Polarforscher im Gespräch „In der Antarktis fühle ich mich sicherer als zu Hause“

Zwei Jahre hat Frank Wilhelms in den Eiswüsten Grönlands und der Antarktis verbracht. Im Interview spricht der Polarforscher über das Überleben im Eis - und über die Verbundenheit mit Pionieren wie Scott und Amundsen.

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Frank Wilhelms ist Professor am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Der Experte für Eisbohrungen verbrachte mehr als zwei Jahre in der Antarktis und in Grönland. Quelle: Martin Leonhardt/AWI

Sie haben als Wissenschaftler insgesamt mehr als zwei Jahre in der Antarktis und in Grönland verbracht. Fühlt man sich als moderner Forscher noch in irgendeiner Weise verbunden mit Pionieren wie Amundsen oder Scott?

Das Überleben in der Antarktis ist heute dank moderner Technik natürlich wesentlich einfacher als zu Amundsens Zeit. Aber der Wettlauf zwischen den beiden lehrt uns, nicht allein auf die Technik zu vertrauen. Scott hat ja sehr auf die Technik seiner Zeit gesetzt, etwa mit den berühmten Motorschlitten, die dann unter den extremen Bedingungen der Antarktis versagten. Amundsen war in technischer Hinsicht eher traditioneller, er vertraute auf Hundeschlitten und Inuit-Kleidung. Dafür war er sehr umsichtig, was die Vorbereitungen für seinen Marsch zum Pol betraf. Er legte weit vorgeschobene Depots an, erkundete die Route sehr genau – und war damit erfolgreich.

Ich habe daraus gelernt, dass gute Vorsorge der Schlüssel zu einer erfolgreichen Bewältigung der antarktischen Herausforderungen ist. Es kann immer mal passieren, dass man irgendwo für ein, zwei Tage festsitzt. Wenn die Ausrüstung stimmt, genug Treibstoff, genug Nahrung vorhanden ist, können einem solche unvorhergesehenen Situationen nicht gefährlich werden. Wenn die Vorsorge stimmt, fühle ich mich in der Antarktis eher sicherer als zu Hause.

Was treibt Wissenschaftler heute in die Antarktis?

Da ist zum einen natürlich das Grundinteresse an der Antarktis selbst. Biologen interessieren sich für die Lebewesen vor Ort, Geowissenschaftler erkunden die Berge unter dem Eis oder suchen nach Antworten auf die Frage, wie der Urkontinent Pangäa zerfallen ist.

Zum anderen ist das Interesse an der Antarktis natürlich auch davon getrieben, dass die Gesellschaft Antworten auf bestimmte Fragen haben möchte. Von ganz besonderer Bedeutung ist im Moment die Frage nach der möglichen Geschwindigkeit des Meeresspiegel-Anstiegs. Dafür ist die Erforschung der Dynamik polarer Eisschilde sehr wichtig. Konkret also: Wie ändert sich die Verteilung des Niederschlags und wie verändert sich das Abschmelzen der Eisschilde? Auf einer deutlich längeren Zeitskala sind natürlich auch die Fragen der Paläo-Klimarekonstruktion hoch aktuell, um das natürliche, nicht vom Menschen gestörte System überhaupt zu verstehen.

Das heißt, Sie nutzen das Eis der Antarktis als eine Art Klimaarchiv?

Genau. Anhand etwa von Lufteinschlüssen in Eisproben, die wir durch Bohrungen gewinnen, können wir das Klima der Vergangenheit wie in einem Archiv rekonstruieren. Dabei kommt dann etwa heraus, das über die letzten 800.000 Jahre die atmosphärische Konzentration von CO2 nie höher als 280 ppm (parts per million) war. Wobei die Werte zwischen Eiszeiten, bei denen ein großer Teil der nördlichen Hemisphäre vereist war, und Warmzeiten wie heute um etwa 100 ppm variierte, also zwischen 180 und 280 pendelte. Das ist genau der Wert, den wir Menschen jetzt auf den früheren Höchstwert noch draufgepackt haben – wir sind jetzt bei rund 380 ppm.

Wie gestaltet sich die Forschungsarbeit im ewigen Eis?

Solche Klimaarchive finden sich nur an sehr speziellen Orten. Das sind üblicherweise Gipfelregionen, also Orte, die weit im Inneren des Kontinents liegen. Die meisten Forschungsstationen in der Antarktis liegen aber an der Küste, weil da die Versorgung leichter gewährleistet werden kann. Daher muss ich mir bei Tiefbohrungen erst einmal eine Station vor Ort aufbauen.


Auch die Japaner sind weich geworden

So ein Bohrcamp bedeutet also eine große logistische Herausforderung. Das gesamte Material muss ja von der Küste ins Landesinnere geschafft werden.

In der Tat. Wir selbst haben wie andere Nationen auch zum Aufbau und zur Versorgung unserer Bohrstation zwei bis drei Traversen während des Sommers eingerichtet, auf denen ständig Pistenraupen im Einsatz waren, mehr als fünf große Pistenbullies. Die transportierten dann regelmäßig Ausrüstungsgegenstände und Treibstoff zur Station und fahren mit Müll beladen wieder zurück.

Wie lange dauert eine Bohrung?

Das kann schon mal bis zu sieben Jahre dauern. Typischerweise wird nur drei Monate im Jahr gearbeitet, mit einem Bohrvortrieb von anfangs 50 Meter pro Tag, später eher 20 Meter oder weniger.

Drei Monate – das bedeutet, Sie arbeiten nur während des antarktischen Sommers?

