Bauteile wuseln über Bänder von Bearbeitungsstation zu Bearbeitungsstation – anscheinend gelenkt von einer höheren Macht. Doch in Wirklichkeit organisieren die Werkstücke ihre Herstellung zum fertigen Produkt selbst. Dazu führen sie Funkmodule, Minichips und ihren Fertigungsauftrag mit. Bei der Reise über die Bänder sprechen sie untereinander ab, welche Maschine gerade frei ist und ob diese alles Material für den nächsten Produktionsschritt parat hat. Am Ende plumpsen etwa komplette Rücklichter für Autos in die Versandkisten.
Es ist der Testlauf in eine neue Ära der Industrieproduktion – mit Mitteln und Methoden des Internets. Und deutsche Unternehmer und Forscher sind ganz vorn beim Eintritt in diese digitale Fabrikwelt, bei der alles mit jedem vernetzt ist – der größten Umwälzung seit Erfindung des Fließbands vor gut 140 Jahren.
Siemens beispielsweise erprobt die sich selbst optimierende Produktion in seinem Vorzeigewerk im bayrischen Amberg, in dem rund 1000 Beschäftigte elektronische Steuerungen für Getränkeabfüllanlagen, Skilifte oder Müllwagen herstellen. Der baden-württembergische Mittelständler Wittenstein tastet sich bei der Produktion von Zahnrädern an die Prinzipien der Selbstorganisation heran. In Bremen sammeln Ingenieure des Instituts für Produktion und Logistik der dortigen Universität in Deutschlands derzeit wohl modernster Modellfabrik neue Erkenntnisse zu dem Thema.
Wahre Wunder
Vordenker wie der frühere SAP-Chef Henning Kagermann, heute Präsident der Technikakademien in Deutschland (Acatech), erwarten von der digitalen Fabrik wahre Wunderdinge. Seine Prognose: In ihr sollen selbst Einzelstücke eines Tages nicht mehr kosten als heutige Massenware – dank Produktivitätssprüngen von 50 Prozent und ebenso großen Material- und Energieeinsparungen.
Damit ist klar: Das Land, das als erstes erfolgreich Internet-Technologien in die Produktion integriert, hat allerbeste Wachstumsperspektiven. Deutschland befindet sich – so die frohe Botschaft – bei der Perfektionierung des Internets der Dinge, wie Fachleute die Vernetzung aller Gegenstände und Geräte miteinander nennen, in einer aussichtsreichen Startposition.
Das größte Potential
Zu diesem Ergebnis kommen jedenfalls die Experten der global tätigen Unternehmensberatung McKinsey. Exklusiv für die WirtschaftsWoche haben sie analysiert, bei welchen Technologien wir stark sein müssen, um auch im nächsten Jahrzehnt vielen Millionen Menschen Arbeit bieten und unseren Wohlstand mehren zu können. Und da hat das Internet der Dinge, das etwa auch die intelligente Steuerung von Logistikketten und Verkehrsströmen umfasst, das größte Potenzial.
Gelänge es der deutschen Wirtschaft, auf diesem Gebiet Standards zu setzen und umsatzstarke Geschäftsmodelle zu entwickeln, dann könnte das unser Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2025 um gleich 207 Milliarden Euro oder umgerechnet fast fünf Prozent nach oben treiben. Das sind noch einmal gut 20 Milliarden Euro mehr, als die chemisch-pharmazeutische Industrie heute jährlich hierzulande umsetzt.
Parallel entstünden viele neue Jobs. Davon ist Andreas Tschiesner überzeugt, Direktor und führender Kopf bei McKinsey Deutschland für die Bewertung fortschrittlicher Technologien. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch: Misslingt der Umstieg, geht im Extremfall ebenso viel Wirtschaftsleistung verloren – mit allen negativen Folgen für die Beschäftigung.
Das Spiel um die Neuverteilung der Welt hat begonnen. Jetzt entscheidet sich, ob wir auch in den nächsten Jahrzehnten eine führende Wirtschaftsnation bleiben.
