Vorsichtig hebt Juliano Pinto sein Bein – und kickt den Ball mehrere Meter weit. Was für jeden gesunden Menschen eine Kleinigkeit ist, für den 29-jährigen Brasilianer ist es der Moment seines Lebens. Bei der Eröffnungszeremonie der Fußballweltmeisterschaft vergangenes Jahr dabei sein. Vor Zehntausenden Menschen im Corinthians-Stadion in São Paulo, vor einer Milliarde TV-Zuschauern auf der ganzen Welt. Er und der Ball. Schießen. Und das als Querschnittsgelähmter, der schon seit vielen Jahren im Rollstuhl sitzt.
Monatelang hatte Pinto mit einem Exoskelett trainiert, eingespannt in eine 42 Kilogramm schwere Konstruktion aus Kunststoff, Motoren und Sensoren. Immer und immer wieder musste er üben, mit den elektrischen Signalen seines Gehirns den Roboter zu steuern, der ihn gehen ließ.
Halb Mensch, halb Maschine
„Magisch“ fand diesen Moment auch Gordon Cheng. Der in München lehrende Informatik-Professor ist einer der beiden führenden Köpfe hinter dem Walk-Again-Projekt, das Pinto ein paar Schritte und einen Schuss schenkte. Über vier Jahre arbeitete er mit seinem Team von der Technischen Universität München an dem Exoskelett, flog fünf Mal pro Jahr nach Brasilien, um das vermeintlich Unmögliche möglich zu machen: Ein Lahmer geht. Und Taube hören wieder, Blinde sehen.
Serie "Wirtschaftswelten 2025"
Nichts wird bleiben, wie es ist. Das Internet verändert unsere Wirtschaft, unsere Gesellschaft, das ganze Leben. Datenanalyse ersetzt Bauchgefühl (Big Data), Brillen sprechen mit Autos (Internet der Dinge). Unternehmen müssen sich neu erfinden, Märkte bilden sich neu (informationsökonomische Revolution). Was bedeutet das für Arbeit, Mobilität, Geld, medizinische Versorgung? Und was wird aus uns? In der Kurztextgalerie finden Sie alle im Rahmen der Serie erschienenen Artikel.
Lange waren denkende Computer nur Science-Fiction. Nun aber beantworten die smarten Maschinen schon E-Mails, planen unseren Urlaub und arbeiten als Dolmetscher. Bald sind sie klüger als wir - und können jeden Job übernehmen. Hier geht es zum Artikel.
Viele Menschen fürchten, im Zuge der Digitalisierung von Maschinen ersetzt zu werden. Doch diese Angst trübt den Blick für die Vorteile neuer Technologien, schreibt
Maschinen lernen aus Daten, und zwar sehr schnell. Wie gut, dass wir ihnen etwas Entscheidendes voraushaben, meint Viktor Mayer-Schönberger.
Intelligente Roboter-Autos chauffieren uns schon in wenigen Jahren durch die Städte – und machen dabei auch den eigenen Wagen überflüssig, meint WirtschaftsWoche-Redakteur Jürgen Rees.
Künstliche Intelligenz zu verbieten, ist sinnlos. Doch wenn sie nicht eingeschränkt wird, wird sie uns nicht nur gewaltige Vorteile bringen - sondern auch gewaltige Nachteile, schreibt Gary Marcus.
Intelligente Maschinen werden die Arbeitswelt verändern. Es könnte zu Revolten kommen. Aber nicht durch die Maschinen - sondern durch jene Menschen, die von den Maschinen ersetzt wurden, warnt Patrick Ehlen.
Wir werden auch in Zukunft die Kontrolle über Maschinen behalten – falls wir uns klug und menschlich verhalten. Das ist möglich. Aber keinesfalls sicher, schreibt David Gelernter.
Ist das Ende 40.000-jähriger, durch den Homo sapiens sapiens dominierter Geschichte in Sicht? Selbstlernende künstliche neuronale Netze erledigen manche Aufgabe schon heute besser als Menschen.
