Steilwände sind Hugh Herrs Leidenschaft. Schon mit zwölf Jahren durchsteigt er schroffste Felsen, als sei es nichts. Ehrfurchtsvoll nennt die US-Kletterszene den Jungen aus Pennsylvania in ihren Gazetten „Baby Huey“. Er gilt als das Klettertalent der USA. Doch mit 17 Jahren scheint alles vorbei: Auf dem Weg zum Gipfel des Mount Washington verirrt er sich in einem Schneesturm – und wird erst drei Tage später gefunden. Die Beine sind erfroren und müssen amputiert werden. Die Karriere, scheint es im Winter 1982, ist zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat.
Doch schon nach wenigen Monaten, als er mit Beinprothesen das Gehen neu lernt, rafft sich Herr auf. Er trainiert wieder an einer Steilwand, beginnt, neue Steighilfen zu entwickeln, und schraubt, was das Zeug hält, bis er am Ende – dank seiner neuen High-Tech-Beine – ein noch besserer Bergsteiger ist, als er es vor dem Unfall war.
Immer besser werden und sich selbst zu verbessern – das lässt Herr, der Biophysik studiert hat und inzwischen die Forschungsgruppe Biomechatronik am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) leitet, bis heute nicht los: Der mittlerweile 46-Jährige besitzt künstliche Beine, die ihn 2,40 Meter groß machen. So kann er an sich unerreichbare Griffe und Tritte im Berg noch erreichen. Modelle mit Titan-Spikes helfen ihm, sich ins Eis des Berges zu krallen. Oder sie enden in entenfußartigen Gummilappen, die auf glattem Stein haften.
Dank seiner High-Tech-Füße erklimmt Herr seit seinem Unfall Wände, die vor ihm kein Mensch bezwingen konnte. „Ich kann damit besser klettern als mit echten Beinen“, sagt er.
Ein Traum, so alt wie die Menschheit selbst
Über sich selbst hinauszuwachsen ist ein Traum, so alt wie die Menschheit selbst. Und so ist es dem Homo sapiens mit Hilfsmitteln wie dem Rad oder Erfindungen wie Flugzeugen und Raumschiffen im Laufe der letzten Jahrtausende gelungen, sich viel schneller fortzubewegen, als seine Füße ihn tragen – und sogar bis zum Mond zu fliegen. Doch keine der technologischen Innovationen hat den Menschen selbst verändert oder gar verbessert: In seiner körperlichen Entwicklung war er bisher auf die biologische Evolution angewiesen.
Damit ist jetzt Schluss, glauben Visionäre wie Herr: „Mensch und Maschine sind dabei, miteinander zu verschmelzen“ – zum Homo roboticus sozusagen.
Zahlen zu Prothesen und Implantaten
... Euro kostet eine High-Tech-Prothese für das Bein.
...Taube bekommen in Deutschland pro Jahr ein Hörimplantat.
...Menschen bezeichnen sich als Body-Hacker.
Für diese neue Spezies werden Unfallfolgen und Behinderungen nicht mehr nur repariert – Technologiesprünge in der Sensorik und Prothetik versetzen die Menschen in die Lage, Dinge zu tun, die ihnen bislang unmöglich waren: etwa Infrarot- oder Ultraschallwellen wahrzunehmen, Farben zu hören, Magnetismus zu spüren und das Gehirn zu tunen.
US-Forscher Herr sieht sich als Prototyp eines solchen neuen, optimierten Menschen. „Selbst wenn es möglich wäre – ich wollte meine echten Beine nicht wieder haben.“ Und selbst gesunde Menschen erschließen sich mithilfe elektronischer Bauteile diese neuen Sinneswelten. Sie lassen sich Sensoren und Computerchips in ihren Körper implantieren und verwandeln sich in sogenannte Cyborgs.
Unsterblich im Netz
Das ist nur der Anfang. Futurologen wie der US-Forscher Ray Kurzweil sind überzeugt, dass binnen weniger Jahrzehnte auch die Datenübertragung zwischen Gehirn und externen Computern funktionieren wird. Dann ließe sich nicht bloß die eigene Denkleistung mit fremder Rechnerleistung steigern. Wenn wir auf diesem Weg eines Tages all unsere Erinnerungen und unser Wissen auf Festplatten auslagern können, würden wir quasi unsterblich, glaubt Kurzweil: Wir lebten digital im Internet ewig weiter.
