Demenzdorf Hameln Hilfe gegen das Vergessen

Die Pharmaindustrie verspricht einen Durchbruch im Kampf gegen Demenz. Restlos heilen lässt sich das Leiden aber nicht. Deswegen ruhen die Hoffnungen auf der Pflege - zum Beispiel in Deutschlands erstem Demenzdorf.

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Rentnerin Wilma Dohmeyer und der frühere Bergmann Dieter Jorek leben in Deutschlands erstem Demenzdorf Quelle: Stefan Thomas Kröger für WirtschaftsWoche

Dieter Jorek, 77, leitet eine Autovermietung. Seine beiden Töchter vertreten ihn gerade, denn er ist ein paar Wochen zur Kur in Tönebön am See. Dort sitzt er gut gelaunt auf der Café-Terrasse.

Vor ihm spaziert Wilma Dohmeyer mit ihrem Gehwägelchen durch den sonnigen Blumengarten. Sie war gerade beim Frisör und musste ein paar Termine umlegen, damit sie rechtzeitig wieder zu Hause ist. Schließlich ist das jüngste ihrer fünf Kinder gerade erst sechs Monate alt.

Spätestens an dieser Stelle der Unterhaltung fällt auf: Irgendetwas stimmt nicht. Denn die angebliche Säuglingsmutter hat schlohweißes Haar und ist 83 Jahre alt. Sie hat zwar fünf Kinder, aber die sind alle längst erwachsen. Und auch Jorek hat nie eine Autovermietung besessen. Er war Bergmann und später Schichtführer in einer Fabrik. Er ist auch nicht zur Kur hier: Jorek wohnt seit sieben Monaten dauerhaft im ersten Demenzdorf Deutschlands.

Zahl der Demenzkranken

Wie alle 52 Bewohner leben Dieter Jorek und Wilma Dohmeyer in einer ganz eigenen Welt, die mit der Wirklichkeit je nach Tagesform nur noch wenig zu tun hat. Da werden Herdplatten zu gefährlichen Fallen, wenn sie ohne Topf eingeschaltet werden; die Busfahrt zur Gefahr, wenn die Erinnerung an den richtigen Rückweg verblasst; Aggressivität zum einzigen Ausweg aus tief empfundener Hilflosigkeit.

1,5 Millionen Menschen in Deutschland leben mit Altersdemenz, täglich kommen Hunderte hinzu. Weil wir dank besserer medizinischer Versorgung immer älter werden, wird sich die Zahl der Patienten dieser typischen Alterskrankheit bis 2050 auf drei Millionen verdoppeln, weltweit sogar verdreifachen: auf 135 Millionen.

Demenz – die tickende Zeitbombe

Es ist eine Art tickende Zeitbombe im Sozialsystem, auch weil über Jahre kaum Fortschritte in der Auseinandersetzung mit dem Leiden erzielt wurden. Dass wir überhaupt darüber reden, ist einigen ebenso tragischen wie einprägsamen öffentlichen Fällen zu verdanken: dem ehemaligen Fußballmanager Rudi Assauer etwa, der offen darüber sprach, wie das Chaos seine Gedanken eroberte; Walter Jens, dessen Schicksal sein Sohn Tillmann in einem Buch schilderte; und, ja, auch durch Filme wie Til Schweigers Blockbuster „Honig im Kopf“.

Sie beschreiben eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte, den Kampf gegen das Vergessen und seine Folgen: weil sich das soziale Gefüge jeder Gemeinschaft ändert, wenn ein nennenswerter Teil ihrer Mitglieder das eigene Tun weder reflektieren noch kontrollieren kann. Weil es sich um eines der wenigen Massenleiden handelt, auf das die Pharmaindustrie bislang keine Antwort hatte. Weil eine Gesellschaft, die schon ihre Kinderbetreuung nicht organisiert bekommt, erst recht keine Lösungen für die Pflege Millionen Älterer hat.

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Nun verspricht die Pharmaindustrie erneut einen Durchbruch im Kampf gegen das Alzheimerleiden, das für 60 Prozent aller Demenzfälle verantwortlich gemacht wird. Eli Lilly stellte vergangene Woche auf der Internationalen Alzheimer-Konferenz in Washington einen Antikörper namens Solanezumab vor; der soll jene Eiweißablagerungen im Gehirn bekämpfen, die die dortigen Nervenzellen schädigen, sodass echte Löcher im Organ entstehen, was viele als – wenn auch nicht letztlich bewiesene – Ursache von Demenz werten.

Sofern sich die Ergebnisse bestätigen, könnte es in zwei, drei Jahren ein Medikament geben, das Alzheimer aufhält. Branchenvertreter schwärmen von der „Mondlandung der Pharmaindustrie“, beeindruckt von vier Milliarden Dollar prognostizierter Umsätze für ein solches Mittel. Auch wenn Big Pharma seit 2010 gut 40 Mal an ähnlich gelobten Medikamenten später scheiterte.

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