"Innerhalb der nächsten 25 bis 30 Jahre dürfte sich Zahl der suchtkranken Senioren verdoppeln", vermutet der Mediziner Dirk Wolter, der ein Buch über Sucht im Alter geschrieben hat, denn 2030 wird knapp ein Drittel der 80 Millionen Deutschen über 60 Jahre alt sein.
Arzneimittelherstellern und Apothekern bescheren derlei „treue“ Kunden ein blühendes Geschäft. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen lag der Apothekenumsatz mit klassischen Benzodiazepinen zum Beispiel 2008 bei 250 Millionen Euro.
Hinzu kamen im selben Jahr weitere etwa 350 Millionen Euro für Benzodiazepin-Abkömmlinge und andere Schlaf- und Beruhigungsmittel mit Suchtpotenzial. Doch trotz der wachsenden Brisanz des Problems und trotz der hohen Zahl von Opfern durch "unerwünschte Arzneimittelwirkungen" wird – auch im Vergleich zu anderen maßgeblichen Todesursachen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs – kaum zu diesem Thema geforscht.
Denn der politische Druck dafür fehlt. Stattdessen sorgt eine mächtige Lobby dafür, immer mehr Arzneimittel auf den Markt und an den Mann oder die Frau zu bringen: Da sind zum einen jene international agierenden Pharmafirmen, die kontinuierlich für Nachschub an neuen, patentgeschützten Produkten sorgen müssen.
Patente sichern Monopole
Patente sichern den Unternehmen Monopole und damit satte Gewinne auf dem Weltmarkt. Hinzu kommen aufstrebende und/oder einflussreiche Mediziner an Instituten und Universitäten, die ihre Karriere und ihren Ruhm auf die Entwicklung und das Anpreisen "innovativer Therapien" gegen weitverbreitete Leiden gründen – und dabei eng mit der Industrie kooperieren.
Und nicht zuletzt gibt es eine massiv gestiegene Zahl von niedergelassenen Ärzten und Apotheken, die umso besser leben, je mehr Rezepte ausgestellt werden. Zum Vergleich: 1960 kamen die Deutschen noch mit 166 Ärzten pro 10.000 Einwohnern aus, heute ernährt unser Gesundheitssystem mehr als doppelt so viele Mediziner, nämlich 435 pro 100.000 Einwohner. Im selben Zeitraum wurde auch das Apothekennetz immer dichter. 1960 waren es 16,4 pro 100.000 Einwohner, heute sind es 25,2.
Eine auch nur ansatzweise vergleichbare Lobby für die Rechte und Interessen der viel größeren Gruppe von Patienten und Verbrauchern, die sich bewusst sind, dass ja auch sie irgendwann krank werden können, gibt es dagegen nicht. Betroffene, Angehörige, Verbraucherschützer und unabhängige Experten haben weder so viel wirtschaftliche Macht noch sind sie so gut vernetzt und organisiert wie die Zünfte der Arzneimittelhersteller, Pharmazeuten und Mediziner.
Selbst jene, denen laut Definition "die Erhaltung und Förderung der öffentlichen Gesundheit" obliegt – die nationale Arzneimittelbehörde BfArM und die europäische Arzneimittel-Agentur EMA (ehemals EMEA) – handeln nur bedingt im Sinne der Verbraucher.
"Wie die meisten nationalen Arzneimittelbehörden schützt auch die EMEA weiterhin – den Buchstaben des Gesetzes folgend – eher das kommerzielle Eigentum von Arzneimittelherstellern als die Gesundheit von Patienten", stellte eine internationale Gruppe von industrieunabhängigen Medikamentenexperten 2005 in der Berliner Deklaration zur Pharmakovigilanz fest.
Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Jeder Einzelne kann selbst etwas dafür tun, um sich vor unerwünschten Wirkungen von Medikamenten und den daraus folgenden Fehldiagnosen und falschen Therapien zu schützen. Dazu braucht man weder ein Studium der Medizin noch der Pharmazie. Es genügt zu wissen, dass selbst millionenfach verschriebene Medikamente manch böse Überraschung bergen – und wie das im Einzelfall aussehen kann.