Gesundheit Hightech vom städtischen Wohlfahrtsamt

Die dänische Stadt Odense hilft kranken Menschen mit modernstem Medizingerät. Könnte die Kommune Vorbild für Deutschland sein?

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Smarter-Chefsessel Quelle: Claus Peuckert für WirtschaftsWoche

Zum Mittagessen kommt der ganze Hof zusammen, und alles sieht nach guter alter Zeit aus: Um den Holztisch in der Küche des geduckten dänischen Bauernhauses versammeln sich Sine Højgaard Jørgensen, ihr Mann und ihre jüngste Tochter. Die Großeltern sitzen dabei, und die beiden Mitarbeiter, die sich um die Schweinezucht kümmern, essen auch mit. Alle reden. Ein Eber kränkelt? Ein Kunde will nicht bezahlen? „Den ruf ich gleich an. Und den Tierarzt auch“, sagt Sine mit fester, ruhiger Stimme. Sie ist, das wird schnell klar, der Mittelpunkt im Haus, Mutter und Managerin: Sie weiß Rat. Sie entscheidet.

Doch das hier ist nicht die gute alte Zeit: Die 51-Jährige ist schwer behindert und sitzt im Rollstuhl. Seit drei Jahren leidet sie – wie der Physiker Stephen Hawking – an ALS, einer unheilbaren, die Muskeln zerstörenden Krankheit. In jedem anderen Land der Welt wäre sie wohl längst im Pflegeheim. Doch die Hofchefin wohnt am Rand der süddänischen Stadt Odense. Hier ist alles anders.

Die drittgrößte Stadt Dänemarks mit ihren 180.000 Einwohnern setzt, konsequent wie kaum eine andere Region Europas, auf Digitalisierung im Gesundheitswesen. Dabei hat eine Mischung aus sozialpolitischer Tradition, Pioniergeist und Technologiezuversicht Odense zum spannendsten Experiment für die Zukunft der Medizin verwandelt: Hier zeigt sich, wie viel Neugierde und Bürokratieabbau die Versprechen von Telemedizin und E-Health mit Leben füllen können.

Armheber Quelle: Claus Peuckert für WirtschaftsWoche

Odense, das ist auch die Geburtsstadt von Hans Christian Andersen, dennoch geht es hier nicht immer märchenhaft zu. Einst baute die zur Großreederei Maersk gehörende Werft Lindø hier Schiffe – bis die Pötte in Asien billiger herzustellen waren. Vor knapp 30 Jahren setzte Reederei-Chef Arnold Mærsk Mc-Kinney Møller deshalb auf Robotik im Schiffsbau.

Wunder der Wohlfahrttechnologie

Heute ist Odense ein Zentrum der Roboterforschung in Skandinavien. Und Bürgermeister Anker Boye hat eine Vorstellung von der Zukunft: Odense soll E-Health-Welthauptstadt werden und finanzierbare Lösungen finden, die der auch in Dänemark wachsenden Zahl alter, kranker oder sonst eingeschränkter Menschen ein lebenswertes, selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Wie bei Sine Jørgensen.

Alle drei Monate ist ihre Familie eingeladen, sich im sogenannten Living Lab im Zentrum der Stadt neueste technologische und digitale Hilfsmittel anzuschauen. Diese trägt Morten Hoff zusammen, Chef des städtischen Zentrums für, so nennen sie das, „Wohlfahrtstechnologie und Digitalisierung“.

Jeder kann alles drei Monate zu Hause ausprobieren. So kam die ALS-Patientin an einen Laptop, der sich mithilfe der Bewegung ihrer Augen steuern lässt statt per Tastatur. Er steht nun bei der Familie auf dem Tisch. Noch kann Jørgensen tippen, doch schon jetzt versucht sie, mit den Augen schreiben zu lernen. Denn eines Tages, so verläuft ALS, lässt die Muskelkraft so weit nach, dass sie weder schreiben noch sprechen können wird.

Schon vor einem guten Jahr waren die Armmuskeln so schwach, dass sie weder selbst essen noch die Zähne putzen konnte. „Es war entsetzlich“, erzählt die sonst energische Frau mit leiser Stimme. Dank Hoffs Team kann sie all das heute wieder alleine: „Das hat mein Leben wieder lebenswert gemacht“, sagt sie.

Möglich macht es ein Gerät auf höchstem Forschungsniveau, das an der Rückseite ihres Rollstuhls befestigt ist – ein sogenannter Armheber. Solange sie noch ein wenig Muskelspannung aufbauen kann, verstärkt der Apparat die Kraft, sodass die Patientin alle Bewegungen wieder alleine ausführen kann.

Die Hightechmaschine lag nicht in den Regalen des Living Lab: Das Wohlfahrtstechnikteam hat eigens eine Firma gefunden, die sie baut und für Jørgensen einstellt. Nun sitzt sie wieder mit am Mittagstisch und sagt: „Ich fühle mich wieder wertvoll.“

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