Das ist noch Science-Fiction. Ganz real dagegen sind künstliche Gliedmaßen, digital steuerbare Implantate und vernetzbare Schrittmacher.
Mensch 2.0 - Welche Techniken und Implantate uns besser leben lassen
Ein Mikrochip im Innenohr (38.000 Euro) lässt Taube wieder hören.
Hirnschrittmacher (ab 31.000 Euro) senden elektrische Impulse ins Gehirn, um epileptische Anfälle, das Zittern von Parkinson-Kranken und Depressionen zu heilen.
Ein Chip erfasst Nervenreize. Denkt ein Proband "Greifen", kann er eine Prothese fernsteuern.
Werden kleine Magnete unter die Haut der Fingerkuppen implantiert (200 Euro), können Menschen elektromagnetische Felder wahrnehmen.
Mit einer vollelektronischen Orthese (60.000 Euro) können Menschen gelähmte Gliedmaßen wieder benutzen.
Mikroelektronik in modernen Prothesen (30.000 bis 40.000 Euro) kontrolliert und steuert innerhalb von Millisekunden die Position des Kunstbeins beim Gehen, Rennen oder Treppensteigen.
Mit superleichten Karbonfedern (8.000 Euro) spurten Sportler besser als mit normalen Fußprothesen.
Implantate nahe dem Rückenmark (etwa 20.000 Euro) stoppen die elektrischen Nervensignale - und damit das Schmerzempfinden.
Elektronische Schrittmacher kontrollieren die Funktion von Magen, Blase und Darm (ab 14.400 Euro).
Der Brustmuskel wird in mehrere Segmente unterteilt, mit denen Arm und Kunsthand präzise gesteuert werden (60.000 Euro).
Schrittmacher (ab 5.100 Euro) und implantierbare Defibrillatoren (ab 15.500 Euro) halten geschädigte Herzen mit elektrischen Impulsen auf Trab.
Exakt geschliffene Kunststofflinsen (je 3.000 Euro) heilen den grauen Star. So erreichen viele Patienten anschließend 180 Prozent Sehschärfe.
Blinde können mit einem Computerchip (73.000 Euro ohne Operation), der in die Netzhaut implantiert wird, wieder sehen. Eine Kamerabrille überträgt Bilder zum Chip, der das Signal an den Sehnerv weiterleitet. Der Akku am Gürtel liefert den Strom.
So geben Computerchips Blinden ihr Augenlicht zurück und lassen Taube wieder hören. Moderne Prothesen werden an die elektrischen Impulse der verbliebenen Körpermuskeln oder Nerven angekoppelt und so gesteuert.
Elektronische Schrittmacher aller Art greifen in fehlgeleitete oder erlahmende Körperfunktionen ein: Sie halten Herz und andere Organe mit elektrischen Impulsen auf Trab und stillen Schmerzen. Einige der Steuergeräte reichen mit ihren Elektroden sogar bis ins Gehirn, um epileptische Anfälle oder das Zittern von Parkinson-Kranken zu heilen.
Eine neue Ära
Seit den Anfängen von Krücken, Holzbeinen, Lupen oder Hörrohren haben sich die Möglichkeiten der Körperrestauration und damit auch der Lebensverlängerung enorm verbessert. Heute sind es vor allem mit Mikroelektronik vollgestopfte Bauteile, die diese Entwicklung in großen Sprüngen vorantreiben. Lange Zeit lieferten sich die Informatiker bei der menschlichen Optimierung einen Wettlauf mit den Biotechnologen.
Auch die stehen vor einer neuen Ära: Regenerative Therapien sollen mithilfe von Stammzellen ganze Organe wie Herz, Niere oder Leber nachwachsen lassen. Derzeit aber liegen die Biotechnologen zurück. Denn verglichen mit dem, was sie vorhaben, ist es gerade ein Kinderspiel, Elektroden in den Körper einzukoppeln.
Und auch die Verfechter der Gentherapie, die defekte Erbanlagen repariert, halten mit den Fortschritten der IT-Optimierer nicht mit. Die nächste Evolutionsstufe biotechnischer Bastelarbeiten kommt schlicht zu langsam voran.
So bekam erst kürzlich – nach 25 Jahren Forschungsarbeit – die erste Gentherapie der westlichen Welt eine Zulassung. Und vom Ursprungstraum vieler Forscher, den Nachwuchs genetisch zu optimieren, lässt die Wissenschaft seit Jahren die Finger. Ganz einfach, weil diese Art von Zuchtwahl in der westlichen Welt ethisch und moralisch für das Gros der Menschen derzeit inakzeptabel ist.
