Nocebo-Effekt Wenn wir vom Beipackzettel-Lesen krank werden

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Der schlechte Lerneffekt

Als vor ein paar Jahren in Neuseeland ein Pharmahersteller das gleiche Antidiabetis-Medikament in neuer Optik herausbrachte, war sich auf einmal ein deutlich größerer Anteil der Patienten sicher, dass die neue Tablette nicht mehr so gut wirken würde wie die alte. Dann sprangen auch noch die Medien auf den Zug auf und berichteten über das „minderwertige Präparat“ und der Effekt verstärkte sich.

Etwa sechs Monate dauerte es, ehe die Mär vom unwirksamen Medikament sich nicht weiter glaubhaft verbreitete. Ähnliches wäre auch bei uns denkbar. „Hätte zum Beispiel die Spalttablette keinen Schlitz mehr, würde sie weniger gut funktionieren“, ist sich Enck sicher. „Auch das Aussehen der Medikamente trägt zur Wirkung bei.“

Ein weiterer äußerer Einfluss ist die Art, wie der Arzt seine Behandlung verkauft. „Gute Ärzte haben schon immer gewusst, dass es wichtig ist, wie wir mit Patienten reden“, sagt der Psychologe. Wer es schafft, seinen Patienten ein positives, optimistisches Gefühl zu vermitteln, kann die Wirkung eines mittelmäßig wirksamen Medikamentes verstärken, ist sich Paul Enck sicher. Ebenso können Ärzte aber auch das Gegenteil auslösen. Sätze wie „Vielleicht hilft dieses Medikament“, „Probieren wir dieses Mittel aus“ oder „Versuchen Sie, Ihre Medikamente regelmäßig zu nehmen“ können beim Patienten Verunsicherungen auslösen und das Mittel weniger wirksam machen. Ebenso kann das Aufklären über die Nebenwirkungen sorgt regelmäßig dafür, dass diese auch auftreten. Und das nur, weil die Patienten mit ihnen rechnen.

Welche Ärzte-Aussagen Nocebo verstärken

Auch die eigene Biografie ist für Nocebo-Effekte verantwortlich. Wer weiß, dass er von Frühblühern eine Allergie bekommt, wird zu Niesen anfangen, sobald er die ersten Blüten sieht. Und wer weiß, dass es in der Familie häufig Darmerkrankungen auftauchen, wird bei jedem Ziehen im Bauch mit dem schlimmsten rechnen – und die Symptome so sogar noch verschlechtern.

Dieser Lernprozess wird in der Wissenschaft auch als Konditionierung bezeichnet. Dabei werden zwei Reize miteinander kombiniert. Bekanntester Versuch dazu ist der Hundeversuch des russischen Forschers Iwan Petrowitsch Pawlow, für den er sogar einen Nobelpreis erhielt. Dafür ließ er jedes Mal ein Glöckchen läuten, wenn der Hund im Zwinger Futter bekam. Am Ende setzte der für hungrige Hunde typische Speichelfluss bereits ein, sobald das Glöckchen zu hören war. Futter war gar nicht mehr nötig. Es war das Jahr 1905. Bis heute gilt der Versuch als die Geburtsstunde der Placebo/Nocebo-Forschung.

Auch die Medien haben Einfluss. Eines der aktuelleren Beispiele ist Die Schweinegrippe. Als diese 2009 ausbrach, ließen sich viele Menschen im Zuge der starken Berichterstattung impfen. Dass jährlich mehr Menschen an einer normalen Grippe sterben, als je an der Schweinegrippe, schien wenig zu beeindrucken. Doch kaum flachte das Medieninteresse ab, nahmen auch die Impfungen rapide ab. Am Ende blieben etliche Kommunen auf ihrem Impfstoff sitzen. Gewinner waren letztlich die Pharmaunternehmen.

Gegen die krankmachenden bösen Gedanken helfen nach aktuellem Erkenntnisstand eigentlich nur gute.

Dazu ein Beispiel: 2007 wollte sich der 26-jährige Derek Adams das Leben nehmen, weil seine Freundin ihn verlassen hatte. Er nahm 29 Tabletten eines Antidepressivums, das er im Zuge einer Medikamentenstudie erhalten hatte. Sofort setze heftiges Zittern ein, seine Atmung wurde flach. In Todesangst bittet er einen Nachbarn um Hilfe, der ihn sich ins Krankenhaus bringt. Die dortigen Ärzte sprechen mit dem Mediziner, der die Studie durchgeführt hat. Der kann beruhigen: Adams war Teil einer Placebo-Gruppe und hatte Präparate ohne Wirkstoff erhalten. Außer Stärke und Milchzucker enthielten sie nichts. 15 Minuten später konnte der 27-Jährige das Krankenhaus wieder verlassen. Die gute Nachricht allein hat die Symptome abklingen lassen.

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