Leiden auf Rezept Krank durch Medikamente

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Suchtkranke Senioren

"Innerhalb der nächsten 25 bis 30 Jahre dürfte sich Zahl der suchtkranken Senioren verdoppeln", vermutet der Mediziner Dirk Wolter, der ein Buch über Sucht im Alter geschrieben hat, denn 2030 wird knapp ein Drittel der 80 Millionen Deutschen über 60 Jahre alt sein.

Arzneimittelherstellern und Apothekern bescheren derlei „treue“ Kunden ein blühendes Geschäft. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen lag der Apothekenumsatz mit klassischen Benzodiazepinen zum Beispiel 2008 bei 250 Millionen Euro.

Mehr Frauen sterben an Folgen des Rauchens
Frau raucht eine Zigarette Quelle: dpa
Das Volksleiden: Rückenschmerzen gehören in Deutschland zu den häufigsten Gesundheitsbeschwerden. Forscher der Northwestern University (USA) fanden nun heraus, dass Raucher im Vergleich zu Nichtrauchern ein um das Dreifache erhöhtes Risiko haben, an chronischen Rückenschmerzen zu erkranken. Studienautor Bogdan Petre erklärt: "Wir haben festgestellt, dass Rauchen die Art und Weise beeinflusst, in der das Gehirn auf Schmerzen im Rücken reagiert." Auf Hirnscans der rauchenden Patienten stellten die Forscher eine Veränderung der Areale fest, die für Sucht- und Lernverhalten zuständig sind. Die Kommunikation dieser Hirnregionen sei für die Entwicklung eines chronischen Schmerzes kritisch, stellten die Wissenschaftler fest. Chronischer Schmerz und Suchtverhalten hingen eng zusammen. Antientzündliche Medikamente konnten zwar die Schmerzen erleichtern, waren aber nicht in der Lage, die Aktivität der verantwortlichen Hirnregionen zu ändern. Nur wer während der Studie freiwillig mit dem Rauchen aufhörte, konnte sein Risiko absenken. Quelle: dpa
Passivrauchen: Raucher gefährden auch ihre Mitmenschen, denn der blaue Dunst schadet jedem, der ihn einatmet. Jährlich sterben weltweit mehr als 600.000 Menschen an den Folgen des Passivrauchens. Besonders betroffen sind Kinder. Selbst, nachdem sich der Rauch verzogen hat, sind die Schadstoffe noch stundenlang in der Luft, fanden Forscher des Berkeley Lab heraus. Sie lagern sich in Teppichen, Polstern oder Tapeten ab. Auch 18 Stunden, nachdem die letzte Zigarette geraucht wurde, fanden die Forscher noch immer eine ganze Reihe gesundheitsgefährdender Stoffe. Es reicht also nicht, nur in der Gegenwart anderer Menschen nicht zu rauchen. Auch die Luft in Räumen ist noch lange belastet. Quelle: dpa
Rauchen ist das Gesundheitsrisiko Nummer eins: Jeder sechste der jährlich rund 850.000 Toten in Deutschland ist laut Statistik an den Folgen des Rauchens gestorben. Raucher verkürzen ihre durchschnittliche Lebenserwartung um fünf, ambitionierte Tabakkonsumenten sogar um neun Jahre. EU-weit sterben pro Jahr fast 700.000 Raucher an den Folgen ihres Konsums. Quelle: dpa
Rauchen begünstigt viele Krebsarten: Jeder, der raucht, hat ein zweimal höheres Risiko an Krebs zu erkranken als Nichtraucher. Etwa 90 bis 95 Prozent der erwachsenen Lungenkrebspatienten sind oder waren Raucher.  Das Risiko, an Mundhöhlen-Krebs zu erkranken, steigt durch regelmäßigen Tabakkonsum um den Faktor 27, bei Kehlkopfkrebs um den Faktor 12. Durchschnittlich rauchte jeder Deutsche im Jahr 2013 996 Zigaretten. Im Jahr 2000 lag der Pro-Kopf-Konsum noch bei 1699 Zigaretten pro Jahr. Quelle: dpa
Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Schlaganfälle und Herzinfarkte verursachen die meisten Toten in Deutschland. Raucher trifft es besonders oft, Herzinfarkte vor dem 40. Lebensjahr betreffen fast ausschließlich Raucher. Ihr Risiko ist drei- bis viermal so hoch wie das von Nichtrauchern. Denn der Tabakkonsum verengt die Blutgefäße, lässt den Blutdruck steigen und schränkt die Leistungsfähigkeit des Herzens ein. Quelle: dpa
Frauen erhöhen durch Nikotin-Konsum ihr Risiko für Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Osteoporose oder Unfruchtbarkeit. Vor der Menopause versechsfacht sich das Risiko für Raucherinnen, an einem Herzinfarkt zu sterben. Weniger als jede fünfte deutsche Frau ab 15 Jahren konsumiert regelmäßig Zigaretten und Co. Quelle: dpa