Dagegen hat das technische Tuning, wie etwa der Einsatz von Mikrochips und Schrittmachern aller Art, seinen Schrecken verloren. Und je ausgefeilter die technischen Hilfsmittel in den vergangenen Jahren geworden sind, desto öfter stellen sich Betroffene und Entwickler die Frage: Warum sollte Prothetik beim Normalmaß haltmachen und bloß das Original kopieren?
High-Tech-Prothesen
Etwa beim weltweit führenden Prothesenhersteller Otto Bock aus Duderstadt bei Göttingen. Dessen Kunstarme und -beine stellen technologisch derzeit die Spitze der Technik dar: Sie stecken voller Elektronik, steuern in Millisekunden zum Beispiel die Position eines Kunstbeins beim Gehen, Rennen oder Treppensteigen. „Wir sind froh, wenn wir Menschen so die verlorenen Funktionen teilweise wiedergeben können“, sagt Neurotechnik-Forschungschef Bernhard Graimann.
30.000 bis 40.000 Euro kosten solche High-Tech-Beine inklusive Behandlung – pro Stück. Und bisher sehen sie normalen Beinen noch sehr ähnlich. Doch auch bei Otto Bock hat der Trend zur Optimierung Einzug gehalten: So gibt es für Handwerker spezielle zangenartige, robuste Arbeitsaufsätze als Alternative zur naturgetreuen Greifprothese. Und Sportler nutzen superleichte Karbonfedern für die Beine.
Pistorius weist Bolt-Vergleich zurück
Der südafrikanische Olympionike Oscar Pistorius trug solch einen Fußersatz vergangenes Jahr bei den Sommerspielen in London – und musste vorher nachweisen, dass die Federn ihm – wegen der größeren Schnellkraft – gegenüber nicht behinderten Sportlern keine Vorteile verschaffen. Auch die US-Sportlerin Aimee Mullins schätzt solche Federbeine. Schon 1996 stellte sie mit ersten Prototypen bei den Paralympics in Atlanta zwei Sprint-Weltrekorde über 100 und 200 Meter auf.
Schöner als das Original
Die Leichtathletin und Schauspielerin Aimee Mullins kam wie Pistorius ohne Wadenbeine auf die Welt. Sie trägt Prothesen, seit sie zwei Jahre alt ist. Von den Kunstbeinen hat sie heute mehr als ein Dutzend, die sie beim Sport, auf dem Laufsteg und vor der Kamera ganz offen zeigt. Ein Teil glänzt nämlich weniger mit aufwendigem High-Tech-Innenleben, sondern vor allem mit auffallender Optik: etwa ein Paar handgeschnitzte Holzstiefel, mit denen Mullins 1990 auf dem Laufsteg für heftige Diskussionen sorgte. Und in ihrer Rolle im Film „Cremaster 3“ trägt sie Beine, die wie Gepardenläufe mit Pfoten gefertigt sind.
Für ihre Arbeit als Model hat sich die 37-Jährige in London jüngst ein Paar Prothesen anfertigen lassen, das sie 15 Zentimeter größer macht. Die superlangen Beine kommen auf dem Laufsteg gut an. Die in New York lebende Schauspielerin trägt sie aber auch in ihrer Freizeit, etwa wenn sie in Manhattan auf Partys geht. Als sie einer Freundin dabei erstmals in Langform begegnete, berichtet Mullins, habe sich die allen Ernstes über den ungleichen Wettbewerb beklagt: „Es ist einfach nicht fair, dass du diese Wahlmöglichkeiten hast.“
Gerade dass sie sich ihre Beine je nach Gusto aussuchen könne, sei ein Grund dafür, das sie sich nicht im Geringsten behindert, sondern geradezu im Vorteil fühle, sagt Mullins. „Was bedeutet es eigentlich, eine Behinderung zu haben?“, fragt sie und verweist auf Pamela Anderson. Die habe jede Menge Prothesen im Körper: „Aber niemand würde sie deshalb als behindert bezeichnen.“
Umso mehr, als der Körper sein Potenzial oftmals gar nicht ausschöpft. Etwa bei den Augen: Deren Farb- und Helligkeitsrezeptoren könnten theoretisch etwa doppelt so gut sehen, wie sie es tatsächlich tun, sagt der Kölner Augenchirurg Omid Kermani. Doch das Adler-Potenzial im Augeninneren bleibt ungenutzt, weil die vor die Netzhaut geschaltete Augenlinse und die Hornhaut zu viele bauliche Fehler haben.
