Am Rande der irischen Hauptstadt Dublin besitzt der IT-Riese IBM auf einer riesigen Grünfläche ein Forschungslabor, in dem an der Zukunft des Gesundheitswesens gebastelt wird. Die Wunderwaffe, mit der man hier für ein effizienteres, kostengünstigeres Gesundheitssystem mit fitteren Bürgern sorgen will, heißt Big Data. Mit riesigen Datenströmen aus unterschiedlichen Quellen wollen die Forscher bisher unbekannte Zusammenhänge aufdecken, die sich auf das Wohlbefinden der Bürger auswirken, bisher allerdings unentdeckt blieben.
Steigende Kosten, eine alternde Gesellschaft und Ärztemangel führen dazu, dass überall auf der Welt im Gesundheitssystem immer mehr gespart wird. Besonders in der Pflege steigt der Verwaltungsaufwand an, Zeit für den Patienten wird kostbar. Hier wollen IT-Unternehmen wie IBM mit ihren Softwarelösungen ansetzen. Das Gesundheitswesen wird durch Computerpower verschlankt und effizienter gemacht. Ärzte und Pflegepersonal haben mehr Zeit für ihre Patienten, Krankenkassen können besser ihre Kosten kalkulieren und arbeiten schneller, so die Vision. Deren Ziel: Fittere Menschen, die seltener krank sind und länger leben.
Die Daten, mit deren Hilfe das Gesundheitssystem revolutioniert werden soll, stammen aus unterschiedlichen Quellen. Zum einen speichern Institutionen wie Krankenhäuser, Ärzte und Krankenkassen anonymisieren die Daten ihrer Patienten. Außerdem entwickeln IT-Konzerne wie IBM selbst Sensoren, die das Verhalten von Patienten analysieren sollen. Daneben erstellen viele Menschen im Privaten Statistiken über ihre Gesundheit. Smartphones mit Bewegungsapps oder Computerprogramme machen es möglich. Wer es klassisch will, greift zu Stift und Block und notiert sich beispielsweise die Entwicklung des eigenen Gewichts. Es gibt sogar eine eigene Bewegung, die sich die Selbstvermessung und deren Optimierung zur Aufgabe gemacht hat. Doch zu dieser sogenannten Quantified-Self-Bewegung später mehr.
Wie helfen also Daten die Gesundheit zu verbessern?
Ein Beispiel, wie IBM das Gesundheitswesen mit Datenanalysen revolutionieren will, findet sich im Bereich der Blutwäsche (Dialyse) für Menschen mit Nierenversagen. Gemeinsam mit einem Unternehmen aus der Pharmabranche, das hier nicht genannt werden möchte, erforscht IBM derzeit, wie Dialysepatienten seltener eine Spenderniere brauchen. Dazu werden unterschiedliche Eigenschaften, wie Größe oder Gewicht der Patienten untersucht. "Das Ziel ist es, irgendwann die Faktoren zu kennen, die dazu führen dass keine Spenderniere gebraucht wird und den Patienten dementsprechend geholfen werden kann", erklärt Manuela Müller-Gerndt, Leiterin der Gesundheitssparte bei IBM Deutschland.
"Smarter Care"
Ein anderes Projekt von IBM findet sich in Bozen in Südtirol. Hier werden nach Angaben der Stadtverwaltung 76 Millionen Euro jährlich in das Sozialwesen gesteckt. 42 Prozent dieser Ausgaben werden für den älteren Teil der Bevölkerung über sechzig Jahre benötigt. Um die Kosten zu senken und gleichzeitig die Effizienz zu steigern, hat IBM in Bozen die Wohnungen und Häuser älterer Bürger mit kleinen Messeinheiten vernetzt: Ein Sensor von der Größe einer Zigarettenschachtel misst, wann die Person die Wohnung betritt oder verlässt, andere Kontrolleinheiten kontrollieren, wann die Person zu Bett geht oder wann sie sich in der Küche aufhält.
Dieses "Smart Home", wie es IBM nennt, soll zwei Zwecke erfüllen. "Dadurch können wir messen, wie der Lifestyle, das Verhalten der Menschen im Alltag, sich auf deren Gesundheit auswirkt", erklärt Karen Parrish. Die US-Amerikanerin ist bei IBM International zuständig für den Bereich Gesundheit. Außerdem hat die Vernetzung des Hauses noch einen direkteren Nutzen: "Wenn die Sensoren messen, dass sich etwas ungewöhnliches im Tagesablauf abspielt, die Person beispielsweise nicht wie sonst abends in der Küche kocht, kann das System Alarm auslösen." Erkennt das System, dass die Person die Wohnung nicht verlassen hat, sich aber auch nicht in der Wohnung bewegt, wird ein Alarm an Angehörige oder den Rettungsdienst gesendet werden.
