Medizintechnik Wenn der Maschinen-Mensch die Natur übertrumpft

Seite 4/7

180 Prozent Sehfähigkeit

Wie Brillen das Image verändern
Kleider machen Leute, sagt der Volksmund. Wenn das stimmt, dann sind Brillen das i-Tüpfelchen des modebewussten Menschen. Natürlich liegt diesem vermeintlichen Stylevorsprung einer Schwäche zugrunde: Ohne Brille können immer mehr Menschen in unserer heutigen Zeit nicht mehr richtig sehen. Doch diese Schwäche gilt es zu kaschieren und die Fassung dient dabei als mögliches Mode-Accessoire, dessen Potenzial es völlig auszuschöpfen gilt. Politiker, Künstler und Firmenchefs machen vor wie. Quelle: AP
Außenminister Guido Westerwelle hat bei seinem Brillenkauf alles richtig gemacht. „Die schmale Fassung ist modern, neu, elegant und sachlich. Sie passt zum Typ und sicher gewollten Image”, sagt Kerstin Kruschinski vom Kuratorium Gutes Sehen. Quelle: AP
"Brillen dienen bei Personen des öffentlichen Lebens dazu, einen optischen Wiedererkennungswert zu schaffen", so Petra Waldminghaus, Geschäftsführerin der Imageberatung Corporate Color. "Ohne Gläser könnten sich Fans und Medien nicht so einfach an die Personen wieder erinnern". Sicherlich ein Beispiel für eine Marke, die ohne Brille nicht so gut funktionieren würde: Der Musiker Udo Lindenberg. Quelle: dapd
Gregor Gysi zeigt sich gegenüber Trends resistent und trägt schon seit Jahrzehnten Brillen mit runden Gläsern. Quelle: dpa
„Die runden Gläser passen gut zu seiner extravaganten Erscheinung und der intellektuelle Touch des Modells betont seine pfiffige Art zusätzlich”, urteilt Kruschinksi dagegen über die Brille von Horst Lichter. Quelle: dpa
Auch Politikern ist ihre Außenwirkung besonders wichtig. Die Ausprägung dieser Eitelkeit variiert natürlich, einigen reicht es schon, wenn sie als Politiker und mögliche Staatsmänner überhaupt wahr genommen werden. "Eine schwarze Fassung mit breiten und dicken Brillenrändern hilft einer Person bei ihrer äußeren Wahrnehmung in einem Raum", so die Imageberaterin Petra Waldminghaus. "Einige Politiker oder Unternehmenschefs brauchen daher diese trendigen und nerdigen Brillen, um sich eine stärkere Präsenz zu verschaffen". Vor diesem Hintergrund lässt sich der Brillenwechsel des SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier vielleicht besser erklären. Links: die alte Fassung der Steinmeiergläser; rechts: der neue Steinmeier im Bundestag. Quelle: dapd
Kein anderer deutscher Politiker hat in der Vergangenheit so viele verschiedene Brillenmodelle ausprobiert wie Ronald Pofalla. Nach markanten ovalen und eckigen Modellen trägt er aktuell ein rahmenloses Gestell. Quelle: AP/dapd

„Ein biologisches System ist nie so optisch korrekt wie eine technische Linse“, sagt Kermani. Und so wird inzwischen mancher Sehgetrübte durch die Augen-OP zum technisch aufgerüsteten Menschen. Denn Patienten mit grauem Star können das getrübte Original heute durch Hochleistungs-Kunststofflinsen ersetzen lassen. Manche der Operierten erreichen damit 120 bis 180 Prozent der normalen Sehleistung, sagt der Augenarzt.

Prominentestes Beispiel aus Kermanis Praxis ist der Fernseh-Kabarettist Rüdiger Hoffmann. Der trat zwar immer ohne Brille auf, doch wegen seiner Star-Erkrankung konnte er dabei in den letzten sechs Jahren kaum noch etwas sehen. Nach der Operation im vorigen Jahr ist er nun quasi mit Adlerblick ausgestattet: „Ich sehe viel besser als vor der Erkrankung.“

Solche Erfolge lassen sich mithilfe von Sehchips, die vor oder hinter die Netzhaut implantiert werden, noch nicht erreichen. Aber immerhin erfassen die Sensoren ein Schwarz-Weiß-Bild, das den zuvor erblindeten Menschen erlaubt, sich ohne Hilfe zu orientieren und auch große Schriftzeichen wieder zu erkennen.

Der britische Künstler Neil Harbisson hat der Optimierung seines Körpers noch eine weitere Komponente hinzugefügt. Der Musiker und Maler ist farbenblind, er kann die Welt nur in Schwarz-Weiß und in Grautönen sehen. „Für mich sehen Himmel und Wiese immer grau aus, genauso wie Blumen“, beschreibt Harbisson: „Und auch das Fernsehen läuft für mich noch in Schwarz-Weiß.“

Der farbenblinde Künstler Neil Harbisson kann dank einem

Er hat seine Sinne deshalb mit einer technischen Apparatur erweitert, die er Eyborg nennt. Das elektronische Auge hatte Harbisson vor neun Jahren zusammen mit dem Informatiker Adam Montandon entwickelt, um Farben hören zu können. Seither wandelt der optische Sensor des Eyborgs, den Harbisson an einem Bügel vor seiner Stirn trägt, Farben für ihn in Töne um, die er via Knochenschall empfängt.

Farben als Klangteppich

So klingt die Farbe Rot für ihn wie der Ton F, Gelb wie ein G, und ein Gemüsestand ist für ihn heute ein akustischer Genuss. Wenn er sich anziehe, erzählt Harbisson, dann wähle er die Farben nach seiner Stimmung aus: „Zu einer Beerdigung würde ich wohl Moll tragen.“ Inzwischen ist er so vertraut mit dem Bunt-Hören, dass er auch farbige Kunstwerke malt.

Der 30-Jährige belässt es nicht beim farbigen Standardrepertoire. Er findet die Vorstellung spannend, wie zum Beispiel Haie auch elektromagnetische Felder wahrnehmen zu können. Sein Credo lautet: „Wenn wir unsere Sinne erweitern, werden wir folglich auch unser Wissen vergrößern.“

Mithilfe seines technischen Hilfsmittels ist er deshalb auch in der Lage, infrarotes und ultraviolettes Licht – in Töne verwandelt – wahrzunehmen; Farben, die kein Mensch sonst erkennt.

Wozu Infrarot- und UV-Sinn gut sein sollen? Harbisson findet es praktisch: „So merke ich, ob sich ein Bewegungsmelder in der Nähe befindet oder ob es ein guter Tag zum Sonnenbaden ist.“

Tatsächlich trägt der in Spanien lebende Brite seinen Eyborg heute ständig, obwohl das Gerät bisher nur an den Kopf geklemmt ist. Lediglich der Empfangschip wurde ihm in den Kopf eingepflanzt. Dennoch setzte er durch, dass die britischen Behörden im Pass ein Foto akzeptierten, das ihn mit dem Gerät zeigt.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%