Hinzu kamen im selben Jahr weitere etwa 350 Millionen Euro für Benzodiazepin-Abkömmlinge und andere Schlaf- und Beruhigungsmittel mit Suchtpotenzial. Doch trotz der wachsenden Brisanz des Problems und trotz der hohen Zahl von Opfern durch "unerwünschte Arzneimittelwirkungen" wird – auch im Vergleich zu anderen maßgeblichen Todesursachen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs – kaum zu diesem Thema geforscht.

Denn der politische Druck dafür fehlt. Stattdessen sorgt eine mächtige Lobby dafür, immer mehr Arzneimittel auf den Markt und an den Mann oder die Frau zu bringen: Da sind zum einen jene international agierenden Pharmafirmen, die kontinuierlich für Nachschub an neuen, patentgeschützten Produkten sorgen müssen.

Patente sichern Monopole

Patente sichern den Unternehmen Monopole und damit satte Gewinne auf dem Weltmarkt. Hinzu kommen aufstrebende und/oder einflussreiche Mediziner an Instituten und Universitäten, die ihre Karriere und ihren Ruhm auf die Entwicklung und das Anpreisen "innovativer Therapien" gegen weitverbreitete Leiden gründen – und dabei eng mit der Industrie kooperieren.

Und nicht zuletzt gibt es eine massiv gestiegene Zahl von niedergelassenen Ärzten und Apotheken, die umso besser leben, je mehr Rezepte ausgestellt werden. Zum Vergleich: 1960 kamen die Deutschen noch mit 166 Ärzten pro 10.000 Einwohnern aus, heute ernährt unser Gesundheitssystem mehr als doppelt so viele Mediziner, nämlich 435 pro 100.000 Einwohner. Im selben Zeitraum wurde auch das Apothekennetz immer dichter. 1960 waren es 16,4 pro 100.000 Einwohner, heute sind es 25,2.

Eine auch nur ansatzweise vergleichbare Lobby für die Rechte und Interessen der viel größeren Gruppe von Patienten und Verbrauchern, die sich bewusst sind, dass ja auch sie irgendwann krank werden können, gibt es dagegen nicht. Betroffene, Angehörige, Verbraucherschützer und unabhängige Experten haben weder so viel wirtschaftliche Macht noch sind sie so gut vernetzt und organisiert wie die Zünfte der Arzneimittelhersteller, Pharmazeuten und Mediziner.

Selbst jene, denen laut Definition "die Erhaltung und Förderung der öffentlichen Gesundheit" obliegt – die nationale Arzneimittelbehörde BfArM und die europäische Arzneimittel-Agentur EMA (ehemals EMEA) – handeln nur bedingt im Sinne der Verbraucher.