Mensch 2.0 - Welche Techniken und Implantate uns besser leben lassen
Ein Mikrochip im Innenohr (38.000 Euro) lässt Taube wieder hören.
Hirnschrittmacher (ab 31.000 Euro) senden elektrische Impulse ins Gehirn, um epileptische Anfälle, das Zittern von Parkinson-Kranken und Depressionen zu heilen.
Ein Chip erfasst Nervenreize. Denkt ein Proband "Greifen", kann er eine Prothese fernsteuern.
Werden kleine Magnete unter die Haut der Fingerkuppen implantiert (200 Euro), können Menschen elektromagnetische Felder wahrnehmen.
Mit einer vollelektronischen Orthese (60.000 Euro) können Menschen gelähmte Gliedmaßen wieder benutzen.
Mikroelektronik in modernen Prothesen (30.000 bis 40.000 Euro) kontrolliert und steuert innerhalb von Millisekunden die Position des Kunstbeins beim Gehen, Rennen oder Treppensteigen.
Mit superleichten Karbonfedern (8.000 Euro) spurten Sportler besser als mit normalen Fußprothesen.
Implantate nahe dem Rückenmark (etwa 20.000 Euro) stoppen die elektrischen Nervensignale - und damit das Schmerzempfinden.
Elektronische Schrittmacher kontrollieren die Funktion von Magen, Blase und Darm (ab 14.400 Euro).
Der Brustmuskel wird in mehrere Segmente unterteilt, mit denen Arm und Kunsthand präzise gesteuert werden (60.000 Euro).
Schrittmacher (ab 5.100 Euro) und implantierbare Defibrillatoren (ab 15.500 Euro) halten geschädigte Herzen mit elektrischen Impulsen auf Trab.
Exakt geschliffene Kunststofflinsen (je 3.000 Euro) heilen den grauen Star. So erreichen viele Patienten anschließend 180 Prozent Sehschärfe.
Blinde können mit einem Computerchip (73.000 Euro ohne Operation), der in die Netzhaut implantiert wird, wieder sehen. Eine Kamerabrille überträgt Bilder zum Chip, der das Signal an den Sehnerv weiterleitet. Der Akku am Gürtel liefert den Strom.
Ist das damit nur eine Art umfangreicherer Hausnotruf, wie man ihn von dem Roten Kreuz oder den Maltesern schon seit vielen Jahren kennt?
"Nein", winkt Parrish ab. Bei Smarter Care, wie das Gesamtkonzept zum Gesundheitswesen bei IBM heißt, gehe vielmehr darum, die Gesundheit und das Wohlbefinden eines Menschen umfassender zu betrachten. Umfassender als es bisher der Fall ist, so IBM. Während heute der Arzt Patienten meist nur durch Krankenakte und ein kurzes Gespräch kennt, soll es mit Smarter Care möglich sein, das ganze Leben eines Patienten auf Faktoren, die die Gesundheit beeinflussen, zu durchsuchen. Das System analysiert dabei drei Bereiche: Den klinischen, also sozusagen die Krankenakte der Person, den soziale und die Komponente des Lifestyles. Raucht die Person oder trinkt sie gerne Wein? Hat sie ein intaktes soziales Umfeld oder lebt sie alleine und zurückgezogen? Das sind Bereiche, die die Gesundheit beeinflussen können. Jedoch können sie nicht von jedem, der mit dem Patienten in Kontakt steht, beobachtet werden. Pfleger, Angehörige oder Ärzte wissen oftmals nur wenig von ihren Patienten. Rückschlüsse auf die Gründe für die Beschwerden zu ziehen fällt dementsprechend schwer.
"So werden Personen im Krankenhaus wegen körperlicher Beschwerden behandelt, der Grund für die Beschwerden liegt allerdings im sozialen Umfeld, weil die Personen einsam und deswegen depressiv sind", nennt Parrish ein Beispiel.