Wichtige ethische Fragen sind bislang nicht nur unbeantwortet. Sie sind nicht einmal gestellt, mahnt Bernhard Rohleder.
Die Maschinen nähern sich einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Als speicherprogrammierte Rechner die ersten Befehle ausführen konnten, begannen die Maschinen die Kontrolle zu übernehmen, schreibt George Dyson.
Roboter könnten uns eines Tages als Arbeitskollegen oder Gefährten unterstützen, glaubt der Wissenschaftler Guy Hoffman. Aber wie viel Kontrolle wollen wir den Maschinen überlassen?
Globale Vernetzung und immer billigere Waffen machen Kriege erschwinglich für alle. Wie sich Kriegsführung und -abwehr verändern, beschreibt das fiktive Protokoll einer Attacke aus dem Jahr 2025.
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Es klingt nach biblischen Wundern, was den Wissenschaftlern da in ihren Laboren gelingt. Immer besser verstehen sie es, komplexeste Ersatzteile zu bauen. Was einmal mit der eisernen Hand des Ritters Götz von Berlichingen begann, wird heute zum Massenprodukt mit TÜV-Siegel. Ein Minicomputer im Innenohr ist heute für taube Menschen fast schon normal. Rechenchips im Auge lassen Sehbehinderte wenigstens wieder Schemen erkennen. Und noch in diesem Jahr soll der Gehirnstecker in den USA eine Zulassung erhalten. Mit seiner Hilfe können wir bald mit unserem Denkorgan direkt einen PC steuern. Selbst das Herz, das mystischste aller Organe, Symbol der Gefühle, wird ersetzt durch eine kalte Pumpe im Brustkorb. Mediziner in Frankreich und Deutschland testen gerade erfolgreich Prototypen an ersten Patienten.
Was da entsteht, sind Mischwesen aus Mensch und Maschine, Cyborgs, die womöglich eines Tages sogar unsterblich sind. Traum – oder Albtraum?
Möglich werden diese enormen Fortschritte nach Jahrzehnten intensiver Forschung, weil die Verständigung zwischen dem menschlichen Nervensystem – das mit elektrischen Signalen arbeitet – und den elektronischen Bauteilen inzwischen gut klappt. Denn die Wissenschaftler verstehen immer besser, wie unsere Nerven, Sinnesorgane und unser Gehirn arbeiten. Sie können die Signale und Steuerbefehle aus dem Körper mit hochgezüchteten Algorithmen enträtseln. Und sich dank winziger Hochleistungsrechner mitten im Körper in die Kommunikation hineinschalten.
Und nebenbei entstehen Milliardenmärkte. Immer kleinere elektrische Impulsgeber arbeiten als Schrittmacher für das Herz, lindern Beschwerden von Parkinsonkranken, verhindern Anfälle bei Epileptikern. Ständig neue Anwendungsgebiete haben die weltweiten Umsätze mit diesen Geräten in den vergangenen Jahren enorm steigen lassen. Den Klassiker – den Herzschrittmacher – implantieren die Ärzte allein in Deutschland jährlich mehr als 100.000 Mal, einen Hirnschrittmacher 400 bis 500 Mal – die Gesamtkosten dieses Eingriffs liegen bei 31.000 Euro aufwärts. Weltweit tragen inzwischen etwa 120.000 Menschen derartige Elektroden im Kopf.
Update für Gesunde
Roboter wie Pintos Exoskelett helfen Unfallopfern und Schlaganfallpatienten, ihre körperlichen Fähigkeiten wieder zu trainieren. Das Geschäft mit diesen Systemen soll von aktuell 43,3 Millionen Dollar bis 2020 auf 1,8 Milliarden Dollar weltweit wachsen, erwarten die Marktforscher von Wintergreen Research aus den USA.
Von vielen dieser Errungenschaften profitieren nicht nur kranke Menschen. In Südkorea helfen Exoskelette den Arbeitern des Schiffbauers Daewoo in ersten Tests, schwere Lasten zu tragen. Natürlich ist auch das Militär an Anzügen interessiert, die Soldaten wie der Filmfigur „Iron Man“ übermenschliche Fähigkeiten verleihen.
