Serie Wirtschaftswelten 2025 Wie der Mensch zum Roboter wird

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Hörgerät im Kopf

Musik im Gehirn: Lange lebte Natalie Girth in absoluter Stille. Bis sie mit einem elektronischen Implantat die Welt der Geräusche eroberte.

Traum-Erfüllerin: Die taub geborene Girth kann dank Implantat ihre Kinder hören. Quelle: Christof Mattes für WirtschaftsWoche

Natalie Girth ist eine ansteckend fröhliche und tatkräftige Frau. Mit einer auf den ersten Blick normalen, aber sehr internationalen Biografie: Gymnasium in Frankfurt, dann Architekturstudium in der italienischsprachigen Schweiz. Zwei Jahre lebt sie in Venedig, eines in Südkorea. In London arbeitet sie beim Stararchitekten Norman Foster. Eine Powerfrau.

Nur eins ist nicht normal: Girth ist von Geburt an taub. Deutsch, Englisch und Italienisch lernte sie, ohne ein einziges Wort zu hören, nur durch Lippenlesen. Das sei gar nicht so schwer, behauptet die 38-jährige Frankfurterin: „Die Italiener gestikulieren sehr viel und bewegen den Mund beim Sprechen wunderbar deutlich.“

Nur Telefonieren konnte sie nicht, und Koreanisch war ihr wegen der vielen, kaum von den Lippen abzulesenden Vokale zu schwer. Doch das ließ sich verschmerzen. Dann aber wollte sie Mutter werden – und beschloss vor sieben Jahren, sich ein elektronisches Bauteil in den Kopf einbauen zu lassen, ein Innenohr- oder Cochlea-Implantat (CI). Denn ihr war klar: „Ohne den Chip im Kopf würde ich meine Kinder niemals lachen oder weinen hören.“

Die Funktionsweise des Cochlea-Implantat-Systems

Klassische Hörgeräte verstärken die Töne. Ein Cochlea-Implantat funktioniert anders. Es verarbeitet den Schall digital und sendet die Signale an eine Spule, die in der Schädeldecke unter der Kopfhaut liegt und sie über eine Elektrode an den Hörnerv im Innenohr leitet. Das Implantat ersetzt einen menschlichen Sinn durch Elektronik.

Heute tragen weltweit über 324.000 Menschen einen solchen Mikrochip von einem der vier Hersteller Med-EL aus Österreich, Neurelec aus Frankreich, Cochlear aus Australien und Advanced Bionics aus den USA. Letzteres Unternehmen gehört mittlerweile zur Schweizer Phonak, einem der weltweit führenden Hörgeräteanbieter.

Manchmal reicht der Lärm

Was in Natalie Girths Kindheit undenkbar war, ist heute problemlos möglich: Sogar sieben Monate alte, taub geborene Kinder können schon CIs bekommen. Dann lernen sie fast normal hören und sprechen.

Nach 31 Jahren absoluter Stille war es für Girth dagegen ein Schock, mithilfe des Med-EL-Implantats plötzlich Geräusche wahrzunehmen: „Es war anfangs sehr unangenehm und manchmal fast schmerzhaft laut.“ Und sie musste das Hören erst mühsam erlernen. Ihr Hörnerv konnte mit den Signalen zunächst überhaupt nichts anfangen. Nach drei Jahren hartem Training ging es ums Feintuning: Hieß das gerade Röckchen oder Stöckchen? Und als sie sich nach fünf Jahren auf dem zweiten Ohr operieren ließ, musste sie auch da das Hören ganz neu erlernen.

Es ist anstrengend, doch Girth, die als selbstständige Architektin in Frankfurt arbeitet, hat ein Ziel. Vor knapp vier Jahren kam ihre Tochter Aurelia Matilda zur Welt. Und in wenigen Wochen erwartet sie das zweite Kind – einen Sohn. Ihr Traum hat sich erfüllt: Sie kann ihre Kinder hören und sich mit ihnen unterhalten. Aurelia hat sie so gerne vorgesungen, dass sie Gesangsstunden nahm. Doch sie weiß: „Ich werde immer eine schwerhörige Mutter bleiben.“

Girth spricht sehr offen über ihre Erfahrungen. Ihre Schwester ist heute Ohrenärztin für schwerhörige und taube Kinder an einer Klinik und bringt sie oft in Kontakt mit deren Eltern. Gerade entsteht eine zweite TV-Dokumentation über sie, und es gibt ein Buch über ihren Weg aus der Stille.

Sie genießt das Hören. Aber manchmal hat sie auch genug vom Lärm in ihrer Umwelt. Dann stöpselt sie beim Joggen im Frankfurter Grüneburgpark ihr iPhone direkt ins Implantat und hört Musik. Die Umweltgeräusche kann sie auf Knopfdruck ausblenden. Wer sie überholen und vom Weg scheuchen will, kann so lange rufen, wie er will: „Ich höre dann überhaupt nichts über das Außenohr, die Musik geht direkt ins Gehirn.“

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