menschen zu wenig. „Auch Schmerzen verursachen Entzündungen“, sagt Chefärztin Spies. Doch zu viele Schmerzmittel seien nicht gut. Bei der Narkose käme es auf die Balance an. Man dürfe das Gehirn nicht mit zu vielen Medikamenten aus dem Gleichgewicht bringen.

Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft verzeichnete das Statistische Bundesamt im Jahr 2014 fast 42 000 stationäre Fälle von Delir. Das sind 4000 Fälle mehr als im Jahr 2012. Durch Alkohol oder andere Drogen verursachte Delirien sind nicht miteingerechnet. Doch wie viele Krankenhäuser in Deutschland ihre Patienten speziell auf Delir nach Operationen untersuchen, ist nicht bekannt.

Nach der Diagnose sind es meist die Pflegekräfte, die reagieren müssen. Schubert versucht zu erreichen, dass Patienten keine Angst haben. „Oft reicht es schon, einen Angehörigen hinzuzuholen“, sagt er. Der Patient sollte sich auf der Intensivstation wohlfühlen. „Musik hilft auch.“ Ganz besonders wichtig sei es, nach dem Aufwachen aus der Narkose Orientierung zu bieten. Dazu müsste zum Beispiel immer die Brille des Patienten bereit liegen. Regelmäßig nennen Pfleger ihren Patienten auch das Datum des Tages oder stellen eine Uhr gut sichtbar auf. Nachts wird das Licht ausgemacht. Nur so könnten Patienten sich an den Tag-Nacht-Rhythmus gewöhnen.

Bei Delirium hat jede Klinik andere Regeln

Großbritannien hat bereits 2010 die Richtlinie „Delirium: Vorsorge, Diagnose und Behandlung“ erlassen. In dem Ratgeber wird kritisiert, dass viele Ärzte und Pflegekräfte das Syndrom nicht erkennen. In Deutschland gibt es bundesweit keine medizinische Leitlinie zum Umgang mit Delir. Jedes Krankenhaus hat eigene Regeln. Doch zumindest in der Forschung ist das Thema angekommen. 2010 erschienen 46 Fachartikel, 2015 waren es 113. Und 2016 sind bis Mai schon 49 erschienen.

In Kanada und den USA befasst sich das Help-Programm mit Delir. 1993 gründete die Ärztin Sharon Inouye gemeinsam mit Kollegen der Yale University Medical School ein Zentrum, das sich auf die spezielle Pflege älterer Personen in Krankenhäusern konzentriert. Mit ihren Methoden wollen sie Delir im Klinikalltag frühzeitig verhindern.

Woran die Deutschen leiden
Weltweit gab es im vergangenen Jahr nach Angaben der International Diabetes Federation rund 382 Millionen Diabetiker. In der Bundesrepublik sind laut Deutscher Diabetes-Hilfe etwa sechs Millionen Menschen betroffen (2012). Die auch als Zuckerkrankheit bekannte Stoffwechselstörung Diabetes mellitus kann etwa zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenleiden und Erblindungen führen. Etwa 95 Prozent der Kranken sind dabei von Diabetes Typ 2 betroffen, früher Altersdiabetes genannt. Diese Ausprägung entwickelt sich häufig durch falsche Ernährung und daraus resultierendem Übergewicht. Quelle: dpa
Zu den häufigsten Krankheiten in Deutschland gehören seelische Störungen. Dem Bundesgesundheitsministerium zufolge leidet jeder dritte Mensch im Laufe seines Lebens mal an einer solchen Krankheit. Die häufigste Form ist die Depression, worunter etwa Angstzustände oder auch das Krankheitsbild des Burn-out-Syndroms fallen. Stress oder berufliche Überbelastung können Gründe sein. Quelle: dpa
Schnupfen, Bronchitis, Husten: 17,4 Prozent aller Erkrankungen drehen sich um akute Infekte der oberen Atemwege, wie es im Barmer GEK Arztreport 2013 heißt. Zu den Erkrankungen der oberen Atemwege gehören beispielsweise Krankheiten wie Nasennebenhöhlenentzündungen. Zu den besonders weit verbreiteten Atemwegserkrankungen zählt nach WHO-Schätzungen mit weltweit 235 Millionen Betroffenen Asthma. Quelle: dpa
Ähnlich häufig wie Erkrankungen der Atemwege sind in Deutschland Probleme mit dem Fettstoffwechsel. Dazu gehört beispielsweise Übergewicht, das auf falsche Ernährung und Bewegungsmangel zurückzuführen ist. Eine Statistik der DKV zufolge sind rund 46 Prozent der Bevölkerung übergewichtig. Männer sind dabei häufiger betroffen als Frauen. Quelle: ZB
Im Krankenhaus stehen Ärzte bei der Versorgung schwer übergewichtiger Menschen vor einer Herausforderung. Denn durch das hohe Gewicht können die Patienten empfindlicher auf Mittel wie Sedativa und Narkosemittel reagieren. Deswegen müssen während Operationen Werte wie die Herzfrequenz oder der Blutdruck noch sicherer kontrolliert werden. Quelle: imago images
Vier von fünf Erwachsenen haben mindestens einmal in ihrem Leben Probleme mit dem Rücken. Laut Statistischem Bundesamt kostet das Kreuz mit dem Kreuz die Volkswirtschaft jedes Jahr rund 20 Milliarden Euro. Übergewicht, monotones Arbeiten, Bewegungsmangel oder psychischer Druck gehören zu den Risikofaktoren, die das Robert-Koch-Institut definiert. Quelle: dpa
Eine zunehmende Bedrohung gerade im Alter stellen Demenzerkrankungen dar. Gegenüber dem Jahr 2007 erwarten Experten, dass die Zahl der Betroffenen bis zum Jahr 2050 um 113 Prozent steigen wird. Die häufigste Form von Demenz war 2011 nach Angaben des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung mit 65 Prozent die Alzheimer-Demenz, die immer noch unheilbar ist. Quelle: imago images

Auch in Deutschland gibt es mittlerweile zusätzliche Betreuung für ältere Patienten nach amerikanischem Vorbild. Am Evangelischen Krankenhaus in Bielefeld arbeiten die Ärzte mit ehrenamtlichen Helfern, die den Patienten vorlesen, mit ihnen Kreuzworträtsel lösen oder einfach nur Gesellschaft leisten. So kann im besten Fall durch die intensive Betreuung ein Delir gar nicht erst entstehen.

"Delir-Patienten haben Angst"

Angehörige sind ebenfalls gefragt. Für sie gelten Regeln im Umgang mit Delir. „Nicht wegreden“, warnt Ärztin Spies. Pfleger und auch Angehörige bräuchten viel Geduld. Auch vor Operationen könne schon einiges geleistet werden. „Patienten haben immer Angst“, sagt sie. Die müsse man ihnen nehmen, zum Beispiel mit viel Aufklärung in Gesprächen. „Wir müssen ehrlich zu den Patienten sein“, betont Spies.

Auf der Charité-Station schließt Pfleger Schubert die Tür eines Zimmers auf der modernen Intensivstation. Stille. Nichts piepst, die Monitore sind gut versteckt. Über den Bett hängen keine Neonstrahler, es leuchtet ein künstlicher Lichthimmel. Der sehe genauso aus wie der Himmel draußen, erläutert Schubert. Auch das gehört hier zur Delir-Prävention.

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