„Würde Deutschland bei der Vernetzung aller Dinge versagen, wäre unsere gute Wettbewerbsposition massiv erschüttert“, warnt Tschiesner. Die Gefahr hält er aber für gering. „Alle maßgeblichen Akteure haben die Wichtigkeit des Wandels erkannt und kämpfen um eine Führungsrolle.“
Technologien waren zu allen Zeiten Treiber gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritts. Doch nur wenige haben die Sprengkraft, Spielregeln komplett über den Haufen zu werfen und die Machtverhältnisse auf den Märkten zu erschüttern. Ökonomen bezeichnen sie als disruptiv. Auf sie haben sich die Berater konzentriert. Und auch Reporter und Redakteure der WirtschaftsWoche sind ausgeschwärmt, um der Nation den Puls zu fühlen.
Aufschwung oder Absturz?
Von den acht Entwicklungen mit dem stärksten Einfluss auf unsere Wertschöpfung haben sechs unmittelbar mit diesem Megatrend zu tun: neben dem Internet der Dinge die Automatisierung von Wissensarbeit, das mobile Internet, die Analyse riesiger Datenmengen (Big Data), die Nutzung von Software, Rechen- und Speicherkapazität in der Datenwolke (Cloud Computing) und die Sicherheit der Datennetze. Zusammen haben sie das Potenzial, 2025 ein Sechstel der gesamten hiesigen Wirtschaftsleistung auszumachen – oder sie um diesen Wert abstürzen zu lassen (siehe Tabelle).
Große Gefahr
Momentan ist die Gefahr groß, dass das Pendel ins Negative schlägt. Auch das zeigt die Studie. Mit Ausnahme des Internets der Dinge stufen die McKinsey-Analysten die Wettbewerbsstärke Deutschlands in den anderen Feldern mäßig bis niedrig ein.
Den Grund für die Schwäche verrät der Blick auf die sechs entscheidenden Kriterien, von denen abhängt, ob wir das Potenzial der digitalen Umwälzung nutzen können. Fast durchweg fehlt es dort an global führenden Mittelständlern wie an einer dynamischen Gründerszene. Auch bei der Forschung hängt Deutschland zurück. Zudem engagiert sich der Staat zu wenig; und es mangelt an aktiven Technologie-Clustern aus starken Forschungseinrichtungen und Unternehmen, die zur Aufholjagd blasen würden (siehe Tabelle).
Bei vielen marktrelevanten Zukunftstechnologien schwächelt Deutschland
Staatl. Unter- stützung | Weltklasse Forschungs- institute | Aktive Techn.- Cluster | Dynam. Gründer- szene | Mittel- ständische Welt- markt- führer | Technol. führende Konzerne | |
Klassenprimus | ||||||
Internet der Dinge | + | + | - | + | - | + |
Hoch- leistungs- werkstoffe | - | + | + | - | + | + |
Mitläufer | ||||||
Fort- geschrittene Robotik | - | + | + | - | + | - |
Alter- native Antriebe | + | + | - | - | - | + |
Saubere Energie | + | - | + | - | - | + |
Nachsitzer | ||||||
(Teil-) autonomes Fahren | - | + | - | - | - | + |
Genomik | - | + | - | - | - | + |
3-D-Druck | - | + | - | - | + | - |
Energie- speicher | + | - | - | - | - | + |
Wasser- aufbereitung | + | - | - | - | - | + |
Wissens- arbeit | - | - | - | - | - | + |
Mobiles Internet | - | - | - | + | - | - |
Big Data | - | - | - | - | - | + |
Cloud Computing | - | - | - | - | - | + |
Cyber- security | - | - | - | - | - | - |
Die Fahne hoch halten wenige Konzerne. Allen voran die Walldorfer Softwareschmiede SAP, groß geworden mit ihrer Standardsoftware für die Unternehmenssteuerung. Doch Nullachtfünfzehn-Lösungen für alle verlieren rapide an Bedeutung. Deshalb investieren die Walldorfer verstärkt in maßgeschneiderte Spezialprogramme – etwa für intelligente Bohrroboter – oder in solche, die branchenspezifisch Markt- und Kundenrisiken analysieren und Gegenstrategien vorschlagen.