Smarte Cyborgs
Auch an Ideen, wie wir unsere Sinne erweitern könnten, mangelt es nicht: Magnetismus spüren, Funknetze oder Farben hören – Body-Hacker probieren das bereits aus. Und viele behinderte Sportler versuchen verlorene Funktionen nicht nur zu ersetzen, sondern ihre Prothesen besser zu machen als das Original: etwa indem sie zusammen mit Forschern Technobeine entwickeln, mit denen sie schneller laufen, höher springen oder besser in Felswänden klettern können als normale Menschen.
Aber was ist künftig noch normal? Wird, wer sich nicht maschinell aufrüstet, bald das Nachsehen im Job haben? Weil smarte Cyborgs an ihm vorbeiziehen? Wie Studien zeigen, empfinden wir die künstlichen Ersatzteile schnell als ganz natürlichen Teil unseres Körpers.
Wie sich dabei die eigene Persönlichkeit verändern kann, erlebte der Frankfurter Soziologie-Professor Helmut Dubiel am eigenen Leibe: Eine Hirnelektrode dämpfte zwar die Beschwerden durch sein Parkinson-Leiden wie Zittern und Lähmungen, doch sie machte ihn niedergeschlagen, und er konnte nur noch nuscheln.
Wo die Grenzen des technisch Möglichen und ethisch Vertretbaren liegen, das ertasten die Menschen gerade erst. Kaum jemand wird auf die enormen Chancen der neuen Technologien verzichten wollen: wieder gehen, wieder hören, wieder sehen zu können. Damit diese Menschheitsträume Wirklichkeit werden, braucht es mutige Menschen. Forscher wie den Roboterspezialisten Cheng, der sich nicht scheut, selbst die verrücktesten Ideen umzusetzen. Menschen wie Natalie Girth, die das Experiment wagen, sich elektronische Bauteile in den Kopf pflanzen zu lassen. Unternehmer wie Florian Solzbacher, der den Gehirnstecker zu einem marktreifen Produkten macht.
Auf den kommenden Seiten stellen wir Ihnen diese Pioniere vor:
Tomm der Gefühlvolle: Forscher Gordon Cheng baut Maschinen mit Tastsinn, die Gelähmte wieder laufen lassen – gesteuert per Gedanken.
Natürlich, was sonst? Wenn Gordon Cheng mit seiner achtjährigen Tochter Amane ins Kino geht, dann schauen sie – einen Roboterfilm. Den neuesten Disney-Trickfilm über einen aufblasbaren Erste-Hilfe-Androiden finden Vater und Tochter dann auch prompt „cool“. Der Titel des Streifens: „Riesiges Robowabohu“.
Das wünscht sich Cheng in seinem Labor ganz bestimmt nicht. Hier im Institut für Kognitive Systeme der Technischen Universität München baut der 46-jährige Informatiker genau solche Roboter, die Menschen helfen. Er ist einer derjenigen, der Lahme wieder gehen lassen will. So wie den Querschnittsgelähmten Juliano Pinto, der bei der Eröffnung der Fußball-WM 2014 ein Exoskelett von Cheng trug. Der Forscher ist derzeit einer der weltweit wichtigsten Wegbereiter von Maschinen, die Menschen nicht nur ein besseres Leben ermöglichen, sondern ihnen auch übernatürliche Kräfte verleihen können.
Das WM-Projekt hatte Cheng schon 2008 mit Hirnforscher Miguel Nicolelis von der Duke-Universität in den USA angestoßen. Damals arbeitete der in Macau geborene und in Australien aufgewachsene Wissenschaftler noch in Japan. Und hatte sich bereits einen Namen gemacht. Die TU München konnte ihn 2009 nach Deutschland locken, indem sie ihm ein neues Institut anbot. Als Chengs Frau Ja sagte zur Bayern-Metropole, zog der vor Ideen sprühende Roboterforscher in die zweite Etage eines unscheinbaren Häuserblocks in der Karlstraße unweit des Hauptbahnhofs. Dort werkelt Chengs 20-köpfiges Forscherteam seither neben Luftballon-Shop, Kopierservice und gegenüber von Tengelmann.