Ein vernetztes Gesundheitswesen
Die zunehmende Alterung der deutschen Gesellschaft bringt jedoch nicht nur den amerikanischen IT-Giganten IBM dazu, über neue Lösungen im Gesundheits-und Pflegewesen nachzudenken. Auch ein Weltunternehmen mit Sitz im rheinischen Bonn hat den Bereich als neues Geschäftsfeld erkoren. Bei der deutschen Telekom will man mittels Vernetzung dafür sorgen, dass auch bei weniger Personal für mehr Pflegebedürftige die Versorgung stimmt. Unter dem Slogan "Deutsche-Telekom – Der Partner für ein vernetztes Gesundheitswesen" bietet der Telekommunikationskonzern unterschiedliche Lösungen für Kliniken, Ärzte, Patienten und Krankenkassen an. Hier geht es im Gegensatz zu IBM weniger um die Datenanalyse als um eine Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Bereichen im Gesundheitswesen. Bei IBM versucht man hauptsächlich, aus riesigen Datensätzen Muster und Strukturen zu erkennen, die entscheidend für die Gesundheit sein könnten. Bei der Telekom hingegen geht es vor allem um Vernetzung.
Mittels spezieller Hard- und Software soll es einfacher sein, Ärzte unterschiedlicher Bereiche und mit Sitz an unterschiedlichen Orten digital zusammenzubringen. So lässt sich schneller und unkomplizierter über die Behandlung von Patienten diskutieren und Fachwissen austauschen. Das Ergebnis: Kürzere Behandlungszeiten und Vermeidung von Doppeluntersuchungen, so die Telekom.
Die Produkte der Telekom fungieren sozusagen als zentrale Plattform auf der sich Pfleger, Ärzte und Patienten unterhalten können. Dank dieses zentralen Austauschs stehen mehr Informationen für alle Beteiligten zur Verfügung. Ärzte können sich besser organisieren und der Patient weiß, welche Behandlungsmaßnahmen ihm offen stehen.
Es sind jedoch nicht nur Lösungen für den professionellen Einsatz in Krankenhaus und Ärztepraxis, die von der Telekom angeboten werden. Ebenfalls im Sortiment findet man den Fitnesstracker FitBit. Das Gerät, wurde vom gleichnamigen Unternehmen entwickelt und sorgt dafür, dass man am Tagesende eine Bilanz über seine eigene Fitness auf dem Computerbildschirm abrufen kann. Wie viel habe ich mich bewegt, wie lang waren meine Pausen? Das alles beantwortet der Kasten von der Größe einer Streichholzschachtel. Damit kann man bei der Telekom sozusagen einen kleinen Gesundheitschecker für den Hausgebrauch ordern.
Ähnliche Produkte gibt es auch in Armbandform. Das FuelBand des Sportartikelherstellers Nike oder das JawBone Up sind mit Lagesensoren ausgestattet, analysieren die Aktivität sind und schicken die Daten an das eigene Smartphone.
Die Geräte sind nicht unbedingt für Menschen gedacht, die sich in ärztlicher Behandlung befinden, es geht vielmehr darum durch Aufzeichnung und Kontroller der Aktivität einen besseren Überblick über die eigene Fitness zu haben. Solch kleine Helfer steigern die Motivation, wie auch eine Untersuchung der Stanford-University zeigt: Wer seine Aktivitäten aufzeichnet, macht rund 30 Prozent mehr Sport als Menschen, die keinerlei Buch über Joggen, Schwimmen und Co. führen. Außerdem zeigt die Studie, dass Personen deutlich leichter und schneller abnehmen wenn sie ihre Aktivitäten kontrollieren. Die Datenanalyse ist also nicht nur ein Instrument zur Verbesserung des Gesundheitssystems, auch im privaten Bereich ist sie mittlerweile angekommen.
Quantify yourself
Denn solch eine Selbstkontrolle scheint Motivation und Effizienz zu erhöhen. Wieso dann aber nur den Sport mittels Datenaufzeichnung verbessern, wenn es noch viel mehr Lebensbereiche gibt, die dadurch optimiert werden könnten? Das dachten sich auch die beiden Wired-Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly und gründeten 2007 die schon erwähnte Quantified Self (QS) Bewegung.
Bei Quantified Self, zu deutsch in etwa "sich selbst vermessen", geht es um die Aufzeichnung des eigenen Lebens. Anschließend wird versucht, diese Daten in Zahlen auszudrücken um sie vergleichbarer zu machen.
Und was ist der Zweck dieser Datensammlerei? "Erkenntnisgewinns und der Verhaltensänderung", heißt es von der Deutschen Quantified Self-Bewegung, die 2012 gegründet wurde. Florian Schuhmacher, der die Bewegung in Deutschland initiiert hat bringt es in einem Interview auf der Web-Konferenz Re:publica auf den Punkt: "Ich lerne gewisse Bereiche meines Lebens besser kennen und finde heraus, wie ich dort besser werden kann."
