Deutschland diskutiert mal wieder über das Impfen. Denn wieder einmal sind die Masern ausgebrochen. Und wieder einmal sind Mediziner wie Politiker geschockt: Wieso taucht diese anderswo längst ausgerottete, gefährliche Krankheit bei uns immer wieder auf?
Aktuelle Zahlen belegen, dass die Zahl der Masernfälle in Deutschland sprunghaft gestiegen. In diesem Jahr gab es bisher fast zehn Mal so viele gemeldete Fälle wie im gesamten vergangenen Jahr. Bis zum 1. September waren es 1542 Erkrankungen. 2012 gab es insgesamt 165 gemeldete Masernfälle. Besonders viele Menschen erkrankten im Mai und Juni 2013.
Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) betonte in Berlin die Unterstützung Deutschlands für die Ziele der Weltgesundheitsorganisation, gefährliche Infektionserreger durch vermehrte Impfungen zu bekämpfen. Deutschland unterstütze auch die bis 2015 geplante Ausrottung der Masern. „Die hohe Zahl der Maserninfektionen in Deutschland in diesem Jahr macht jedoch deutlich, dass hier noch Handlungsbedarf besteht“, sagte er. Angesichts der steigendenden Zahlen wurde bereits im Sommer über eine Impfpflicht diskutiert worden.
Masern rufen in 20 bis 30 Prozent der Fälle schwerste Begleiterkrankungen hervor und können "vor allem bei sehr kleinen Kindern auch tödlich enden", sagt der Freiburger Virologe Hartmut Hengel. Doch gerade diesen Kindern bis zu zwei Jahre fehlt in Deutschland ein Impfschutz: Nur 62 Prozent von ihnen sind ausreichend mit zwei Impfungen geschützt, wie eine gerade veröffentlichte Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung ergab.
Für die meisten Ärzte gehören Impfungen zu den sichersten und wirksamsten Vorsorgemaßnahmen der modernen Medizin. Doch das sehen nach Angaben der Universität Augsburg etwa drei Prozent der Deutschen anders. Sie lehnen Impfungen strikt ab. Und immerhin zehn Prozent haben ein ungutes Gefühl bei der Sache.
Auch deshalb, weil Horrorgeschichten rund um das Impfen kursieren, von einer Verschwörung der Industrie bis hin zu dramatischen Risiken. Die folgenden Bedenken halten sich besonders hartnäckig.
1. "Die Risiken des Impfens werden unterschätzt"
Ohne Frage, auch Impfungen haben Nebenwirkungen: In abgeschwächter Form können Symptome der Krankheit auftreten - ebenso wie Fieber, Hautrötungen oder Schwellungen an der Impfstelle. Auch Impfkomplikationen bis hin zum Tod sind nicht ausgeschlossen, aber extrem selten.
Betroffene können, Ärzte, Heilpraktiker, Gesundheitsämter und Hersteller müssen alle beobachteten Komplikationen dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in Langen melden. Es ist für die Sicherheit von Impfungen zuständig und analysiert die Verdachtsmeldungen. 1.778 gingen 2011 ein.
Nicht jeder Verdacht bestätigt sich allerdings. Laut Bundesgesundheitsministerium liegt die Zahl der anerkannten Impfschäden in Deutschland im Schnitt bei 34 pro Jahr. Bei knapp 50 Millionen Impfungen, die deutsche Ärzte jährlich Kindern und Erwachsenen in Oberarme oder Pobacken spritzen, ist das eine sehr niedrige Rate. Alleine die Gefahr, an einer Masern-Infektion zu sterben, ist deutlich höher: Immerhin einer von 10.000 Masern-Infizierten überlebt die Krankheit nicht.
Hier macht sich jedoch ein psychologischer Effekt bemerkbar. Während Menschen Pillen schlucken, wenn es ihnen schlecht geht und sie dann auf Heilung hoffen, ist es beim Impfen anders herum: Obwohl der Impfling kerngesund ist, muss er das Risiko eingehen, dass es ihm nach der Impfung schlechter geht als zuvor.
Zudem ist den meisten Menschen heute kaum noch bewusst, vor welchem Leid sie sich und ihre Kinder mit Impfungen bewahren - eben weil die meisten schweren Infektionskrankheiten wie Diphtherie, Wundstarrkrampf oder Kinderlähmung aufgrund von jahrelangen erfolgreichen Impfkampagnen so selten geworden sind.
Impfungen als Auslöser für Autismus?