Wer ihn besucht, betritt schlagartig eine andere Welt. Hier kann auf einmal aus dem Aufzug der kühlschrankgroße Roboter PR2 – allein und ohne Aufsicht – herausrollen. Denn den trainiert Cheng gerade, Lift zu fahren, Post zu verteilen und dreckige Kaffeetassen einzusammeln.
Spätestens auf der zweiten Etage wimmelt es dann vor menschenähnlichen kleinen und großen Maschinen. Dort steht auch Tomm, ein Industrieroboter, der verkleidet ist mit einer künstlichen Haut, der spannendsten Neuentwicklung von Cheng.
Kraftakt statt Kinderspiel
Das Besondere: Der aus daumennagelgroßen Kunststoff-Sechsecken aufgebaute Überzug verleiht tumben Maschinen die Fähigkeit zu empfinden. In jedem Sechseck haben Chengs Forscher drei Drucksensoren, eine Art Thermometer und einen Abstandsmesser eingebaut. Ohne diese sensible Hülle hätte Pinto niemals gehen können: „Nur wenn die Gelähmten Rückmeldung über die Bewegungen des Exoskeletts erhalten, können sie lernen, sich damit zu bewegen, und das Gerät steuern, ohne hinzufallen“, erzählt Cheng.
Cyborg-Technologien
Neil Harbisson gilt als der erste Cyborg der Welt, ein Mischwesen aus lebendigem Organismus und Maschine. Der Katalane hat einen Chip in seinem Hinterkopf installiert, der mit einem Farbsensor neben seinem Auge verbunden ist. Er ermöglicht ihm, Farben zu hören.
Harbisson ist seit seiner Geburt völlig farbenblind, er sieht alles in schwarz-grau Schattierungen. Dank des elektronischen Sensors kann er nun mehr Farben unterscheiden, als es das menschliche Auge kann. 2010 hat er die Stiftung Cyborg gegründet.
Auch der kanadische Informatiker Steve Mann ist einer der Ersten seiner Art. Der Professor an der Universität von Toronto wird als Vater von Wearable Computern bezeichnet. Er trägt selber seit Jahren ein Gerät, das seine Sehfähigkeit verbessern soll, ohne medizinische Notwendigkeit. Bislang waren seine Erfindungen stets reine Forschungsobjekte.
Nun hat Mann ein Gerät entwickelt, das markttauglich sein könnte: EyeTap. Es wird vor dem Auge getragen und mischt die Lichtstrahlen, die auf das Auge treffen mit künstlich erzeugten. Im Gegensatz zu Brillen, wie etwa Google Glass, die mehr ein Miniaturprojektor vor dem Auge sind, kann EyeTap verändern, was der Nutzer sieht.
Wer die bittere Pille schon einmal schlucken muss, soll dabei wenigstens einen Zusatznutzen haben, dachte sich die US-Firma Proteus Digital Health, die unter anderem mit dem Schweizer Pharmakonzern Novartis zusammenarbeitet. Sie entwickelt Pillen, die neben dem Heilmittel zusätzlich noch einen kleinen Sensor in sich tragen. Er soll dem Patienten Feedback darüber geben, wie er das Medikament verträgt und ob er es auch wirklich regelmäßig nimmt. Dies soll auch Familienangehörigen bei der Pflege helfen.
Die Firma Vancive stellt unter dem Namen Metria ein intelligentes Pflaster her, dass neben körperlichen Aktivitäten unter anderem auch den Blutdruck misst. Es wird von der Deutschen Telekom in Zusammenarbeit mit Medisana angeboten. Die Daten werden im Internet gespeichert und sollen dem Arzt helfen, Lebensgewohnheiten der Patienten besser einzuschätzen und Tipps zu geben.
Auch Branchenriese Google will den Trend nicht verpassen. Das US-Unternehmen hat Anfang des Jahres bekanntgegeben, an Kontaktlinsen zu arbeiten, die über Sensoren den Blutzuckerspiegel von Diabetikern messen können. Der Konzern hat sich bereits ein elektronisches Tattoo patentieren lassen, das mit Smartphones verknüpft werden kann.
