Spitze-Spritze Mit Botox gegen Heuschnupfen und Migräne

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Linderung bei Schmerzen

Die hartnäckigsten Gesundheitsmythen
Eine junge Frau putzt sich mit einem Papiertaschentuch die Nase Quelle: dpa
Mann mit Rückenschmerzen sitzt im Büro Quelle: obs
In einer Zahnarztpraxis werden die Zähne eines Jungen untersucht Quelle: dpa
Ein Fieberthermometer liegt auf verschiedenen Arten und Formen von Tabletten Quelle: dpa
Ein Mann zieht an seinem Finger und erzeugt ein Knackgeräusch. Quelle: dpa
Angela Merkel hält ein Schnapsglas in der hand Quelle: AP
Ein Junge steht unter einer Dusche Quelle: dpa

Auch Schmerzen lindert das Botulinumtoxin. Denn es blockiert die Übertragung von Neurotransmittern – den Botenstoffen zwischen Nervenzellen. So lähmt es nicht nur Muskeln, sondern verhindert auch, dass das Schmerzempfinden bis zum Gehirn gelangt. Etwa bei chronischer Migräne.

Für diese Anwendung ist Botox seit Ende 2011 zugelassen. Die gesetzlichen Kassen übernehmen seither die Kosten – allerdings nur in sehr engem Rahmen, wie Migräneexperte Maihöfner erklärt: „Der Patient muss 15 Tage pro Monat unter Kopfschmerzen leiden, davon acht Tage unter Migräne.“ Nur dann bezahlen die Kassen die etwa 800 Euro teure Behandlung, die alle drei bis sechs Monate wiederholt werden muss. Maihöfner sieht die strenge Indikation kritisch. Zwar sollten Ärzte sicher nicht jeden Migränekranken mit Botox behandeln, „aber es gäbe bestimmt mehr Menschen, denen wir so helfen könnten“.

Der Umsatz mit Botox wächst beim Marktführer Allergan stetig, weil laufend neue Anwendungsgebiete hinzukommen

Da Nerven an fast allen Vorgängen im Körper beteiligt sind, hat Botox vielfältigste Wirkungen – und manchmal auch überraschende. So haben etwa Wissenschaftler der Isfahan University im Iran bei 50 Teilnehmern das Mittel zwei Monate lang bei Heuschnupfen im Vergleich zu dem sonst üblichen Antiallergiemittel – dem Antihistamin Cetirizin – getestet. Dazu injizierten Ärzte Botox in die Nasenschleimhaut. Das Ergebnis: Das Nervengift linderte die Beschwerden ebenso gut wie das Allergiemedikament, hatte aber weniger Nebenwirkungen, weil es zum Beispiel nicht müde macht. Zu einem ähnlichen Resultat kamen auch Mediziner der Universitätsklinik im australischen Melbourne. „Das Toxin lähmt die Muskeln in der Nasenschleimhaut, die winzige Blutgefäße steuern. So können sie sich nicht mehr verengen, und die Nase bleibt frei“, sagt Uta Schlossberger, Allergologin und Sprecherin des Bundesverbandes der Dermatologen.

Ein Nervengift gegen Heuschnupfen? Edda Würdemann findet das zwar „interessant, aber dann doch eine eher theoretische Möglichkeit“. Die Leiterin des Arzneimittelreferats bei der Techniker Krankenkasse beurteilt die Verwendung von Botulinumtoxin deutlich skeptischer als die behandelnden Ärzte. „Es gibt eine klare Indikation für das Präparat – und in diesen Grenzen sollte es auch angewendet werden“, so die Pharmazeutin. In der Praxis setzen Ärzte das Mittel aber häufig jenseits der Indikation ein, durchaus mit Erfolg. Bezahlen müssen die Patienten solche Therapien allerdings komplett privat.

Doch selbst bei Migräne sollte Botox nicht dauerhaft genutzt werden, findet Edda Würdemann. „Die Ärzte sollten immer schauen, ob sie die klassischen Schmerzmittel nicht doch nutzen können.“ Die seien gut erforscht und über viele Jahre bekannt – im Gegensatz zum Botox, das in solchen Anwendungen relativ neu sei.

Migräneexperte Maihöfner plädiert dagegen für mehr Flexibilität im Einzelfall. Er vermutet, dass die Kassen nicht immer nur aus medizinischen Gründen den Einsatz von Botox kritisch sähen, sondern oft auch die Kosten scheuten.

Urologin Bauer kennt das Problem. Die Expertin für Harninkontinenz hat jahrelang den Wirkstoff bei Patienten mit Blasenschwäche eingesetzt, die nicht neurologisch durch Rückenmarkverletzungen oder multiple Sklerose verursacht war – ohne dass es eine Indikation und eine Erstattung gab. Dabei wird das Nervengift direkt in die Muskeln der Blasenwand gespitzt. „Der Patient hat danach für einige Monate etwas mehr Ruhe, mehr Zeit, um es zur Toilette zu schaffen.“ Inzwischen ist das Mittel zugelassen – auch dann, wenn die Inkontinenz andere Gründe hat, etwa eine Schwäche des Beckenbodens, der im Alter häufig ist, vor allem bei Frauen.

Manchmal ergänzen sich kosmetischer und medizinischer Nutzen sogar, wie bei einer Studie der Universität Basel: Dort untersuchten Forscher 30 Patienten mit Depressionen, bei denen Medikamente nicht ausreichend wirkten. Bei ihnen legten sie mit Botox die Zornesfalte lahm. Die Hypothese: Das Gehirn reagiert positiv, was frühere Tests nahelegten, wenn wir weniger kritisch oder traurig in die Welt schauen.

Und es funktionierte. Schon nach zwei Wochen waren die Teilnehmer weniger depressiv. Nach sechs Wochen hatten sich bei über der Hälfte der Studienteilnehmer die Symptome deutlich verbessert.

Wo Medizin und Kosmetik so dicht beieinanderliegen, dürften Kassen-Vertreter vermutlich tiefe Sorgenfalten bekommen – aus Angst, Patienten könnten sich ihre Verschönerung mit angeblich ernsten Erkrankungen ergaunern.

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