Magische Moleküle Smartes Material erweckt Gegenstände zum Leben

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Was Volkswagen, BMW und Mercedes aus der Technik machen

Noch bewegen Elektromotoren die Flügel. Antriebe aus Nickel-Titan, das sich selbst verformt, wären viel leichter und bräuchten weniger Platz und Energie. Sie könnten sogar ein Heck mit Carbonhaut direkt verformen. „Doch die Designanforderungen sind bei Autos besonders hoch“, erläutert Bucht. Dellen in der Karosserie wie etwa bei Golfbällen, die die Aerodynamik verbessern, aber hässlich aussehen, wird kein Käufer wollen. Bucht ist dennoch sicher: „Bei hochpreisigen Fahrzeugen sehen wir solche Anwendungen als Erstes.“

Die Autoindustrie hat reichlich Erfahrung mit Formgedächtnis-Materialien. Seit 2005 nutzt sie Drähte aus Nickel-Titan, um Rückspiegel zu verstellen und Lüftungsklappen, Tankdeckel und Handschuhfächer zu bewegen. Volkswagen, BMW und Mercedes verwenden Ventile mit Formgedächtnis bereits für die Massagefunktion in Sitzen, weil sie anders als elektrische Antriebe keinen Lärm machen. General Motors verbaut im Sportwagen-Klassiker Corvette eine Lüftungsöffnung in der Heckklappe, die von einem Draht aus Formgedächtnis-Metall bewegt wird. Der Kofferraumdeckel schließt so leichter, weil sich nicht die Luft im Fahrzeuginneren staut, sondern durch die Öffnung entweicht.

Smarte Drähte steuern Lüftungsklappen an der Corvette. Quelle: Presse

Die feinen Metalldrähte besitzen noch weitere nützliche Eigenschaften. So ändern sie mit der Temperatur auch ihren elektrischen Widerstand, was sich leicht messen lässt. So taugen sie auch als Thermometer. Gasherde sollen mit der Technik genauer werden und sich besser regeln lassen. Vor allem beim Backen wusste bisher niemand so recht, wie heiß es bei Stufe 1 bis 3 im Gerät eigentlich genau ist.

Das messen demnächst Formgedächtnis-Drähte und steuern zugleich die Ventile für die Gaszufuhr, um die Temperatur konstant zu halten. Vier US-Hersteller testeten kürzlich entsprechende Herde. Pizza und Bratkartoffeln sollen besser geworden sein als mit herkömmlichen Geräten, berichtet Markus Köpfer, Chef von Actuator Solutions aus dem bayrischen Gunzenhausen, dem Lieferanten der Ventile.

Gedächtnis-Material im Weltraum

Es wäre nicht die erste Anwendung im Haushalt: Ventile des Unternehmens stecken auch in Kaffeeautomaten von Philips und in Klimaanlagen. Zehn Millionen Stück produziert der Betrieb pro Jahr. Einer der wichtigsten Abnehmer ist – erneut – die Autoindustrie. Doch Köpfer und sein Team suchen ständig neue Anwendungen. So sollen smarte Metalldrähte, rund viermal dünner als menschliche Haare, Smartphone-Objektive scharf stellen, indem sie Linsen mikrometergenau in Position rücken. Weil in den Telefonen kaum Platz ist, eignen sich die Drähte dafür besonders gut.

Lohn der Mühe: Actuator Solutions gewann 2014 mit diesem System den Deutschen Innovationspreis in der Kategorie Mittelstand, den die WirtschaftsWoche gemeinsam mit Partnern vergibt. Köpfer zufolge sollen erste Mobiltelefone mit der neuen Technik im zweiten Quartal dieses Jahres auf den Markt kommen.

Schon bald sollen Formgedächtnis-Werkstoffe Einzug in unseren Alltag halten. Ob als Möbel, Autoteile oder Raumanzüge Quelle: PR

Der Siegeszug der Materialien mit Gedächtnis scheint keine Grenzen zu kennen. Selbst in den Weltraum dringen sie vor. So entfalten sie die Antennen und Sonnensegel von Satelliten. Und schützen demnächst Astronauten. Ein Team um Dava Newman, Professorin für Raumfahrt am Massachusetts Institute of Technology in den USA, hat einen Anzug entwickelt, in den Fäden aus Formgedächtnis-Metallen eingearbeitet sind. Per Stromstoß aktiviert, ziehen sie sich zusammen und üben Druck auf den Körper des Raumfahrers aus – was im Vakuum des Alls überlebenswichtig ist.

Noch muss der Anzug den Praxistest auf einer Mission bestehen. Bewährt er sich, können sich die Astronauten wesentlich freier mit ihm bewegen als mit den heutigen sperrigen, ballonartigen Modellen, die mit Gasdruck arbeiten. Auch eine irdische Anwendung zeichnet sich ab: Eine Manschette aus dem Material könnte als Druckverband etwa am Arm Blutungen stoppen.

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