Riesiger Fundus
Auch der Autozulieferer Bosch oder der Logistikkonzern DHL sind inzwischen gut darin, aus ihrem riesigen Fundus an Daten profitable digitale Dienstleistungen mit Kundennutzen zu generieren. Etwa ihren Kunden eine kostensparende Lieferkette vorzuschlagen. Aber in der Breite fehle es bei vielen Managern immer noch am Bewusstsein dafür, dass Daten der wichtigste Rohstoff der digitalen Ökonomie seien und derjenige gewinne, der sie am intelligentesten nutzt, sagt Tschiesner.
Selbst in der Robotik, wo deutsche Hersteller noch den Takt vorgeben und anscheinend alles auf überlegene Mechanik und Elektronik ankommt, geraten die Gesetze des bisherigen Wirtschaftsmodells ins Wanken, erwächst den etablierten Anbietern unerwartete Konkurrenz.
Zweikampf mit den USA
Für Thomas Bauernhansl, Leiter des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), ist es jedenfalls kein Zufall, dass der Web-Gigant Google gleich acht Roboterhersteller gekauft hat. Die Amerikaner würden, da ist er sich sicher, alles daran setzen, die aufwendige Programmierung und Steuerung der Maschinen durch ein einfaches, intuitives Bediensystem radikal zu vereinfachen.
So wie sie es bei Smartphones schon gemacht haben. Dann könne fast jeder mit so einem Gefährten umgehen – ob Fabrikarbeiter oder Privatperson. Das erweitere den Markt enorm. „Unsere etablierten Roboterhersteller werden sich wundern, wenn Google in zwei Jahren die Rollladen hochzieht“, sagt Bauernhansl voraus. „Da wächst ein ernsthafter Konkurrent heran“.
Keine Panik
Bei allen Schwächen – Grund zur Panik besteht keiner. Denn bei der Basis allen Wirtschaftens, der Produktion und den Produkten selbst, ist Deutschland im Vorteil. Kein zweites Land verdient – relativ gesehen – annähernd so viel Geld mit hochwertigen Technologien wie wir: Autos, Maschinen, chemische Grund- und Spezialstoffe. 8,1 Prozent der gesamten Wertschöpfung sind es hier – die USA schaffen gerade 1,7 Prozent. Die Statistik zeigt aber auch: Bei wissensintensiven Dienstleistungen sind Amerika und selbst Großbritannien uns weit voraus.
Wollen wir unseren Vorsprung bei der Hardware verteidigen, müssen wir den Rückstand bei den digitalen Diensten dringend verkürzen. Die USA treiben ihre Reindustrialisierung massiv voran, beflügelt von konkurrenzlos niedrigen Energiepreisen und einem Milliarden-Dollar-Programm von Präsident Barack Obama.
Gewinnen wird den Zweikampf, davon ist McKinsey-Mann Tschiesner überzeugt, wer die Schnittstelle zum Kunden besetzt. Fahren zum Beispiel Autos erst einmal autonom, entscheidet nicht mehr in erster Linie die PS-Stärke über den Kauf eines Wagens. Sondern wer das bessere Navigationssystem anbietet, um schnell das Ziel zu erreichen. Dabei könnte dann Google statt Volkswagen im Vorteil sein.
Dreh- und Angelpunkt wird mithin die Hoheit über die Daten. Die liegt momentan meist bei Amazon, Facebook und Google. Um sie ihnen zu entreißen, drängt Fraunhofer-Präsident Reimund Neugebauer zum Aufbau eines europäischen Google-Pendants. „Das ist die einzige Chance, die Kontrolle zurückzugewinnen“.