Laufen ist für Gesunde etwas Selbstverständliches – ein Kinderspiel. Doch für Gelähmte ist es ein Kraftakt. Sie müssen ganz fest ans Gehen denken. Eine elektroden-gespickte Kopfhaube erfasst dann die elektrischen Signale der Nervenzellen in ihrem Gehirn. Ein Computer wertet diese Impulse aus, nachdem er zuvor erst mühsam hat lernen müssen, das Signalmuster zu verstehen – bei jedem Menschen neu.
Der Rechner steuert dann die Motoren im Exoskelett an. Der Patient wiederum muss innerhalb einer Viertelsekunde spüren, ob der Fuß noch Bodenkontakt hat oder schon abgehoben ist. Sonst schafft er es nicht, die Bewegungen zu koordinieren. Dazu wandelt der Computer die Signale der sensiblen Kunsthaut so um, dass der Maschinen-Läufer sie auch fühlen kann: Der trägt am Oberarm, den er noch spürt, eine Manschette mit einem Feld kleiner Stempel, die vibrieren können. So entsteht ein exaktes Abbild des Sohlendrucks – als Vibrationsmuster auf dem Oberarm.
All das schien lange ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, wollte nie richtig funktionieren. Doch Cheng reizen genau solche Aufgaben: „Ich liebe es, Lösungen für scheinbar unlösbare Probleme zu finden.“ Und so tüftelte er vier Jahre lang an der Haut des Exoskeletts herum. Auch andere Forscher auf der Welt arbeiten an solchen gefühlvollen Roboterüberzügen – etwa für klassische Hand- oder Fußprothesen.
Iron Man im Anflug
Als das System endlich das tat, was es tun sollte, passierte etwas Verblüffendes: „Das Exoskelett wird zu einem Teil von uns selbst, wir bedienen es bald so selbstverständlich wie Messer und Gabel – oder wie ein Auto“, erzählt Cheng. Die Menschen verschmelzen – gefühlt – mit der Maschine.
Je früher trainiert wird, desto einfacher lässt sich die Bedienung lernen. Bei einem gerade anlaufenden Projekt wird er daher mit Kindern arbeiten, die von Geburt an Lähmungen und kaum Kontrolle über ihre Bewegungen haben. Wenn sie sehr früh mit dem Exoskelett üben, so hofft Cheng, lernen sie, sich und ihre Bewegungen besser wahrzunehmen und zu koordinieren. Vielleicht schaffen sie es so, ihre eigenen Muskeln zu steuern. „Hier kann die Wissenschaft den Menschen etwas zurückgeben, und darüber bin ich sehr froh“, sagt er.
Und wann kommt die Iron-Man-Variante für Schwerarbeiter oder Soldaten? Bald, meint der Visionär. Allerdings achtet er im Gegensatz zu vielen anderen Exoskelett-Arbeitsgruppen peinlichst darauf, keine Fördergelder vom Militär anzunehmen. Er verpflichtet sogar seine Partner darauf.
Die elektronische Haut will sein Team bald vermarkten, es gründet dafür gerade ein Start-up. Auch Industrieroboter, die oft eine Gefahr für Menschen darstellen, könnten sie tragen, sagt Cheng: „Bisher müssen sie hinter Absperrungen arbeiten, denn sie spüren es einfach nicht, wenn sie jemandem einen Schlag auf den Kopf verpassen oder ihn über den Haufen fahren.“
Hörgerät im Kopf
Musik im Gehirn: Lange lebte Natalie Girth in absoluter Stille. Bis sie mit einem elektronischen Implantat die Welt der Geräusche eroberte.
Natalie Girth ist eine ansteckend fröhliche und tatkräftige Frau. Mit einer auf den ersten Blick normalen, aber sehr internationalen Biografie: Gymnasium in Frankfurt, dann Architekturstudium in der italienischsprachigen Schweiz. Zwei Jahre lebt sie in Venedig, eines in Südkorea. In London arbeitet sie beim Stararchitekten Norman Foster. Eine Powerfrau.
