Arbeitsausfälle, Unfälle, schlechte Konzentration durch müde-machende Medikamente: Allergien haben einen erheblichen Einfluss auf die Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Das verursacht massive Kosten: Bis zu 142 Milliarden Euro könnten in der Europäischen Union gespart werden, würden Allergiker endlich sachgemäß behandelt. Das zeigt eine Studie unter Zusammenarbeit von Charité Berlin, Universität Göteborg (Schweden), Universität Leuven (Belgien) und Harvard in Boston (USA).
Das Problem: Immer mehr Menschen leiden unter Allergien. In Deutschland sind laut der Untersuchung mittlerweile 41 Prozent der Bevölkerung betroffen. Jedoch werden bis zu 90 Prozent der Allergiker in Europa gar nicht oder nur unzureichend behandelt. Untersuchungen zeigten, dass etwa mehr als die Hälfte der Patienten mit allergischem Schnupfen im Zeitraum eines Jahres keinen Arzt zu Rate zogen. Rund ein Drittel behandelt sich lieber mit rezeptfreien Arzneimitteln selbst. Bei Patienten mit Nesselsucht (juckender Hautausschlag) greifen sogar 78 Prozent zu nicht-verschreibungspflichtigen Medikamenten - zwei Drittel nehmen diese aber nicht regelmäßig ein. Die Folge: die meisten leiden trotzdem unter Juckreiz, körperlichem Unwohlsein und Schlafstörungen. Dies liege daran, dass Allergien und ihre Folgen nach wie vor nicht ernst genug genommen würden - weder vom Patienten noch von den Ärzten, so die Forscher.
Recht einfach: Rechtsprechung zum Thema Allergie
In den Siebzigerjahren pflanzte eine Gemeinde entlang einer Straße Birken. Jahrzehnte später verlangte ein Anwohner, die Bäume zu fällen. Grund: Wegen einer Allergie gegen Birkenpollen sei er häufig krank. Seine Klage scheiterte. Bei Umwelteinflüssen sei ein „durchschnittlich empfindlicher Mensch“ maßgebend, so die Richter. Das Grundstück sei trotz Pollenflug nutzbar, ein Kahlschlag daher unangemessen (Verwaltungsgericht Neustadt, 4 K 923/12 NK).
Eine Flugpassagierin vertrug keine dampfenden Erfrischungstücher. Bei einem Langstreckenflug von Indien nach Frankfurt machte die Dame ein Crewmitglied beim Einsteigen auf ihre Unverträglichkeit aufmerksam. Als die dampfenden Tücher dennoch verteilt wurden, bekam die Passagierin einen Anfall. Ein Gericht sprach ihr hierfür 1500 Euro Schmerzensgeld zu. Nach dem entsprechenden Hinweis hätten die Flugbegleiter die Allergikerin vor einem Kontakt mit den Tüchern schützen müssen (Oberlandesgericht Frankfurt , 16 U 170/13).
Ein Mediziner arbeitete als Zeitsoldat bei der Bundeswehr. Bei einem Probealarm wurde bei ihm eine Allergie gegen die ABC-Schutzausrüstung festgestellt. Der Arzt klagte daraufhin, aus dem Soldatenverhältnis entlassen zu werden. Vergebens. Laut Dienstvorschriften könnten Stabsärzte auch Verwaltungsaufgaben übernehmen, so die Richter. Es sei daher möglich, sie vom Tragen der Schutzausrüstung zu befreien (Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 10 A 10926/13.OVG).
Sie werteten für ihre Untersuchung Statistiken von Eurostat und Eurofound aus, um die sozioökonomischen Kosten von Allergien messen zu können. Ihr Ansatz: Im Vergleich zu Krankheiten wie Herzleiden, Bluthochdruck oder Diabetes fließen wenig Gelder und Bemühungen in die Forschung. Mit ihrer Studie wollen sie für das "EU Network of Excellence in Allergy" (ein Zusammenschluss führender Kliniken und Forschungseinrichtungen zu Allergien und Asthma in Europa) zeigen, wie wichtig und kostensparend eine richtige Behandlung von allergischen Erkrankungen ist.
Obwohl Allergien auf dem Vormarsch sind und die Menschen in Gesundheit und Wohlbefinden massiv beeinträchtigen, wurden die ökonomischen Folgen bislang vernachlässigt. Diese Lücke wollen die Forscher nun schließen. Für ihre Berechnungen zogen sie verschiedene Szenarien der Verbreitung von Allergien in der arbeitenden EU-Bevölkerung und der daraus resultierenden Beeinträchtigungen heran. Für die Kosten, die dies verursacht, wurden Mittelwerte für komplette Arbeitsausfälle und eine beeinträchtigte Konzentrationsfähigkeit gebildet. Zusätzlich wurde von diesen Allergie-Kosten die Kosten für eine sachgemäße Behandlung der Patienten abgezogen.
Das Ergebnis: Im Best-Case-Szenario wurde davon ausgegangen, dass im EU-Schnitt 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung von Allergien betroffen ist und sie dadurch eine um zehn Prozent reduzierte Leistung bringen. Hier beliefen sich die Kosten für Fehltage auf 528 Euro pro Jahr, die Kosten für verminderte Leistungsfähigkeit auf 845 Euro - insgesamt also 1373 Euro pro Jahr und Arbeiter. Bei 44 Millionen Betroffenen, von denen 90 Prozent nicht oder ungenügend behandelt werden, summieren sich die Allergie-Kosten in der EU so auf 54,9 Milliarden Euro. Eine angemessene ärztliche Behandlung würde hingegen nur fünf Milliarden Euro kosten. So ließen sich also Unkosten von 50 Milliarden Euro pro Jahr einsparen.
Im Worst-Case-Szenario wurde von 35 Prozent Betroffenen im EU-Durchschnitt ausgegangen - das sind 76 Millionen Allergiker. Unter der Annahme, dass auch hier 90 Prozent nicht oder unsachgemäß behandelt werden, also 68 Millionen Menschen. Zudem wurde in diesem Szenario von einer um zwanzig Prozent verminderten Leistungsfähigkeit ausgegangen. Die jährlichen Allergiekosten belaufen sich hier auf 150,8 Milliarden Euro. Demgegenüber stehen die wesentlich geringeren Kosten für eine sachgemäße Behandlung der Patienten von 8,5 Milliarden Euro. Für die EU-Wirtschaft ließen sich so also Unkosten in Höhe von 142 Milliarden Euro leicht vermeiden.
"Allergien verdienen mehr öffentliche Aufmerksamkeit", schließen die Forscher. Zwar seien in Europa bereits große Fortschritte durch Präventionskampagnen und verbesserte frühzeitige Behandlung von chronischen Krankheiten gemacht worden - Allergien hätten hier jedoch bislang keine große Rolle gespielt. Zusätzlich zu den nun kalkulierten sozioökonomischen Kosten kämen zudem Faktoren wie schädliche Einflüsse von Allergien auf das Lernen in Schulen und an Universitäten. Hierzu sei dringend weitere Forschung nötig.