Lesen Sie nun, was Deutschland in den fünf ökonomisch wichtigsten Zukunftstechnologien zu bieten hat und wie es auf die Siegerstraße kommen kann.
Internet der Dinge: Auf dem Weg an die Spitze
Im globalen Geschäft mit komplexen Maschinen macht deutschen Unternehmen so leicht niemand etwas vor. Doch beim wichtigsten Innovations- und Wachstumstreiber der vergangenen Dekaden, der Informationstechnik, rangiert Deutschlands Industrie weit abgeschlagen hinter den Konzernen und Start-ups der USA.
Noch. Glaubt man den Prognosen der Berater von McKinsey, bietet ausgerechnet die jüngste Evolutionsstufe der Digitalisierung – das Internet der Dinge – die Chance, den Rückstand nicht nur aufzuholen: Die Verknüpfung von Maschinen und Geräten könnte Deutschland bis 2025 sogar weltweit an die Spitze katapultieren.
Denn jetzt werden sie abgesteckt, die Claims für innovative Hard- und Softwareangebote sowie Internet-Dienste. Es geht um Werkstücke, die auf autonom arbeitenden Produktionsstraßen den Maschinen vorgeben, wie sie die Bauteile montieren sollen. Um Bagger und Lastwagen, die auf Baustellen selbst koordinieren, wer wann welche Baumaterialien abholt oder abliefert. Oder um Autos, die einander vor Gefahrenstellen warnen und bremsen, bevor der Fahrer sehen kann, was los ist.
IT und Produktion verschmelzen
Wo Internet und Produktion verschmelzen, komplizierte Maschinen oder schlichte Haushaltsgegenstände ohne menschliches Zutun effizienter produzieren oder mehr Lebensqualität im Alltag ermöglichen, können deutsche Schlüsselbranchen wie Auto- und Maschinenbau, Elektro- oder Medizintechnik reüssieren.
Diese Chance wollen Politik und Wirtschaft unbedingt nutzen: Unter dem Schlagwort Industrie 4.0 treiben sie die Verschmelzung von IT- und Produktionswelt voran, koordinieren Forschung und Förderung und definieren einheitliche Standards. Das ist dringend nötig, denn laut McKinsey sind Datenschutzbedenken, rechtliche Beschränkungen und unzureichende staatliche Regulierung noch Hemmschuhe bei der Nutzung des Internets der Dinge.
Made in Germany
„Die neue Weltsprache der Produktion muss aus Deutschland stammen“, trommelt deshalb auch Hartmut Rauen, Geschäftsführer beim Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). Seine Organisation, der Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie, sowie der Spitzenverband der IT-Branche, Bitkom, betreiben ein gemeinsames Industrie-4.0-Projektbüro, um ihre Mitgliedsunternehmen zu sensibilisieren. Führende Industriekonsortien wie die M2M-Alliance propagieren branchenübergreifend das Geschäft mit der Maschine-zu-Maschine-Kommunikation – erst in Deutschland, nun auch international.
Zugleich investiert der Bund im Rahmen seiner High-Tech-Strategie in den nächsten Jahren 200 Millionen Euro allein in die Förderung internetbasierter Produktionssysteme und Dienste. Zwar zeigen Förderdesaster wie bei der Fotovoltaik, dass staatliche Programme nicht per se zu erfolgreichen Produkten und Marktführerschaft führen. Fachleute fordern daher, bei der Vernetzung der Maschinen nicht Produktentwicklung zu alimentieren, sondern Forschung an Technologiegrundlagen.
Doch koordinierte Industriepolitik kann auch funktionieren. Das belegen erfolgreiche Forschungsprogramme wie etwa der 2013 abgeschlossene Großversuch zum vernetzten Fahren, SimTD. Er hat Autoindustrie und Wissenschaft ermöglicht, unter Realbedingungen Verfahren zu entwickeln, mit denen sich Verkehrsfluss und -sicherheit deutlich verbessern lassen.