2. "Die vielen Impfungen sind ein Grund für die Zunahme von Allergien"
Obwohl der Zusammenhang zwischen Allergien und Impfungen immer wieder angeführt wird, ließ er sich bisher wissenschaftlich nicht belegen. Es scheint eher eine gleichzeitige, aber unabhängige Entwicklung zu sein - wie beim Geburtenrückgang und dem Verschwinden der Störche: Seit Kinderschutzimpfungen in den Fünfzigerjahren ihren Siegeszug antraten, sind auch Allergien auf dem Vormarsch.
Gegen die Vermutung, dass Impfungen die Ursache von Allergien sind, spricht zudem eine innerdeutsche Beobachtung: In der DDR, wo Impfpflicht bestand, gab es kaum Allergien. Erst als die Impfraten nach der Wende auch in Ostdeutschland deutlich sanken, nahmen dort die Allergien zu.
Führende Allergologen wie der inzwischen emeritierte Berliner Charité-Professor Ulrich Wahn haben trotzdem seit Jahren den Verdacht, "dass ein bisschen krank sein gar nicht schlecht ist, um Allergien zu vermeiden". Dann sei "das Immunsystem mit wirklich wichtigen Dingen beschäftigt, statt sich auf Feinde zu stürzen, die keine sind". Impfungen vor gefährlichen Krankheiten seien dennoch unverzichtbar.
3. "Impfungen sind die Ursache von Autismus und multipler Sklerose"
Dass Impfungen für schwerste Leiden wie die Nervenentzündung multiple Sklerose (MS), die chronische Darmentzündung Morbus Crohn oder psychische Erkrankungen wie den Autismus verantwortlich sein könnten, ließ sich nach Einschätzung des PEI bislang nicht nachweisen. Die einzige Studie, die einen klaren Zusammenhang zwischen MS und der Impfung gegen Hepatitis B belegt haben will, beurteilt die Weltgesundheitsorganisation kritisch, weil sie methodische Mängel aufweise und beispielsweise zu wenig Fälle betrachte. Eine sehr ähnliche, methodisch bessere Studie konnte keinen Zusammenhang entdecken.
Für Aufsehen sorgte eine 1998 im renommierten Fachblatt "The Lancet" veröffentlichte Studie des britischen Kinderarztes Andrew Wakefield. Sie schien zu beweisen, dass die Dreifach-Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln der Auslöser für Autismus sei. Auch Wakefield wurden methodische Mängel vorgehalten, aber es kam noch schlimmer. Im Jahr 2004 wurde bekannt: Wakefield hatte sich die Studie mit 55.000 britischen Pfund von Anwälten finanzieren lassen, die Eltern von autistischen Kindern bei ihren Klagen gegen die Hersteller des MMR-Impfstoffs vertraten.
Weil er diesen Interessenkonflikt weder "The Lancet" noch seinen Mitforschern mitgeteilt hatte, zog die Zeitschrift den Artikel schließlich zurück.
Eine staatlich verordnete Impfpflicht?
4. "Eine Krankheit zu durchleben stärkt den Körper"
Gerade in anthroposophischen Kreisen gelten Krankheiten als Wert an sich, die den Körper stärken und reinigen. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es aber keinerlei Beleg dafür, dass der Körper an einer Krankheit wächst, sagen Impfbefürworter wie Hengel, der auch Mitglied der vom Robert Koch-Institut einberufenen Ständigen Impfkommission (STIKO) ist. Denn wer sich mit Masern oder irgendeiner anderen ansteckenden Krankheit infiziert und es ohne Schaden überlebt, sei anschließend nicht gestärkt oder gereinigt, sondern lediglich immun gegen eine weitere Maserninfektion - "nicht mehr und nicht weniger".
5. "Eine staatlich verordnete Impfpflicht grenzt an Körperverletzung"
Auch wenn die Wissenschaftler sich darüber einig sind, dass der Nutzen von Impfungen die Risiken bei Weitem überwiegt - eine Impfpflicht, wie sie bis zur weltweiten Ausrottung der Pocken im Jahr 1979 galt, ist dennoch eine rechtlich heikle Sache. Denn in Deutschland schützt das Grundgesetz das Recht jedes Einzelnen auf körperliche Unversehrtheit. Das heißt im Zweifelsfall, dass jeder auch ein Recht darauf hat, nicht geimpft zu werden.
