Kerstin wurde inzwischen entlassen. „Es gibt in der Regel nicht nur eine Depression im Leben. Ich hoffe dennoch, dass ich vollständig gesund bin“, sagte sie damals. Eine Woche später ruft sie an, wie verabredet. „Mir geht es wieder schlechter.“ Sie versuche einen Termin bei einem Psychotherapeuten zu bekommen. Aber 10, 20 Therapeuten am Tag anzurufen, bis einer zurückruft, ist in einer depressiven Phase kaum zu schaffen. Und meistens gibt es Absagen. Den frühesten Termin könne sie im Februar bekommen, sagt Kerstin. Zu lange für jemanden, den Todesgedanken quälen.
Es gibt zu wenig Psychotherapeuten in Deutschland. Der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz, sagt, der Fehler liege schon bei der Bedarfsplanung 1999, zehn Jahre nach der Öffnung der Mauer. Damals sei für die alten und die neuen Bundesländer geplant worden, „obwohl in den neuen Bundesländern der Bereich Psychotherapie noch sehr, sehr wenig ausgebaut war“. Diesen Fehler schleppe man bis heute mit durch. Eine Folge sei, dass die Patienten oft monatelang auf einen Behandlungstermin warten müssten. Werde also ein Patient aus einem Krankenhaus entlassen, könne das, was im Krankenhaus erreicht worden sei, oft nicht aufrecht erhalten werden.
Ein Psychotherapeut in Berlin-Neuköln rechnet vor: 30 Gespräche à eine Stunde in der Woche plus Bürokratie wie die Dokumentation des Behandlungsverlaufes - da seien schnell 50 Stunden zusammen. Mehr gehe nicht.
Das Problem könnte sich durch traumatisierte Flüchtlinge verschärfen. Mohammed (25) kam aus dem Bürgerkriegsland Somalia über Kenia, den Sudan, Libyen und Italien nach Deutschland. Er sah auf dem Weg hierher Menschen sterben. In Kenia wurde er eineinhalb Jahre eingesperrt. In Libyen wurde er geschlagen. Er zeigt auf lange Narben auf dem seitlichen Brustkorb. Im Dezember 2015 kam er in Deutschland an. Hier wurde er krank. „Ich höre Stimmen in meinen Ohren“, sagt er. Mohammed hat keine Familie in Deutschland - in dieser so anderen Kultur. „Im Schlaf sehe ich, wie mich Menschen umbringen wollen.“ Er hat keine Papiere, will aber bleiben. Da er keine Zukunftsperspektive hat, wollte er sich umbringen. Jetzt bekommt er Medikamente.
Bei Jasmin (52) hat wohl alles mit einer Ehekrise angefangen. Die Lehrerin mit Leib und Seele konnte irgendwann keine Arbeiten mehr nachgucken. Der Kontakt zu anderen fiel schwer. Die Einweisung ins Krankenhaus brachte keine nennenswerte Besserung. Zu Hause bekam sie wieder wahnsinnige Ängste. Das ging so weit, dass sie sich beim Einkaufen in ihrem kleinen Städtchen die Kapuze über den Kopf zog.
Andererseits euphorisierte sie ein überdurchschnittlicher Erfolg ihrer Schule bei einem Wettbewerb. Sie fing an, viel einzukaufen: von Weihnachtsbettwäsche bis hin zu einem teuren Auto, verrückte Dinge eben. Sie nimmt ab, bis auf 45 Kilo. Irgendwann stand die Polizei im Wohnzimmer und brachte sie - in Handschellen, weil sie sich wehrte - in die geschlossene Abteilung. Sie habe die Ärzte immer nur angeschrien. Manisch nennt man ein solches Verhalten. „Für die Familie ist das ganz schlimm“, sagt Jasmin. „Und nun die Gene auch beim Kind?! Ich hoffe, dass wir wieder zusammenkommen.“