Nun geht es darum, den Kompetenzvorsprung zu nutzen. Denn noch ist offen, ob vom Internet der Dinge eher Unternehmen profitieren, die dank Technik-Know-how die Produktwelt dominieren. Oder eben doch – wie im klassischen Internet – jene, die die Mehrwertdienste dafür liefern?
Droht etwa Autokonzernen das Los der PC-Hersteller, die – mit minimalen Margen – nur noch die Hardware liefern, während die Googles oder IBMs das margenstarke Software- und Dienstegeschäft dominieren? Projekte wie die selbstfahrenden Autos von Google zeigen, wo die heutigen Internet-Giganten (auch) ihre Zukunft sehen.
Der Kampf um das Internet der Dinge beginnt jetzt. Wer als Erster Regeln und Standards in der Wirtschaftswelt vernetzter Maschinen definiert, wird ihn gewinnen.
Tiefe Veränderung
Jeder Schreibtischarbeiter kennt Microsoft Office, aber nur wenige kennen Microsoft Oslo. Dabei könnte das neue Programm, das der Softwarekonzern ab Herbst anbieten will, die Büroarbeit tief greifend verändern. Denn mit ihm erhält jeder Nutzer einen eigenen Assistenten – virtuell zwar, aber dafür rund um die Uhr hilfsbereit. Vor einer Besprechung etwa sucht Oslo passende Hintergrundartikel im Internet, zeigt relevante Blogeinträge von Kollegen an und listet die wichtigsten E-Mails auf.
Die neue Bürosoftware ist ein Vorgeschmack darauf, wie radikal sich Wissensarbeit in den kommenden Jahren verändern wird. „Computer agieren künftig wie Butler“, sagt Andreas Dengerl, Leiter des Bereichs Wissensmanagement am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern. „Sie lernen stetig dazu und bieten ihren Nutzern situationsbezogen die passenden Informationen an.“ Damit werden viele Aufgaben, die bisher eine Sekretärin erledigt hat – Recherchen anstellen, Berichte verfassen – automatisiert.
Welle der Digitalisierung
Nicht nur Recherchen, sondern Wissensarbeit jeder Art steht vor einer Welle der Digitalisierung. Lernende Maschinen ersetzen menschliche Gehirne: Sie bewerten Finanzkennzahlen, beantworten Kundenanfragen oder erstellen nach Prüfung Abertausender Studien medizinische Diagnosen.
Das wird möglich, weil Computer inzwischen riesige Datenmengen, auch Big Data genannt, speichern und blitzschnell analysieren – und mithilfe intelligenter Software den Sinn komplizierter Texte und Zusammenhänge erschließen.
Trend zum Roboter
Die gute Nachricht: Für die deutsche Wirtschaft ist der Trend zum Roboter-Büro ein potenzielles Milliardengeschäft. Auf 265 Milliarden Dollar taxiert McKinsey den möglichen Beitrag intelligenter Software zum deutschen BIP im Jahr 2025. Die schlechte Nachricht: Bisher sieht es nicht so aus, als würde die deutsche Informationstechnikbranche dieses Potenzial auch voll erschließen. Im Rennen der IT-Riesen liegt Deutschland derzeit weit hinter den Vereinigten Staaten zurück. Virtuelle Assistenten werden vor allem im englischsprachigen Raum eingesetzt – und auch dort entwickelt.
Lichtblicke sind Forschungseinrichtungen wie das DFKI, an denen Wissenschaftler künstliche Intelligenz ergründen und erschaffen. Im Projekt Argumentum etwa entwickeln die Kaiserslauterer eine Software für Juristen, die binnen Sekunden in Handbüchern, Fachzeitschriften und im Internet Argumente für einen bestimmten Streitfall findet – eine Arbeit, für die Menschen bisher viele Tage recherchierten.
Zu wenig Gründer
Allerdings: Nur wenige Forschungsergebnisse, bemängelt McKinsey, führen auch zu Unternehmensgründungen, die Produkte daraus entwickeln. Und so bleibt als IT-Konzern von Weltrang einzig das Walldorfer Softwareunternehmen SAP, das digitale Werkzeuge für Wissensarbeiter entwickelt und rund um den Globus vertreibt.