Genau. Die Russen und auch die Japaner haben mal versucht, ganzjährig zu bohren, sind aber davon wieder abgekommen. Ein Kollege von mir hat das mal so formuliert: Auch die Japaner sind weich geworden.

Ein Problem der Antarktis ist ja: Bei schlechtem Wetter kostet ein Problem, das bei gutem Wetter in einer halben Stunde gelöst werden kann, einen halben Tag. Und wer in der Antarktis forscht, will ja nicht beweisen, wie hart er ist, sondern er will effektiv arbeiten. Im Winter hat man viel mehr Leerlauf, weil das Wetter Arbeiten verhindert.

Wegen der vollständigen Unerreichbarkeit von außen über Monate hinweg ist dann auch eine Infrastruktur mit höherer Redundanz vorzusehen, zum Beispiel auch ein eigener Operationssaal. Und deshalb macht es bei Bohrungen eigentlich nur Sinn, Arbeiten im Sommer durchzuführen.

Und was passiert, wenn etwas passiert? Wie sind Sie in einer so isolierten Lage auf Notfälle vorbereitet?

Im tiefen Winter sind die großen Stationen natürlich vollkommen auf sich gestellt Ansonsten wird die gesamte Forschung in der Antarktis wird über UNO-Gremien abgestimmt. Die bekommen von allen Nationen gemeldet, über welche Infrastruktur die einzelnen Forschungsstationen verfügen. So lässt sich im Notfall sehr gut koordinieren, welche Hilfsmittel wo zur Verfügung stehen.

Sie brauchen im Fall eines Falles also nur den Antarktis-Notruf anzuwählen?

Im Prinzip schon. Es gibt für alle Stationen Notrufnummern, über die Hilfe gerufen werden kann. Natürlich wendet man sich im Notfall direkt an die Stelle, die über entsprechende Hilfsmittel verfügt. Aber das weiß man dann auch, denn die Vertreter der einzelnen Nationen kommen regelmäßig zusammen, um ihre Arbeit abzustimmen. Man kennt sich also und weiß, wer wie helfen kann.

Bei Bohrungen sind, wie auf Überwinterungsstationen auch, zudem üblicherweise Ärzte vor Ort. Das sind dann meist Unfallchirurgen. Da alle Teilnehmer vor einer Expedition auf ihren Gesundheitszustand hin überprüft werden, rechnet man in der Antarktis nicht vorrangig mit Problemen, die nur ein Internist behandeln könnte. Zudem ist beim Internisten eher eine Ferndiagnose möglich. Das handwerkliche Geschick eines Chirurgen kann man noch nicht so einfach per Satellitenkommunikation übertragen.

Und bei ernsteren Problemen könnte ein Patient schnell ausgeflogen werden – zumindest im Sommer?

Das ist in erster Linie eine Frage des Wetters, vor allem an der Küste. Auf dem anarktischen Plateau ist das Wetter ja meist gut, denn dort ist man für ein normales Tiefdruckgebiet meist zu hoch. Im Prinzip kann also schnell ausgeflogen werden – im Zweifel muss halt ein oder zwei Tage auf besseres Wetter gewartet werden. Oder man operiert von einer Station der internationalen Partner aus.


Kontakt mit der Außenwelt ist wichtig

Antarktis-Forscher müssen über Monate hinweg an einem sehr isolierten Ort als Gruppe funktionieren. Wie schützt man sich in einer derartigen Umgebung vor einem „Lagerkoller“?

Schon bei der Auswahl der Teilnehmer wird darauf geachtet, wie gut sie unter extremen Bedingungen im Team funktionieren. Dazu werden die Kandidaten als Gruppe auf eine Bergtour geschickt – zwei Wochen lang, unter Anleitung von Bergführern. Dabei werden zum einen die physischen Grenzen ausgetestet, zum anderen wird aber auch untersucht, wie die Kandidaten in Ausnahmesituationen reagieren und miteinander harmonieren.

Andererseits ist man heute auf Polarstationen auch nicht mehr völlig isoliert. Früher war die Kommunikation mit der Außenwelt ein Problem, heute achten wir darauf, den Menschen vor Ort solche Möglichkeiten zu bieten.

Als wir zum Beispiel unsere Tiefbohrung geplant haben, wurde beschlossen, eine Anlage zur effizienteren Satellitenkommunikation anzuschaffen und den Expeditionsteilnehmern freie Text-E-Mail zur Verfügung zu stellen. Und obwohl die Teilnehmer regen Gebrauch davon machten, waren die Kommunikationskosten insgesamt niedriger als in früheren Zeiten.

Wenn wir den Menschen vor Ort solchen Service bieten können – und E-Mail ist mittlerweile Standard bei allen Kommunikationssystemen auf dem Markt – dann ist die Gefahr des „Lagerkollers“ deutlich verringert. Ganz ausschließen kann man das aber natürlich nie.

Kommen wir zum Abschluss noch einmal auf Scott und Amundsen. Hat ihr Wettlauf zum Südpol auch der Wissenschaft etwas gebracht?

In jedem Fall. Allein die Tatsache, dass die beiden – aber auch ein Mann wie Ernest Shackleton, ihr größter Konkurrent im Wettstreit um den Pol – Gebiete erkundet haben, die bis dahin von Menschen noch nie betreten worden waren, bedeutete für die geographische Forschung immens viel. Schließlich gab es seinerzeit noch keine Satelliten, mit denen wir heute jeden Punkt der Erdoberfläche erkunden können.

Das waren damals wirklich noch weiße Flecken auf der Landkarte. Männer wie Amundsen und Scott haben den Grundstein für unser heutiges Wissen über die Antarktis gelegt.

Professor Wilhelms, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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