Nur eins ist nicht normal: Girth ist von Geburt an taub. Deutsch, Englisch und Italienisch lernte sie, ohne ein einziges Wort zu hören, nur durch Lippenlesen. Das sei gar nicht so schwer, behauptet die 38-jährige Frankfurterin: „Die Italiener gestikulieren sehr viel und bewegen den Mund beim Sprechen wunderbar deutlich.“
Nur Telefonieren konnte sie nicht, und Koreanisch war ihr wegen der vielen, kaum von den Lippen abzulesenden Vokale zu schwer. Doch das ließ sich verschmerzen. Dann aber wollte sie Mutter werden – und beschloss vor sieben Jahren, sich ein elektronisches Bauteil in den Kopf einbauen zu lassen, ein Innenohr- oder Cochlea-Implantat (CI). Denn ihr war klar: „Ohne den Chip im Kopf würde ich meine Kinder niemals lachen oder weinen hören.“
Die Funktionsweise des Cochlea-Implantat-Systems
Klassische Hörgeräte verstärken die Töne. Ein Cochlea-Implantat funktioniert anders. Es verarbeitet den Schall digital und sendet die Signale an eine Spule, die in der Schädeldecke unter der Kopfhaut liegt und sie über eine Elektrode an den Hörnerv im Innenohr leitet. Das Implantat ersetzt einen menschlichen Sinn durch Elektronik.
Heute tragen weltweit über 324.000 Menschen einen solchen Mikrochip von einem der vier Hersteller Med-EL aus Österreich, Neurelec aus Frankreich, Cochlear aus Australien und Advanced Bionics aus den USA. Letzteres Unternehmen gehört mittlerweile zur Schweizer Phonak, einem der weltweit führenden Hörgeräteanbieter.
Manchmal reicht der Lärm
Was in Natalie Girths Kindheit undenkbar war, ist heute problemlos möglich: Sogar sieben Monate alte, taub geborene Kinder können schon CIs bekommen. Dann lernen sie fast normal hören und sprechen.
Nach 31 Jahren absoluter Stille war es für Girth dagegen ein Schock, mithilfe des Med-EL-Implantats plötzlich Geräusche wahrzunehmen: „Es war anfangs sehr unangenehm und manchmal fast schmerzhaft laut.“ Und sie musste das Hören erst mühsam erlernen. Ihr Hörnerv konnte mit den Signalen zunächst überhaupt nichts anfangen. Nach drei Jahren hartem Training ging es ums Feintuning: Hieß das gerade Röckchen oder Stöckchen? Und als sie sich nach fünf Jahren auf dem zweiten Ohr operieren ließ, musste sie auch da das Hören ganz neu erlernen.
Es ist anstrengend, doch Girth, die als selbstständige Architektin in Frankfurt arbeitet, hat ein Ziel. Vor knapp vier Jahren kam ihre Tochter Aurelia Matilda zur Welt. Und in wenigen Wochen erwartet sie das zweite Kind – einen Sohn. Ihr Traum hat sich erfüllt: Sie kann ihre Kinder hören und sich mit ihnen unterhalten. Aurelia hat sie so gerne vorgesungen, dass sie Gesangsstunden nahm. Doch sie weiß: „Ich werde immer eine schwerhörige Mutter bleiben.“
Girth spricht sehr offen über ihre Erfahrungen. Ihre Schwester ist heute Ohrenärztin für schwerhörige und taube Kinder an einer Klinik und bringt sie oft in Kontakt mit deren Eltern. Gerade entsteht eine zweite TV-Dokumentation über sie, und es gibt ein Buch über ihren Weg aus der Stille.
