Der Flynn-Effekt Werden wir wirklich immer klüger?

Flynn-Effekt Quelle: Fotolia

Auch wenn es nicht immer so wirkt: Die Menschen sind im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte messbar schlauer geworden. Doch wie aussagekräftig IQ-Tests sind, ist unter Forschern stark umstritten.

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Im November 1984 erhielt James Flynn ein Paket, das eine lange Reise hinter sich hatte. Gut 20 Jahre zuvor war der gebürtige Amerikaner nach Neuseeland ausgewandert, nun lehrte er als Sozialwissenschaftler an der Universität von Otago. Eines Tages fiel sein Augenmerk auf alte IQ-Tests. Und er nahm sich vor, so viele historische Datensätze wie möglich auszuwerten.

Also rief er Forscher dazu auf, solche Daten mit ihm zu teilen. Und Kollegen, die 18.000 Kilometer entfernt arbeiteten, waren seinem Aufruf gefolgt: Wissenschaftler aus Utrecht hatten ihm die Ergebnisse ihrer Intelligenztests geschickt, die zwei Generationen von 18-jährigen Niederländern absolviert hatten. Eine Testreihe stammte aus den Achtzigerjahren, die andere aus den Fünfzigern. Als Flynn die Daten analysierte, war er perplex: Die Ergebnisse aus den Achtzigern waren deutlich besser. Zufall?

In den darauffolgenden Jahren sammelte Flynn die Ergebnisse von Intelligenztests aus fast 30 Ländern – aus Europa und Asien, aus Amerika und Afrika. Das Resultat war immer gleich: Jedes Jahr stiegen die weltweiten Intelligenzquotienten um 0,3 Punkte, ein Plus von immerhin drei Punkten pro Dekade. So wie es schien, wurde die Menschheit immer intelligenter. Ein Phänomen, das inzwischen den Namen seines Entdeckers trägt: Flynn-Effekt.

Intelligenztests sind seit jeher umstritten. Und das nicht nur, weil die Testpersonen dort überwiegend verbales und mathematisches Verständnis zeigen müssen. Sondern vor allem deswegen, weil am Ende aus den erreichten Punkten ein Intelligenzquotient (IQ) gebildet wird. Und der soll den Unterschied ausdrücken zwischen Genie und Schwachkopf. Ganz unproblematisch ist das nicht, vorsichtig formuliert. Insbesondere dann, wenn der IQ die spätere Erfolgswahrscheinlichkeit eines Menschen vorhersagen soll. Ganz so, als ob aus jemandem nichts wird, wenn er unter 100 Punkten liegt. Solche Vereinfachungen sind gleichermaßen eindimensional und falsch.

Flynns Erkenntnisse werden seitdem unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert. Manche Studien konnten seine ersten Ergebnisse bestätigen – andere mussten sie revidieren. Lisa Trahan von der Universität von Houston wertete für eine Übersichtsarbeit im Jahr 2014 285 Studien mit mehr als 14.000 Probanden aus und kam auf ein ähnliches Resultat wie Flynn: Im Schnitt stiegen die IQ-Werte pro Dekade um 2,31 Punkte.

Über die Gründe denken Intelligenzforscher nach, seitdem Flynn seine erste Studie veröffentlichte. Ganz einig sind sie sich bis heute nicht. Die einen Experten behaupten, dass die Probanden die IQ-Tests im Laufe der Jahrzehnte immer besser durchschauten und sich entsprechend vorbereiteten, sodass sie zwangsläufig besser abschnitten. Dagegen spricht allerdings, dass die Fragen zu abstrakt sind, als dass man sie gut behalten und weitererzählen könnte. Die anderen Experten – darunter auch James Flynn – führen den Anstieg weltweiter Intelligenz vor allem auf die Folgen der industriellen Revolution zurück: Die Menschen ernähren sich gesünder, erhalten leichter Zugang zu Bildung und Medizin.

Und wieder andere bezweifeln die Ergebnisse grundsätzlich. Der Psychologe Jon Martin Sundet von der Universität Oslo zum Beispiel. Er untersuchte für Studien im Jahr 2004 die IQ-Werte junger Norweger zwischen 1950 und 2002 und stellte fest: Bis Mitte der Neunzigerjahre stiegen die Werte, danach fielen sie wieder. Zu einem ähnlichen Resultat gelangte ein dänisch-amerikanisches Forscherteam um Thomas Teasdale und David Owen. Für ihre Studie aus dem Jahr 2005 werteten sie die IQ-Tests von insgesamt 500.000 Dänen von 1959 bis 2004 aus. Auch hier das gleiche Bild: In den späten Neunzigerjahren erreichten die Werte einen Höhepunkt, seitdem fielen sie.

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Ist es also an der Zeit, den intellektuellen Niedergang der Menschheit zu beklagen? Diese Frage lässt anscheinend auch James Flynn keine Ruhe. Denn in einer jüngst erschienenen Studie beschäftigt er sich erneut mit der Thematik – und führt die IQ-Stagnation vor allem auf eine Ursache zurück: Zwar holten viele Menschen am unteren Ende der Skala auf, doch gleichzeitig erreichten nicht mehr so viele Kandidaten die höchsten Punktzahlen.

Flynns Vermutung: Jahrzehntelang ernteten die Menschen in IQ-Tests die Früchte der Moderne, vor allem Veränderungen im Schul- und Bildungssystem. Während frühere Generationen keinerlei Vorschulerziehung hatten, lernen heute schon Grundschüler Fremdsprachen. Die Erziehung wurde weniger autoritär, es gab Sonderklassen und Nachhilfe. Das alles machte sich lange Zeit bezahlt – doch seitdem hat sich nicht mehr allzu viel getan. Vereinfacht gesagt: Wir können uns so gesund ernähren, wie wir wollen, und werden trotzdem nicht mehr klüger.

Da muss selbst der Entdecker des Effekts beschwichtigen. Das Ergebnis eines IQ-Tests allein sage noch nichts über einen Menschen aus, beteuert James Flynn immer wieder.

Er selbst hat übrigens auch mal einen solchen Test absolviert. Das Ergebnis wollte er nicht wissen.

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