180 Prozent Sehfähigkeit
„Ein biologisches System ist nie so optisch korrekt wie eine technische Linse“, sagt Kermani. Und so wird inzwischen mancher Sehgetrübte durch die Augen-OP zum technisch aufgerüsteten Menschen. Denn Patienten mit grauem Star können das getrübte Original heute durch Hochleistungs-Kunststofflinsen ersetzen lassen. Manche der Operierten erreichen damit 120 bis 180 Prozent der normalen Sehleistung, sagt der Augenarzt.
Prominentestes Beispiel aus Kermanis Praxis ist der Fernseh-Kabarettist Rüdiger Hoffmann. Der trat zwar immer ohne Brille auf, doch wegen seiner Star-Erkrankung konnte er dabei in den letzten sechs Jahren kaum noch etwas sehen. Nach der Operation im vorigen Jahr ist er nun quasi mit Adlerblick ausgestattet: „Ich sehe viel besser als vor der Erkrankung.“
Solche Erfolge lassen sich mithilfe von Sehchips, die vor oder hinter die Netzhaut implantiert werden, noch nicht erreichen. Aber immerhin erfassen die Sensoren ein Schwarz-Weiß-Bild, das den zuvor erblindeten Menschen erlaubt, sich ohne Hilfe zu orientieren und auch große Schriftzeichen wieder zu erkennen.
Der britische Künstler Neil Harbisson hat der Optimierung seines Körpers noch eine weitere Komponente hinzugefügt. Der Musiker und Maler ist farbenblind, er kann die Welt nur in Schwarz-Weiß und in Grautönen sehen. „Für mich sehen Himmel und Wiese immer grau aus, genauso wie Blumen“, beschreibt Harbisson: „Und auch das Fernsehen läuft für mich noch in Schwarz-Weiß.“
Er hat seine Sinne deshalb mit einer technischen Apparatur erweitert, die er Eyborg nennt. Das elektronische Auge hatte Harbisson vor neun Jahren zusammen mit dem Informatiker Adam Montandon entwickelt, um Farben hören zu können. Seither wandelt der optische Sensor des Eyborgs, den Harbisson an einem Bügel vor seiner Stirn trägt, Farben für ihn in Töne um, die er via Knochenschall empfängt.
Farben als Klangteppich
So klingt die Farbe Rot für ihn wie der Ton F, Gelb wie ein G, und ein Gemüsestand ist für ihn heute ein akustischer Genuss. Wenn er sich anziehe, erzählt Harbisson, dann wähle er die Farben nach seiner Stimmung aus: „Zu einer Beerdigung würde ich wohl Moll tragen.“ Inzwischen ist er so vertraut mit dem Bunt-Hören, dass er auch farbige Kunstwerke malt.
Der 30-Jährige belässt es nicht beim farbigen Standardrepertoire. Er findet die Vorstellung spannend, wie zum Beispiel Haie auch elektromagnetische Felder wahrnehmen zu können. Sein Credo lautet: „Wenn wir unsere Sinne erweitern, werden wir folglich auch unser Wissen vergrößern.“
Mithilfe seines technischen Hilfsmittels ist er deshalb auch in der Lage, infrarotes und ultraviolettes Licht – in Töne verwandelt – wahrzunehmen; Farben, die kein Mensch sonst erkennt.
Wozu Infrarot- und UV-Sinn gut sein sollen? Harbisson findet es praktisch: „So merke ich, ob sich ein Bewegungsmelder in der Nähe befindet oder ob es ein guter Tag zum Sonnenbaden ist.“
Tatsächlich trägt der in Spanien lebende Brite seinen Eyborg heute ständig, obwohl das Gerät bisher nur an den Kopf geklemmt ist. Lediglich der Empfangschip wurde ihm in den Kopf eingepflanzt. Dennoch setzte er durch, dass die britischen Behörden im Pass ein Foto akzeptierten, das ihn mit dem Gerät zeigt.