Diese Berufe machen depressiv
MontagsbluesBesonders montags fällt es uns schwer, etwas positives am Arbeiten zu finden. Laut einer amerikanischen Studie dauert es im Durchschnitt zwei Stunden und 16 Minuten, bis wir wieder im Arbeitsalltag angekommen sind. Bei Menschen ab dem 45. Lebensjahr dauert es sogar noch zwölf Minuten länger. Doch es gibt nicht nur den Montagsblues: Manche Berufsgruppen laufen besonders stark Gefahr, an einer echten Depression zu erkranken. Allein in Deutschland haben nach Expertenschätzungen rund vier Millionen Menschen eine Depression, die behandelt werden müsste. Doch nur 20 bis 25 Prozent der Betroffenen erhielten eine ausreichende Therapie, sagte Detlef Dietrich, Koordinator des Europäischen Depressionstages. Quelle: dpa
Journalisten und AutorenDie Studie der medizinischen Universität von Cincinnati beinhaltet Daten von etwa 215.000 erwerbstätigen Erwachsenen im US-Bundesstaat Pennsylvania. Die Forscher um den Psychiater Lawson Wulsin interessierte vor allem, in welchen Jobs Depressionen überdurchschnittlich oft auftreten und welche Arbeitskriterien dafür verantwortlich sind. Den Anfang der Top-10-Depressions-Jobs macht die Branche der Journalisten, Autoren und Verleger. Laut der Studie sollen hier etwa 12,4 Prozent der Berufstätigen mit Depressionen zu kämpfen haben. Quelle: dpa
HändlerDer Begriff „Depression“ ist in der Studie klar definiert. Als depressiv zählt, wer mindestens zwei Mal während des Untersuchungszeitraums (2001 bis 2005) krankheitsspezifische, medizinische Hilferufe aufgrund von „größeren depressiven Störungen“ gebraucht hat. Händler aller Art, sowohl für Waren- als auch für Wertpapiere, gelten demnach ebenfalls als überdurchschnittlich depressiv. Platz neun: 12,6 Prozent. Quelle: dpa
Parteien, Vereine & Co.Neben den Hilferufen nach medizinischer Fürsorge flossen noch andere Daten in die Studie ein. Die Forscher beachteten außerdem Informationen wie Alter, Geschlecht, persönliche Gesundheitsvorsorge-Kosten oder körperliche Anstrengung bei der Arbeit. Angestellte in „Membership Organisations“, also beispielsweise politischen Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen, belegen mit über 13 Prozent den achten Platz im Stress-Ranking.
UmweltschutzDer Kampf für die Umwelt und gegen Lärm, Verschmutzung und Urbanisierung ist oft nicht nur frustrierend, sondern auch stressig. Knapp 13,2 Prozent der beschäftigten Erwachsenen in dem Sektor gelten laut den Kriterien der Forscher als depressiv. In den USA betrifft das vor allem Beamte, denn die Hauptakteure im Umweltschutz sind staatliche Organisationen und Kommissionen. Quelle: AP
JuristenAls mindestens genauso gefährdet gelten Juristen. Von insgesamt 55 untersuchten Gewerben belegten Anwälte und Rechtsberater den sechsten Platz im Top-Stress-Ranking: Rund 13,3 Prozent der Juristen in Pennsylvania gelten für die Forscher der medizinischen Universität Cincinnati depressiv. Quelle: dpa
PersonaldienstleisterAuf Rang fünf liegen Mitarbeiter im Dienstleistungsbereich. Deren „Ressource“ ist der Mensch – und der ist anfällig: Denn der „Personal Service“ in Pennsylvania hat nach Lawson Wulsin und Co. eine Depressionsrate von knapp über 14 Prozent. Und nicht nur Kopf und Psyche sind von der Krankheit betroffen, sondern offenbar auch der Körper: Schon seit Jahren forscht Wulsin auf diesem Gebiet und geht von einer engen Verbindung von Depression und Herzkrankheiten aus. Gefährdeter als Menschen aus dem Dienstleistungsbereich sind nur vier andere Jobgruppen.

"Wie die meisten nationalen Arzneimittelbehörden schützt auch die EMEA weiterhin – den Buchstaben des Gesetzes folgend – eher das kommerzielle Eigentum von Arzneimittelherstellern als die Gesundheit von Patienten", stellte eine internationale Gruppe von industrieunabhängigen Medikamentenexperten 2005 in der Berliner Deklaration zur Pharmakovigilanz fest.

Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Jeder Einzelne kann selbst etwas dafür tun, um sich vor unerwünschten Wirkungen von Medikamenten und den daraus folgenden Fehldiagnosen und falschen Therapien zu schützen. Dazu braucht man weder ein Studium der Medizin noch der Pharmazie. Es genügt zu wissen, dass selbst millionenfach verschriebene Medikamente manch böse Überraschung bergen – und wie das im Einzelfall aussehen kann.

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