Mit seiner Plattform Hana können Unternehmen aus Abertausenden Dokumenten, Web-Seiten oder Tabellen binnen Sekunden Trends herausfiltern und Prognosen anstellen, etwa darüber, wie oft sich ein bestimmtes Produkt verkaufen wird, welche Mengen an Rohstoffen in der Produktion benötigt werden oder welches Medikament für welchen Patienten geeignet ist.
Dem Beispiel SAP müssen in Deutschland weitere folgen. Sonst schafft der Computer bis 2025 weniger neue Jobs, als er alte überflüssig macht.
Timo Boll schwitzt. Der erfolgreichste deutsche Tischtennisspieler liegt 0:6 zurück, es ist ein mieses Match. Dabei ist sein Gegner kein Sportler, nicht mal ein Mensch. Boll spielt gegen einen Roboter, einen Arm aus Stahl, der vor der Tischtennisplatte postiert ist. Er schlägt wie ein Karate-Kämpfer zu: schnell, kraftvoll, präzise. Und trifft jeden Ball.
Bolls Kampf gegen die Maschine ist inszeniert – für einen Werbespot. Produziert hat ihn der Roboterhersteller Kuka aus Augsburg. Im März hat Kuka eine Fabrik in China eröffnet, dem wichtigsten Wachstumsmarkt für Robotik. Der neue Werbeclip soll potenziellen Kunden dort zeigen, wie gut die Maschinen der Augsburger sind.
Roboter sind gefragt, nicht nur in China. Denn die smarten Maschinen helfen, Kosten zu sparen, die Qualität der Fertigung zu steigern und weniger Strom zu verbrauchen. Automatisierung macht Laptops billiger, Handys robuster, Flugzeuge leichter. Und weil sich in Wachstumsländern wie China immer mehr Menschen diese Produkte leisten können, werden dort Roboter in den Fabriken immer wichtiger.
Verständnis für Kunden
Pro Jahr wird der Weltmarkt Prognosen zufolge um sechs Prozent wachsen. Und schon heute stammt mehr als jeder zehnte Roboter weltweit aus deutscher Herstellung. 20 000 Stück verkauften Mittelständler wie Kuka und Co., die hiesige Produktion wächst jährlich um 14 Prozent. Nur die Japaner sind ähnlich erfolgreich.
Die Vorzüge der Deutschen: hohe Qualität, zahlreiche Innovationen und ein tiefes Verständnis für die Bedürfnisse der Kunden, 24-Stunden-Service inklusive. Auch die sehr gute Ausbildung der Ingenieure hilft der Branche, sich weltweit an der Spitze zu behaupten. Zudem profitieren die Hersteller von der Stärke der hiesigen Industrie – sie setzt seit Jahren auf Automatisierung, um Personalkosten zu sparen. Einer der größten Abnehmer für deutsche Roboter ist die hiesige Autobranche.
Angriff von Google
Sich auf den Erfolgen auszuruhen könnte indes gefährlich werden. Denn mit Google drängt ein mächtiger Internet-Konzern in den Markt – acht Robotik-Unternehmen haben die Kalifornier kürzlich gekauft. Zudem werden die Maschinen für völlig neue Zwecke eingesetzt: Chirurgen nutzen sie für Operationen, Logistiker für den Warentransport, Verbraucher zum Staubsaugen.
Und so liegt die Zukunft nicht allein in schweren Industrierobotern – sondern in leichten, kleineren Maschinen, die mit Menschen in Fabriken, Werkstätten oder Laboren zusammenarbeiten. Dieser neue Typ Helfer lässt sich per Tablet oder Sprachsteuerung programmieren. Er erfasst mit Sensoren die Umwelt, findet von selbst Werkzeuge, erkennt Hindernisse und wird Menschen nicht gefährlich.