Anerkannter Cyborg
Der technische Sehsinn sei eben kein Handy, das man weglegen könne, so Harbisson: „Es gehört zu mir und meinem Körper.“ Entsprechend konsequent betrachtet sich der junge Mann seither nicht nur als ersten staatlich anerkannten Cyborg. In diesem Jahr, noch vor Ostern, will er sich den Eyborg in Barcelona sogar in den Kopf implantieren lassen. Dazu musste er 14 Ärzten Rede und Antwort stehen. Es dauerte Monate, bis sie zustimmten.
Auch wenn Harbisson seine Sinneserweiterung ursprünglich wegen der Farbenblindheit erdachte, so motiviert er inzwischen offensiv auch gesunde Menschen dazu, sich technische Implantate einsetzen zu lassen. Tatsächlich gibt es bereits zahlreiche Enthusiasten, die sich mithilfe von technischen Implantaten optimieren wollen. Sie nennen sich Body-Hacker oder Gringer, was sich mit Körper-Knackern oder Schleifern übersetzen lässt.
Sie lassen sich beispielsweise Magnete unter die Haut einer Fingerkuppe implantieren. Damit können sie dann kleine Nägel oder Nadeln anziehen und vom Boden aufheben. Ein leichtes Vibrieren im Finger wiederum zeigt an, dass elektromagnetische Felder in der Nähe sind, sei es die Mikrowelle in der Küche oder die Hochspannungsleitung vor der Tür. Auch die Stromleitung in der Wand sollte so zu erspüren sein, was vor dem Bohren eines Lochs ein entsprechendes Prüfgerät ersetzen könnte.
Und eine Jugendfreundin von Harbisson, Moon Ribas, trägt spezielle Ohrringe mit Infrarot-Sensor. So kann sie orten, ob sich jemand von hinten nähert – dann vibrieren die Ringe. Seit 2010 versammeln Ribas und Harbisson Gleichgesinnte in ihrer Cyborg Foundation.
Ein weiterer Pionier des Body-Hackings ist Tim Cannon aus Pittsburgh: „Schon als Kind habe ich allen Leuten erzählt, dass ich ein Roboter sein will“, offenbarte er dem US-Online-Magazine „The Verge“. Für den Softwareentwickler teilt sich die Welt demnach so auf: „Computer sind Hardware, Apps Software und Menschen Wetware.“
Die Körper-Knacker
Das Ziel der Bewegung schildert er so: „Verbessere dich selbst. Mach es selbst. Teile deine Erfahrungen mit der Welt.“ Cannon und seine derzeit schon rund 1.000 aktiven Mit-Hacker sind völlig infiziert von der Idee, dem menschlichen Körper mithilfe von Elektronikbauteilen ein Upgrade zu verpassen.
Was er über die Magnete hinaus bald an Mikroelektronik in das Feuchtbiotop Mensch integrieren will, verrät Cannon auf der Online-Plattform Grindhousewetware, wo man die Dinge auch erwerben kann: So soll in Kürze ein feuerzeuggroßes Messgerät für Blutdruck, Herzschlag und Körpertemperatur fertig werden. Das Heledd genannte Bauteil wird unter die Haut implantiert und soll die Messdaten per LED-Anzeige durch die Haut hindurch sichtbar machen und laufend an das Smartphone des Besitzers senden.
Gehirnstimulation durch Hirnschrittmacher
Ein zweites Projekt ist noch ambitionierter: Eine leitfähige Kopfkappe soll die Hirnströme von Menschen durch Elektrostimulation beeinflussen – und damit die Hirnleistung wesentlich steigern. Noch arbeiten die Körper-Knacker aber am technischen Design ihrer Thinkcap. Ist die Denkkappe erst fertig, könnte sie dem Träger wahre Geistesblitze verschaffen, hoffen Cannon und seine Mitstreiter. Wie dauerhaft und wie stark der Effekt dann sein wird, ist allerdings noch nicht klar.
Dass die Stimulation von Gehirnregionen nicht einfach ist, haben allerdings schon zahllose Forscher feststellen müssen. Auch Wissenschaftler des US-Medizintechnikherstellers Medtronic. Der Konzern ist einer der führenden Anbieter von Schrittmachern, sowohl für das Herz, aber auch für das Gehirn. Doch selbst bei zugelassenen Produkten ist nicht immer ganz klar, wie sie genau funktionieren – und warum eine tief ins Gehirn vorgeschobene Elektrode bei einem Patienten Parkinson-Symptome wie Zittern ohne Nebenwirkungen unterdrückt, beim anderen aber nicht.