Sie genießt das Hören. Aber manchmal hat sie auch genug vom Lärm in ihrer Umwelt. Dann stöpselt sie beim Joggen im Frankfurter Grüneburgpark ihr iPhone direkt ins Implantat und hört Musik. Die Umweltgeräusche kann sie auf Knopfdruck ausblenden. Wer sie überholen und vom Weg scheuchen will, kann so lange rufen, wie er will: „Ich höre dann überhaupt nichts über das Außenohr, die Musik geht direkt ins Gehirn.“
Anschluss ans Bewusstsein
Unternehmer Florian Solzbacher will das Übertragen von Gedanken und Gefühlen reif für den Massenmarkt machen.
Bisher kennen Florian Solzbacher nur Spezialisten. Ihn stört das nicht. „Ich muss nicht in der Zeitung stehen“, gibt sich der aus Deutschland stammende Elektroingenieur bescheiden. Dabei beherrscht er mit seinem 2008 in Utah gegründeten Unternehmen Blackrock Microsystems eine Schlüsselposition. Der 41-Jährige will – was er ganz selbstbewusst einräumt – nichts weniger als „die Standards für Hirnimplantate setzen“. Wer das schafft, das lässt sich in der Handy- und Computerbranche immer wieder beobachten, der dominiert das Geschäft.
Bisher scheint es zu klappen. Wenn heute in einem Forschungslabor ein gelähmter Patient seine Prothese oder gar Computer mit reiner Geisteskraft steuert, gelingt das häufig nur dank der Hirnstecker von Solzbacher. So wie etwa bei der vom Hals abwärts gelähmten Jan Scheuerman. Die US-Amerikanerin sorgte vor gut zwei Jahren für Aufsehen, als sie sich mit einem Roboterarm Schokolade in den Mund schob – und genüsslich verspeiste. Auch in Sehchips oder Hörprothesen stecken Solzbachers Verbindungen ins Denkorgan. Tausende von Versuchstieren tragen die Blackrock-Stecker. Das sieben Jahre alte Unternehmen hat samt Niederlassung in Hannover gut 80 Mitarbeiter und setzte im Vorjahr etwa 15 Millionen Dollar um.
Mensch 2.0 - Welche Techniken und Implantate uns besser leben lassen
Ein Mikrochip im Innenohr (38.000 Euro) lässt Taube wieder hören.
Hirnschrittmacher (ab 31.000 Euro) senden elektrische Impulse ins Gehirn, um epileptische Anfälle, das Zittern von Parkinson-Kranken und Depressionen zu heilen.
Ein Chip erfasst Nervenreize. Denkt ein Proband "Greifen", kann er eine Prothese fernsteuern.
Werden kleine Magnete unter die Haut der Fingerkuppen implantiert (200 Euro), können Menschen elektromagnetische Felder wahrnehmen.
Mit einer vollelektronischen Orthese (60.000 Euro) können Menschen gelähmte Gliedmaßen wieder benutzen.
Mikroelektronik in modernen Prothesen (30.000 bis 40.000 Euro) kontrolliert und steuert innerhalb von Millisekunden die Position des Kunstbeins beim Gehen, Rennen oder Treppensteigen.
Mit superleichten Karbonfedern (8.000 Euro) spurten Sportler besser als mit normalen Fußprothesen.
Implantate nahe dem Rückenmark (etwa 20.000 Euro) stoppen die elektrischen Nervensignale - und damit das Schmerzempfinden.
Elektronische Schrittmacher kontrollieren die Funktion von Magen, Blase und Darm (ab 14.400 Euro).
Der Brustmuskel wird in mehrere Segmente unterteilt, mit denen Arm und Kunsthand präzise gesteuert werden (60.000 Euro).
Schrittmacher (ab 5.100 Euro) und implantierbare Defibrillatoren (ab 15.500 Euro) halten geschädigte Herzen mit elektrischen Impulsen auf Trab.
Exakt geschliffene Kunststofflinsen (je 3.000 Euro) heilen den grauen Star. So erreichen viele Patienten anschließend 180 Prozent Sehschärfe.
Blinde können mit einem Computerchip (73.000 Euro ohne Operation), der in die Netzhaut implantiert wird, wieder sehen. Eine Kamerabrille überträgt Bilder zum Chip, der das Signal an den Sehnerv weiterleitet. Der Akku am Gürtel liefert den Strom.
