Europäischer Erfinderpreis Das Kraftwerk im Körper

Vier Unternehmen hat Philippe Cinquin gegründet, Dutzende Patente hält der Franzose. Seine wichtigste Erfindung ist eine winzige Brennstoffzelle, die im Körper Strom erzeugt, um das Leiden kranker Menschen zu lindern.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Berlin Jedes Wochenende im Frühjahr schnallen sich Philippe Cinquin und seine Frau die Schneeschuhe an. Gemeinsam erklimmen sie die Gipfel der noch schneebedeckten Schweizer Alpen nahe ihres Wohnortes Grenoble. „Man müht sich“, sagt Cinquin. „Sobald man schwitzt, wird man empfindsamer für seine Umgebung, und es ist eine große Freude, die Natur zu erleben.“ Einmal in der Woche mindestens braucht er den Bergsport.

Es ist ein Ausgleich für die langen Stunden der Kopfarbeit im Büro. Cinquin ist Mathematiker und Arzt und einer der führenden Figuren der Medizintechnikszene in Frankreich. 28 Patente sind auf seinen Namen eingetragen. Vier Unternehmen hat der 57-Jährige mit begründet, viele Preise eingeheimst. Medizintechnikfirmen wie Aesculap und Medtronic verbesserten mit seinen Erfindungen ihre Produkte.

Jetzt ist er gemeinsam mit Chantal Gondron, Fabien Giroud und Serge Cosnier von der Universität Grenoble für den Europäischen Erfinderpreis nominiert. Die Vier haben eine Brennstoffzelle kaum größer als eine Pille erfunden, die im Körper Strom erzeugt. Dafür genügen Zucker und Sauerstoff, wie sie im Blut vorkommen.

Das körpereigene Kraftwerk soll bald Herzschrittmacher, Hörgeräte und implantierte Insulinpumpen antreiben. Ein Milliardenmarkt: 2010 wurden medizinische Geräte im Wert von 15,4 Milliarden US-Dollar gehandelt, bis 2016 soll sich die Summe nochmals um knapp zehn Milliarden erhöhen. Entsprechend hoch ist der Bedarf an implantierbaren Stromquellen.

Strom ein Leben lang

Bisher laufen die Apparate mit Lithiumionenbatterien. Diese müssen jedoch alle paar Jahre ausgetauscht werden. Sitzt die Stromquelle unter der Haut, geht das nicht ohne Operation. Befindet sich die Batterie außerhalb des Körpers wie etwa bei Herzunterstützungssystemen, ist das Kabel von der Stromquelle zum Implantat ein steter Risikoherd: Keime dringen entlang der Verbindung ein und verursachen mitunter gefährliche Entzündungen.

Die Biobrennstoffzelle wäre sicherer und bequemer. Einmal eingesetzt, würde sie lebenslang Strom liefern, ohne Verbindung nach außen. Sie könnte lebensnotwendige Implantate für herzkranke Menschen und Diabetiker antreiben.

Ehe das Kraftwerk den ersten Patienten zugute kommen kann, will Cinquin es aber in Tieren erproben. In Schweinen und Kühen soll die Brennstoffzelle Sensoren speisen, die beispielsweise die Körpertemperatur messen. Sie zeigt dem Züchter an, wann das Tier trächtig ist und er mit Nachwuchs rechnen kann.

„Das ist eine ganz einfache Sache. Die winzige Brennstoffzelle kann gemeinsam mit dem Sensor in das Tier injiziert werden“, so der Erfinder. Die Tests an den Stalltieren sollen aber auch beweisen, dass die körpereigene Energieversorgung sicher und langlebig genug ist – auch für den Menschen.


Strom aus Kühen und Schweinen

Es klingt nach einer abseitigen Idee, Strom aus Kühen und Schweinen. Und doch überwachen Tierzüchter schon heute ihr Vieh mit implantierten Sensoren, berichtet Cinquin. Wenn die Batterien versiegen, haben sie allerdings ein Problem. Das Vieh ist dann außer Kontrolle – Krankheiten werden womöglich nicht rechtzeitig erkannt.

Cinquins Einfälle sind auf den ersten Blick ausgefallen, auf den zweiten immer praxisnah. Seinen Forschungspartner Cosnier wundert das nicht: „Er saugt alles Neue auf wie ein Schwamm und ist zugleich gut organisiert wie ein Manager.“ Cinquin selbst gibt sich bescheiden und sieht das Geheimnis seines Erfolgs in der Teamarbeit, „dass man mit Kollegen aus anderen Forschungszweigen spricht, damit man nicht am eigentlichen Problem vorbei entwickelt.“

Der Reiz des Interdisziplinären hat ihn überhaupt erst zur Medizintechnik gebracht. Schon in der Schule liebte er die Mathematik. Doch beim Studium von Gleichungen und Graphen vermisst er den Bezug zum Menschen. Er trifft seine spätere Frau an der Universität Lyon, damals Medizinstudentin, und findet mit ihr gleich in zweierlei Hinsicht, was ihm im Leben fehlt. Er schreibt sich ebenfalls im Studienfach Medizin ein. Kaum abgeschlossen treibt ihn fortan um, wie die Technik die Medizin voranbringen kann. Er entwickelt Assistenzsysteme für Operateure, damit sie genauer und sicherer Gewebe schneiden und Implantate einsetzen können.