Das Versuchskaninchen
So kam sich Helmut Dubiel einst vor wie ein Versuchskaninchen, als er vor zehn Jahren einen solchen Hirnschrittmacher implantiert bekam. Den Soziologie-Professor aus Frankfurt hatte die Parkinson-Krankheit ungewöhnlich früh getroffen. Mit 46 Jahren wurde sie bei ihm diagnostiziert. Damals stand er kurz davor, das renommierte Frankfurter Forschungsinstitut, das einst Adorno und Horkheimer geleitet hatten, als Direktor zu übernehmen. Doch die Krankheit, die ihn mal lähmte, mal schüttelte, machte ihn öffentlich unmöglich und ruinierte seine Karriere.
Zwar lehrte er an der Universität Gießen weiter und versuchte die Symptome mit Medikamenten zu unterdrücken. Als diese nicht mehr wirkten, ließ er sich auf jeder Seite des Körpers einen Hirnschrittmacher einsetzen. Steuerung und Batterie der Implantate wurden unter den Schlüsselbeinen platziert, die Elektroden reichen bis ins Gehirn – in einen Bereich, der für das typische Zittern und Verkrampfen von Parkinson-Kranken zuständig ist. Mithilfe von elektrischen Impulsen lassen sie sich wieder unter Kontrolle bekommen.
Er wurde unfreiwillig zum Cyborg, der mithilfe eines Schalters, der Frequenz und Stärke der Impulse verändert, sowohl seine Körperfunktion als auch seine Befindlichkeit steuern konnte. Doch das war nicht die einzige Wirkung, wie Dubiel 2006 in seinem Buch „Tief im Hirn“ schreibt.
Gute Laune per Knopfdruck
Direkt nach der Operation war Dubiels Zustand niederschmetternd. Zwar war er seinen Tremor und unkontrollierte Bewegungen los. Doch dafür hatte er schwere Depressionen und konnte sich kaum noch verständlich ausdrücken. Er konnte nur noch leise und undeutlich sprechen. Verheerend für einen Professor, der Vorlesungen vor Studenten halten soll. Auch seine Neurochirurgen, die das Implantat in seinen Kopf eingesetzt hatten, waren lange ratlos.
Erst durch langes Probieren fand Dubiel heraus, wie er die Stromstärke und die Frequenz am Steuergerät einstellen musste, damit er wieder klar und deutlich kommunizieren konnte – auch die Depressionen verschwanden. Dafür zeigten sich unerwünschte Nebenwirkungen, denn auch das Zittern und Zappeln fing wieder an.
Dass er per Knopfdruck von Sprechen auf Bewegen umschalten konnte und mit derselben Fernbedienung willentlich seinen Kopf von Schwermut auf Heiterkeit umpolen konnte, das machte dem Soziologen erst einmal Angst. Doch seit er sich vor vier Jahren aus der Lehre zurückzog, hat er Frieden mit seinem Schrittmacher geschlossen: „Ich schalte einfach nicht mehr hin und her“, sagt der heute 66-Jährige – und hat sich dabei für die Beweglichkeit entschieden.
Neue Lebensfreude
Seine kleine, zweijährige Tochter versteht ihn auch so. Tatsächlich hat Dubiel sich in der Apotheke, in der er seine Medikamente holt, in die Apothekerin Hella Becker verliebt. Und sie sich in ihn. Sie heirateten und leben heute zu dritt in einem Einfamilien-Reihenhäuschen in Frankfurt. „Das gibt mir unendlich viel Lebensfreude, die ich schon längst verloren glaubte“, sagt Dubiel.
Statt Trübsal zu blasen, flitzt er nun wieder mit einem vierrädrigen behindertentauglichen Elektromobil durch die Stadt, erledigt Einkäufe und Besorgungen. Und in einem Punkt ist Dubiel sich inzwischen ganz sicher : „Ohne den Schrittmacher wäre ich ein körperliches Wrack.“ Und so denkt er inzwischen auch darüber nach, sich ein neues, verbessertes Modell einsetzen zu lassen.
Dass eine solche Hirnprothese seine grauen Zellen eines Tages womöglich per Turbo-Schalter auf doppelte Leistungsfähigkeit pushen könnte, das würde er heute in Kauf nehmen. Nach Jahren der Skepsis steht Dubiel dem optimierten Homo roboticus heute positiv gegenüber: „Auch wenn vieles noch verrückt klingt, man sollte es unbedingt ausprobieren.“