Der Austausch findet dabei nicht nur per Internet statt, auf sogenannten "Meetups" treffen sich die Anhänger und diskutieren ihre Verfahren der Selbstvermessung, präsentieren aber auch ihre persönlichen Erfolge, die sie durch die Umwandlung des eigenen Lebens in Zahlenstränge erreicht haben. Aber bringt das Ganze wirklich etwas? Der deutsche QS-Pionier Schumacher ist überzeugt davon wie er gegenüber der Wirtschaftswoche Online erklärt: "Zum Beispiel hat eine Anwenderin im Selbstversuch den Zusammenhang zwischen ihrer Hauterkrankung und dem Konsum von Milchprodukten identifiziert und durch Anpassung ihrer Diät eine Heilung erzielt." Eine Entdeckung, die auch für Ärzte und Pfleger von Interesse sein dürfte. Quantified Self kann also funktionieren, erfordert jedoch auch eine gewisse Passion, da die Vermessung oftmals viel Zeit in Anspruch nehmen kann, wie auch WiWo Online Chefredakteurin Franziska Bluhm jüngst im Selbstversuch erkannte. Denn schon das Eintippen von Nährwerten und Inhaltsstoffen einfacher Gerichte kann einige Minuten Zeit in Anspruch nehmen. Will man komplexere Dinge, wie die eigene Präsentation in Zahlen ausdruckt wird es noch aufwendiger. Wie drücke ich den Erfolg meines Vortrags in Zahlen aus? Anhand der Dauer des anschließenden Applaus? Durch die Anzahl der Rückfragen? Das Beispiel zeigt: Selbstvermessung ist oftmals schwerer und umfangreicher als nur das Smartphone die Distanz beim Joggen messen zu lassen.
Doch nicht nur Teilnehmer der QS-Bewegung zeichnen Teile ihres Lebens auf. Wie eine aktuelle Studie des Pew Research Center’s Internet & American Life Project in den USA jüngst herausfand, zeichnen rund 70 Prozent der Amerikaner Gesundheitsindikatoren wie Bewegung, Gewicht oder Ernährung auf. Auch wenn viele der Befragten dabei angaben, sozusagen „im Kopf“ die Entwicklung dieser Parameter aufzuzeichnen, erklärten mehr als die Hälfte, dass sie dieses "Tracking" mit Stift und Papier oder ihrem Smartphone verfolgen.
Gesundheitssystem 2.0
Die private Kontrolle der Aktivitäten ist damit auch eine Möglichkeit, die eigene Gesundheit besser zu verstehen. Die Selbstvermessung - Von einigen als Wunderwaffe für das optimierte Leben entdeckt, von Unternehmen als Geschäftsidee für eine sich wandelnde Gesellschaft gesehen. Dank Rechenpower könnte so schon bald das Gesundheitswesen wesentlich günstiger und effizienter werden.
Aber was haben IBM und Co überhaupt davon, wenn sie ihre Rechenpower in das Gesundheitswesen bringen? "Wir wollen damit den Mensch mehr in den Mittelpunkt rücken", erklärt Deutschlandchefin Müller-Gerndt. Klingt schön, jedoch ist man sich bei IBM auch bewusst, dass die alternde Gesellschaft nach neuen Lösungen in der Pflege verlangt. Wer da mit konkreten Plänen möglichst schnell parat steht, sichert sich wichtige Aufträge von Kommunen oder großen Institutionen, wie Krankenkassen. Außerdem: Das Feld ist neu für IT-Firmen. Die schnellsten Unternehmen dürften es da leicht haben, ihre Systeme umzusetzen und damit so etwas wie Standards zu schaffen die Einnahmen über viele Jahre generieren. Daneben sorgt das Bild eines Rentners, der dank Systemen von IBM ein leichteres Leben führen kann, für eine positive Wahrnehmung.
Die Konzepte von IBM, Telekom und Co könnten das Gesundheitssystem in Zukunft umkrempeln. Patienten haben mehr Informationsmöglichkeiten und sind weniger von dem abhängig, was der Doktor ihnen erklärt. Ärzte und Pflegepersonal kennen ihre Patienten genauer und können sie besser versorgen. Das dürfte schlussendlich für mehr Effizienz, also einer besseren Pflege zu geringeren Kosten sorgen. Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg. Es muss viel Aufklärungsarbeit geleistet werden und die Konzepte müssen sich im klinischen Alltag beweisen.
Am wichtigsten dürfte allerdings die Frage nach der Datensicherheit sein. Denn gerade sensible Daten zur eigenen Gesundheit müssen umfangreich geschützt werden. Anderenfalls ist das "Gesundheitssystem 2.0" wegen fehlender Akzeptanz zum scheitern verurteilt.