10 Tage im Bauch einer Ratte

Nebenbei lernt er dabei jene Produkte kennen, die Patientenleben retten und Not lindern: Herzschrittmacher, Defibrillatoren und Insulinpumpen etwa. Nur stößt ihm dabei das immer gleiche Problem auf. Nach wenigen Jahren müssen die Betroffenen wieder unters Messer, weil die Batterie erschöpft ist und gewechselt werden muss. Deshalb beginnt er 2003 nach einer Alternative zu suchen. All seine Anstrengungen konzentrieren sich fortan auf eine Brennstoffzelle, die aus eigener Kraft im Körper läuft.

Zwar ist die Idee, Strom im Körper zu produzieren, schon Jahrzehnte alt. Aber in den 60er und 70er Jahren scheiterte die Vision an passenden Materialien und einer viel zu geringen Stromproduktion. Erst 2013 stellten Cosnier und Cinquin im renommierten Journal Nature eine körperverträgliche Stromquelle vor, die zehn Tage im Bauchraum einer Ratte arbeitete.

Die Brennstoffzelle hat wie jede Batterie einen Minus- und einen Pluspol. Beide sind schwarz und haben die Form einer Tablette. Cosniers Team hat dafür Kohlenstoffnanoröhrchen, ein feines schwarzes Pulver mit Enzymen vermischt und in die Form der Tabletten gepresst.

Am Minuspol sorgt das Enzym Glucoseoxidase dafür, dass der Zucker aus dem Blut abgebaut wird. Am Pluspol verarbeitet eine Laccase, den Sauerstoff zu Wasser. Beide Umwandlungen zusammen genommen erzeugen Strom. Die Brennstoffzelle umhüllten die Forscher mit einer Plastikmembran, wie sie für die Blutwäsche verwendet wird, damit das Immunsystem den Fremdkörper nicht abstößt.


Funken bis zum Tod

„Die Ratte rannte mit der Stromquelle im Bauch munter umher“, erzählt Cinquin. Sie habe normal gefressen. Auch Entzündungen seien nicht aufgetreten. Ein filigranes Kabel führte zu ihrem Schädel, wo der Franzose einen Stromabnehmer befestigt hatte. Mit der Energie aus dem Tier konnte er eine Leuchtdiode zum Leuchten bringen und ein digitales Thermometer betreiben. Knapp 40 Mikrowatt, so viel elektrische Leistung wie ein Herzschrittmacher höchstens benötigt, konnten die Forscher aus dem Nagetier gewinnen.

„Mehr ist kein Problem“, stellt Cosnier jedoch klar. Wenn man mehrere Brennstoffzellen in Reihe schaltet, summiert sich die Energieproduktion entsprechend. Nach diesem Prinzip stattete der Chemiker Evgeny Katz von der Clarkson University in Potsdam im Bundesstaat New York zwei Hummer mit Brennstoffzellen aus, die er nacheinander mit einem Kabel verband und so eine Armbanduhr betrieb. Ein Hummer alleine, also nur eine einzige Brennstoffzelle, hätte das Uhrwerk nicht zum Ticken gebracht.

In Analogie dazu möchte Cinquin mit mehreren Minikraftwerken 100 Mikrowatt ernten, um einen künstlichen Harnröhrenverschluss zu betreiben. Er könnte Hundertausenden Patienten helfen, die unter Inkontinenz leiden. Einer von Cinquins Doktoranden hat zu diesem Zweck 2011 das Start-up Uromems gegründet, das Brennstoffzelle samt Verschluss für die Blase vermarkten soll.

Bis die ersten Patienten mit Strom versorgt sind, werden aber noch einige Jahre vergehen, schätzen die Forscher. Im Experiment mit der Ratte riss nach zehn Tagen die Stromleitung, sodass die Energiequelle versiegte. „Da ist auf jeden Fall Luft nach oben. Wir können diese Systeme noch stabiler machen“, ist sich Cosnier dennoch sicher. Im Labor liefen seine Minikraftwerke schon einige Wochen.

Brennstoffzellen für Löwen und Elefanten

Ein Gramm Zucker liefert theoretisch 16 Kilowatt Strom, wenn er vollständig zu Wasser und Kohlendioxid zersetzt wird. Damit ließen sich durchaus größere Geräte betreiben. Eines Tages könnte man mit einer Brennstoffzelle im Leib vielleicht sogar Strom für das Handy oder den Laptop erzeugen und zusätzlich überschüssige Kalorien loswerden, skizziert Cosnier.

Kasteien müsste man sich für diese Elektrodiät nicht: „Man unterzuckert nicht und man merkt die Energiegewinnung gar nicht“, glaubt er, obgleich die Technik am Menschen noch nicht erprobt ist.

Andere hegen noch kühnere Pläne. Evgeny Katz zufolge kann man mit der Technik ganze Tierpopulationen etwa Vogel- oder Fischschwärme in Kraftwerke verwandeln. Im Unterschied zu Wind und Sonne wäre das eine beständige Form der erneuerbaren Energien. Cinquin hält das jedoch für Fantasterei: „Das ist nicht sinnvoll. Es geht doch um das Wohl der Tiere.“

Auch sein Freund und Forschungspartner Cosnier kann sich mit der Stromproduktion aus dem Tierreich nicht anfreunden. „Aber man könnte Elefanten und Leoparden mit Brennstoffzellen ausstatten“, ergänzt er. Denn diese Wildtiere tragen schon heute Funkchips, damit Wildhüter und Safariführer sie leichter aufspüren können. Die zugehörige Batterie versiegt jedoch nach einigen Jahren. Mit der Biobrennstoffzelle würden die Wildtiere funken bis zu ihrem Tod.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%