„Wir liefern die von den Gesundheitsbehörden zugelassene Hardware, die Forscher haben den Mut, sie auszuprobieren“, das sei die Arbeitsteilung, sagt Solzbacher, der auch als Professor an der University of Utah in Salt Lake City lehrt.
Begeistert schon als Schüler
Auf dem Weg zur breiteren Anwendung ist Solzbacher gerade einen großen Schritt weitergekommen: Er hat den weltweit ersten Nervensensor entwickelt, der samt Elektronik unter der Kopfhaut verschwindet. Statt einem Kabelbündel führt nur noch ein einziger Draht zu einer Fünfmarkstückkleinen Dose. Die überträgt die Daten aus dem Gehirn erstmals drahtlos – an Rollstuhl, Fernseher oder Laptop.
Schon als 16-Jähriger habe die Kombination von Nerven und Technik Solzbacher fasziniert, erzählt sein Schulfreund und heutiger Finanzvorstand Marcus Gerhardt. Solzbacher studierte später in Saarbrücken, Berlin und Ilmenau Elektrotechnik, wo der Brückenschlag zwischen Nerven und Mikrochips seine Studienarbeit beeinflusste. 1999 gründete er eine Firma, die Sensoren für die Autoindustrie entwickelte. 2002 stieg er dort aus und ging nach Utah.
Cola-Dose auf dem Kopf
An der Uni dort hatten Kollegen bereits vor 25 Jahren einen vier mal vier Millimeter kleinen Hirnstecker mit gut 100 feinen Elektrodenspitzen entwickelt. Die messen die elektrischen Signale der Nervenzellen direkt auf der Hirnrinde, wo die Ärzte sie in einer Operation aufbringen. Sie liefern so viel aussagekräftigere Ergebnisse als Messfühler einer Elektrodenkappe auf der Kopfhaut, wie etwa bei Gordon Chengs Exoskelett aus München.
Allerdings war die ursprüngliche Apparatur riesig: Die Signale der Hirnnerven gelangten über 100 Kabel durch die Schädeldecke und landeten zunächst in einer fest verschraubten Sammelstation auf dem Kopf – im Cola-Dosen-Format. Von dort ging es per wasserschlauchdicken Kabelbaum zur Auswerteeinheit, die ein Laborregal in Anspruch nahm. Für Experimente zur Gedankensteuerung mag das taugen. Aber frei bewegen kann sich damit kein Mensch.
Solzbacher verkleinerte alle Elemente und begann, aus dem Gedankenstecker ein industrielles Massenprodukt zu machen, das zuverlässig jahrelang Daten aus dem Kopf liefert. Mit dem auch der weltweit führende Prothesenbauer Otto Bock etwas anfangen kann, etwa um Kunsthände nicht nur mit Gedankenkraft bewegen, sondern sie auch spüren zu können. Mit dem Duderstädter Mittelständler ist der Blackrock-Chef bereits im Gespräch.
Noch ist das Zukunftsmusik. „Wir sind auf dem Entwicklungsstand, den Innenohr-Implantate vor 20 Jahren hatten“, räumt Solzbacher ein. Er hofft aber, seinen kabellosen Hirnchip bald am Menschen erproben zu können, und wartet auf die Behördenerlaubnis. Der Chip funkt Gedankenbefehle meterweit.
Es dürfte noch eine Weile dauern, bis auch Gesunde solche Implantate tragen, um per Gedankenkraft das Garagentor oder Smartphone zu steuern, die Hirnleistung anzukurbeln oder neue Sinneseindrücke zu erzeugen. Doch Zukunftsforscher wie Ray Kurzweil sind davon überzeugt, dass wir in etwa 30 Jahren so auch unser Wissen und unsere Erfahrungen per Funk ins Internet auslagern. Ob wir dann – als körperlose Datenwolke im Internet – unsterblich wären, ist wohl eher eine philosophische Frage. Der nüchterne Solzbacher findet: „Wir sollten auf jeden Fall darüber nachdenken, wie wir damit umgehen wollen.“