Auch Kuka setzt auf den Volksroboter: Kürzlich haben die Augsburger einen Robo-Arm namens LBR iiwa vorgestellt, den Arbeiter für verschiedenste Aufgaben nutzen können. Ob er auch für das Tischtennistraining eingesetzt wird – wer weiß?
Stoppen. Anfahren. Stoppen. Anfahren. Bis zu 200 Mal am Tag und bis zu 300 Tage im Jahr. Waren und Pakete in der Innenstadt auszuliefern ist für Lieferwagen ein Härtetest – und ihre lauten und stinkenden Dieselmotoren sind für die Anwohner ein Ärgernis. In Bonn ist das anders. Dort fahren rund 20 gelbe Transporter der Deutschen Post DHL dank Elektroantrieb Pakete und Briefe lautlos und abgasfrei aus. Bis Anfang 2016 sollen es innerhalb des Pilotprojektes sogar 141 Fahrzeuge werden, die dann pro Jahr voraussichtlich rund 500 Tonnen des klimaschädlichen Gases Kohlendioxid (CO2) einsparen.
Entwickelt und gebaut hat die gelben Leisetreter aber nicht ein etablierter Autohersteller – von denen holte sich die Post 2009 etliche Absagen –, sondern die Streetscooter GmbH und Institute der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen.
Die sauberen Lieferfahrzeuge sind ein anschauliches Beispiel für die Leistungsstärke der deutschen Forscher und Entwickler bei alternativen Antrieben – und einer der großen Pluspunkte, wenn es um die Nutzung dieser Zukunftstechnologie geht. Auch an staatlicher Unterstützung mangelt es nicht, und die deutschen Autohersteller und -zulieferer gelten schon heute als führend. Gute Aussichten die 111 Milliarden Euro Umsatz, den die McKinsey-Berater 2025 für realistisch halten, auch tatsächlich zu erzielen.
Der Streetscooter ist ein erster Schritt in diese Richtung. Er ist mittlerweile solch ein Erfolg, dass auch die Städteregion Aachen noch in diesem Jahr ein Dutzend der Elektrowagen bestellen und im Lieferverkehr einsetzen will. Überzeugt haben sie die niedrigen Kosten des 4,60 Meter langen Fahrzeugs mit einer Reichweite von bis zu 120 Kilometern. So ist der Streetscooter besonders reparaturfreundlich. Im Lieferverkehr kommt es schnell zu kleinen Beulen und Kratzern. Deshalb ist die Karosserie im Bereich der Türen, Front und des Hecks modular aufgebaut. Bei Bagatellschäden lassen sich die Teile so kostengünstig und schnell reparieren.
Konkurrenz für Konzerne
Wichtigster Partner für das junge Unternehmen Streetscooter ist aber weiter die Post. Der Bonner Konzern verfügt über eine Flotte von rund 80 000 Fahrzeugen, die er modernisieren will. Das ehrgeizige Ziel: Bis 2020 möchte die Post ihre CO2-Bilanz gegenüber 2007 um 30 Prozent verbessern. Wenn die Streetscooter-Fahrzeuge dazu entscheidend beitragen können, bedeutet das auch für das Aachener Unternehmen so etwas wie einen Ritterschlag.
Einer der Treiber des Projekts ist Achim Kampker, 40-jähriger Professor für Produktionsmanagement an der RWTH. Er will unter anderen beweisen, dass sich kleine Serien für spezielle Einsatzzwecke, wie etwa der Lieferwagen für die Post, kostengünstig in Deutschland entwickeln und fertigen lassen. Mehr als 60 Mitarbeiter umfasst die Streetscooter GmbH mittlerweile – und wächst weiter.
Die kleine Firma rüttelt damit auch an den großindustriellen Strukturen der Autoindustrie, die mit mehr als zwei Billionen Dollar Gesamtumsatz jährlich zu den größten Branchen weltweit zählt.