Gerade die Pockenimpfpflicht, die 1807 in Bayern und nach einer Pockenepidemie mit 125.000 Toten 1874 in ganz Deutschland eingeführt wurde, ist eine der Ursachen der tief verwurzelten Angst vor Impfungen. Denn tatsächlich war dieser Impfstoff alles andere als gut verträglich. Solange die Gefahr der tödlichen Seuche aber noch bestand, war eine generelle Impflicht verfassungsgemäß, wie das Bundesverwaltungsgericht 1959 entschied. Demnach hat jeder Bürger ein Recht auf Impfung, auch die Kinder von impfkritischen Eltern.
Für Beda Stadler, den Direktor des Instituts für Immunologie der Universität Bern, ist das gut so: "Die Kinder entscheiden nicht selber, allenfalls krank zu werden, sondern ihre Eltern. Das ist eine Zumutung." Was ihn zudem stört: "Wir haben schlicht die Freiheit nicht, einen anderen Menschen mit einer ansteckenden Krankheit zu beglücken." Wer das in Kauf nehme, handle "unverantwortlich und egoistisch".
Wollte Bundesgesundheitsminister Bahr nun eine Impfpflicht für die Masern einführen, um die Bürger zur Räson zu bringen, könnte er sich auf das Infektionsschutzgesetz berufen, erläutert Ulrich Gassner, der Direktor des Instituts für Bio-, Gesundheit- und Medizinrecht an der Universität Augsburg. Das ermächtige ihn, durch Rechtsverordnung mit Bundesrats-Zustimmung anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen teilzunehmen haben, wenn eine Epidemie drohe.
Das Ziel, die Masern weltweit auszurotten, reiche aber nicht als Begründung, sagt Gassner. Er empfiehlt deshalb eine "starke demokratische Legitimation", etwa durch einen Parlamentsbeschluss.
Ein Milliardengeschäft für die Pharmaindustrie
6. "Es wird viel zu viel geimpft - Daran verdient nur die Pharmaindustrie"
Insgesamt machten Impfstoffe mit gut einer Milliarde Euro im Jahr 2011 nur 3,58 Prozent der gesetzlichen Krankenkassenausgaben für Arzneimittel in Deutschland aus. Es ist ein Nischenmarkt. Auch der Vorwurf, die Mehrfachimpfungen seien die Lizenz zum Gelddrucken, trifft nicht wirklich: Sie sind sogar etwas günstiger als Einzelimpfungen. So kostet etwa der Vierfach-Impfstoff gegen Masern, Mumps, Röteln und Windpocken von GlaxoSmithKline (GSK) 100,13 Euro. Verkauft der Hersteller aber die Dreifachimpfung MMR zu 51,11 Euro und die gegen Windpocken für 58,49 Euro, bekäme er in Summe 109,60 Euro. Den Kindern bleibt durch die Vierfachimpfung ein unangenehmer Piekser erspart.
Die Tatsache, dass GSK im vorigen Jahr auf politischen Druck hin den Krankenkassen 67 Prozent Nachlass auf den saisonalen Grippeimpfstoff gewähren musste und ihn nun zum Preis einer Schachtel Zigaretten verkauft, zeigt allerdings, dass die Margen beträchtlich sind. Auch wenn der Konzern nun jammert, dass weitere Kostenschnitte die Impfstoffproduktion bald zum Zuschussgeschäft werden ließen.
Neue Impfungen - vor allem für Erwachsene - machen das Ganze nun endgültig zu einem Milliardengeschäft, wie eine Marktstudie von Frost & Sullivan belegt. Tatsächlich erzielte Pfizer 2012 mit Prevenar 13 gegen Lungenentzündungen einen Umsatz von 3,7 Milliarden Dollar. Und Gardasil, der Impfstoff für junge Erwachsene gegen Gebärmutterhalskrebs bescherte Merck & Co. und Sanofi Pasteur MSD 1,9 Milliarden Dollar im Jahr 2012.
Dass Unternehmen mit ihren Produkten Geld verdienen, findet STIKO-Mitglied Hengel nicht schlimm. Was er beobachtet, ist aber Folgendes: Die Hersteller setzen gerade bei den preiswerten Impfstoffen der Grundversorgung darauf, ein und dasselbe Produkt über Jahrzehnte in Massen zu verkaufen, ohne es weiter zu verbessern. Dabei sieht Hengel für viele Impfstoff noch großen Verbesserungsbedarf.
Doch ausgerechnet seine Ständige Impfkommission beschert Firmen einen dauerhaften, von den Kassen finanzierten Massenabsatz. Frei nach dem Motto: Einmal von der STIKO empfohlen, immer empfohlen. Hengel gibt zu: "Das jetzige System bietet kaum Anreiz für Innovationen."