Penetrante Figuren
Wer hätte gedacht, dass penetrante Fantasiefiguren wie Crazy Frog oder der Hase Schnuffel einmal so wichtig für den Standort Deutschland würden? Mit diesen und anderen Figuren warben vor rund zehn Jahren die Brüder Oliver, Marc und Alexander Samwer im Fernsehen für die Handyklingeltöne ihrer Firma Jamba. Das Trio gab damals mehr Geld für TV-Spots aus als der Fast-Food-Riese McDonald’s – eine Investition, die sich auszahlte: Die Gründer verkauften den Klingeltonanbieter für 273 Millionen Dollar an den US-Kommunikationskonzern Verisign.
Das Geschäft verschaffte ihnen die nötigen Mittel, um ihr Internet-Imperium aus dem Boden zu stampfen. Ihre Firmenschmiede Rocket Internet ist heute ein Zentrum der Berliner Gründerszene. Die Gebrüder schicken immer wieder neue Online-Firmen wie den Modehändler Zalando an den Start, dessen Kollektionen Kunden zunehmend auch mobil ansteuern. Andere Unternehmen setzen gleich ganz auf das mobile Internet. Payleven etwa macht Handys zu Kreditkartenlesern.
Vor allem aber ist Rocket die inoffizielle deutsche Gründeruni. Dutzende ehemalige Mitarbeiter der Talentschmiede haben eigene Start-ups gegründet. Einer der erfolgreichsten hat sein Handwerk sogar noch bei Jamba gelernt. Sieben Jahre war Jens Begemann bei der Klingeltonfirma, 2009 gründete er dann Wooga. Heute ist das Unternehmen mit 250 Mitarbeiter einer der führenden Entwickler von Computerspielen für Smartphones und Tablets.
Zauderer und Zögerer
Die dynamische Gründerszene ist laut McKinsey ein deutscher Trumpf im Bereich mobiles Internet. Allerdings ist die Vielfalt an Start-ups auch die einzige deutsche Stärke, an global führenden Großunternehmen oder Mittelständlern mangelt es dagegen. Auch bei den Aktivitäten von Forschungseinrichtungen und staatlicher Förderung gibt es Nachholbedarf.
Die Berater bescheinigen dem Standort Deutschland daher eine geringe Wettbewerbsfähigkeit. Ein wesentlicher Grund: Datenschutzbedenken und rechtliche Beschränkungen; das mobile Internet werde daher nur langsam eingeführt. Zudem gebe es keine eigene Technologiehoheit.
Dazu passend haftet selbst den erfolgreichsten deutschen Gründern das Image eines Klon-Kriegers an. Die Samwers sind dafür berüchtigt, erfolgreiche Geschäftsmodelle aus den USA zu kopieren.
Letztlich ist die Zahl global erfolgreicher Start-ups aus Deutschland begrenzt. Zu den international relevanten Entwicklern von Smartphone-Apps gehören etwa EyeEm, Konkurrent der Bilderplattform Instagram, oder 6Wunderkinder mit ihren To-do-Listen Wunderlist. Erst kürzlich benannten die Macher von iLiga ihre beliebte Fußball-App in Onefootball um. Damit wollen sie jenseits von Deutschland noch erfolgreicher werden – schon jetzt stammen 80 Prozent des Wachstums aus dem Ausland.
Zwar wächst allmählich das Interesse ausländischer Investoren und Konkurrenten an den hiesigen Unternehmen. So gab es in diesem Jahr schon einige Finanzierungsrunden in zweistelliger Millionenhöhe. Doch der große Exit eines deutschen Start-ups mit einer milliardenschweren Bewertung lässt noch auf sich warten.
Vorläufige Höhepunkte sind Übernahmen wie der Kauf von Skobbler, einem Berliner Entwickler von Karten- und Navigations-Apps für fast 24 Millionen Dollar durch einen US-Konkurrenten. Umgekehrt scheint kein deutscher Anbieter das Zeug dazu zu haben, durch Zukäufe zu einem globalen Marktführer aufzusteigen.